Mehr als 100 Tage sind seit dem Hamas-Terrorangriff auf Israel mit 1.200 Toten vergangen. Die israelische Armee ist mit einer Bodenoperation tief in den Gazastreifen eingedrungen. Doch nach wie vor fliegen Raketen auf israelische Zivilisten. Und noch immer sind mehr als 130 Geiseln in den Händen der Islamisten.
Gleichzeitig feuert die Hisbollah-Terrormiliz aus dem Libanon täglich Geschosse nach Israel. Es droht ein weiterer Krieg. Für TE stellt Sandro Serafin Fragen an Arye Sharuz Shalicar, Sprecher der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF). Der Sohn iranischer Juden wurde 1977 in Göttingen geboren und wuchs in Berlin auf. 2001 wanderte er nach Israel aus.
Tichys Einblick: Herr Shalicar, der Krieg hat Sie als Sprecher der Reserve zurück in den Armee-Dienst geholt. Wie haben Sie die vergangenen gut 100 Tage erlebt?
Arye Sharuz Shalicar: Es ist eine sehr intensive Zeit, die in die Geschichte Israels und des jüdischen Volkes eingeht. Wegen des Ausmaßes der Katastrophe am 7. Oktober. Das war eine Art Kollektivmassaker. Jeder im Land ist mit jemandem verbunden, der entweder ermordet, evakuiert oder entführt wurde. Dieses Gefühl der kollektiven Ohnmacht hat das ganze Land auf den Kopf gestellt. Für mich persönlich ist jetzt daher umso mehr die Zeit, in der ich Einsatz zeigen muss und will. Weil ich fühle, dass ich es den Menschen, die ermordet wurden und die als Geiseln gehalten werden, schuldig bin – es hätten auch meine Kinder sein können.
Sie haben in dieser Zeit deutschen Medien viele Interviews gegeben. Zudem haben Sie Politiker wie Annalena Baerbock oder Markus Söder durch die zerstörten Ortschaften an der Grenze begleitet. Haben Sie den Eindruck, dass Medien und Politik wirklich verstehen, was dieser Krieg für Israel bedeutet?
Naja, Sie wissen, wie es ist: Wenn die Schlinge nicht um den eigenen Hals liegt, betrachtet man Dinge in der Regel aus einem gewissen Abstand. Erst wenn die Pistole auf Sie selbst zielt, fühlen Sie, was das bedeutet. Trotzdem glaube ich, dass sehr viele deutsche Politiker und Journalisten verstehen, was hier passiert ist. Allerdings verschwimmen leider in der Darstellung immer wieder Ursache und Wirkung – man relativiert sehr schnell. Nach dem Motto: Kann das denn nicht endlich mal aufhören.
Tatsächlich erleben wir teils, dass Politiker fast schon operative Tipps an die israelische Armee verteilen. Das Auswärtige Amt hat Ihnen persönlich Mitte November via X erklärt, was gut für Israels Sicherheit sei und was nicht. Wie kommt das bei Ihnen an?
(seufzt) Wie gesagt: Aus dem bequemen Abstand ist es immer sehr einfach, Ratschläge zu erteilen. Das machen nicht nur Deutsche, sondern viele weltweit. Teilweise weil sie wirklich helfen wollen. Manchmal entspringt es aber einer überheblichen Haltung, mit der sie nichts beitragen können. Dann gibt man einfach nur dummes Zeug von sich. Es ist von der Situation abhängig. In der Regel sind Ratschläge von Freunden herzlich willkommen, auch Kritik, wenn sie im Rahmen ist. Was ich persönlich aber überhaupt nicht tolerieren kann, ist, wenn man zum Beispiel das Massaker vom 7. Oktober mit unserer Reaktion im Gazastreifen gleichsetzt. Das ist der Anfang einer Täter-Opfer-Umkehr.
Schauen wir auf die aktuelle Lage: Das von der Regierung zu Beginn des Krieges ausgegebene Ziel lautet, die Hamas zu zerstören. Wie nah sind Sie diesem Ziel bereits gekommen?
Zerstören heißt nicht, dass man die letzte Rakete, den letzten der zehntausenden Terroristen, den letzten Tunnelschacht ausfindig macht. Es geht darum, die Kommandeure der Bataillone und Brigaden und einen Großteil der Terrorinfrastruktur so sehr außer Gefecht zu setzen, dass die Hamas nach dem Krieg den Gazastreifen nicht mehr regieren und nicht noch einmal ein derartiges Massaker anrichten kann. Man kann jetzt das halbvolle oder das halbleere Glas betonen. Halbleer bedeutet: Wir haben die Terrorchefs – von Jachja Sinwar bis Mohammed Deif – noch nicht gekriegt; 136 Geiseln sind noch gefangen; es werden immer noch Raketen geschossen; es gibt noch mehrere Bataillone der Hamas in Rafiach im Süden des Gazastreifens.
Was aber bedeutet dann halbvoll?
Wir haben fast 10.000 Terroristen erwischt, darunter etliche hochrangige Kommandeure; wir haben weit über 1.000 Tunneleingänge entdeckt und zerstören die Tunnel Schritt für Schritt; außerdem haben wir knapp 800 Raketenabschussanlagen zerstört. Jeden Tag wird das halbvolle Glas ein bisschen voller. Aber es ist ein Kampf, der Zeit braucht. Damit wir dieses Mal nicht auf halbem Weg stoppen und gleichzeitig palästinensische Zivilisten und die Geiseln schützen.
Mittlerweile hat die israelische Armee ihre Kräfte im Gazastreifen reduziert. Am Dienstag ging dann eine heftige Raketensalve auf Südisrael nieder – abgeschossen ausgerechnet von einem Ort, aus dem sich die Armee bereits wieder zurückgezogen hatte. Lässt sich Israel von der Weltgemeinschaft dazu drängen, seine Kriegsführung zu früh abzuschwächen?
Das ist eine gute Frage und da gibt es verschiedene Ansichten. Unser Fokus liegt mittlerweile im Zentrum und im Süden des Gazastreifens rund um Chan Junis. Deswegen haben wir einige Einheiten aus bestimmten Gebieten abgezogen, wo sich aber weiterhin Raketenabschussanlagen versteckt haben. Daher kam der Beschuss am Dienstag. Natürlich ist die Frage: Haben wir zu früh unsere Truppen aus bestimmten Gebieten abgezogen? Gleichzeitig kann man sich die Frage stellen: Wenn wir die Truppen da noch fünf Monate gelassen hätten, hätten wir dann jede Rakete gefunden? Vermutlich nicht.
Ein wichtiger Teil der Hamas-Strategie sind Tunnel. Das war auch immer bekannt. Trotzdem: Hat Sie das Ausmaß dieser gigantischen unterirdischen Infrastruktur nicht doch überrascht? Mitte Dezember hat man von einem vier Kilometer langen Tunnel in bis zu 50 Metern Tiefe erfahren…
Wir wussten, dass die Terroristen überall am Buddeln sind. Wir wussten, dass sie Krankenhäuser, Moscheen und Schulen missbrauchen. Das Ausmaß aber, dass wirklich alle Wohnflächen, die wir betreten haben, von Terroristen benutzt werden – das haben wir vielleicht unterschätzt. Das bekommt man erst mit, wenn man es sich mit eigenen Augen vor Ort anschaut. Hätten Sie mich vor dem 7. Oktober gefragt, hätte ich gesagt: In Chan Junis schießen sie eventuell aus jedem fünften Fenster. Am 7. Oktober wären wir vielleicht von jedem vierten Fenster ausgegangen. Einen Monat später: von jedem dritten Fenster. Mittlerweile verstehen wir, dass jedes Fenster in jedem Haus in ganz Chan Junis mit großer Wahrscheinlichkeit potentiell als Terror-Fenster benutzt wird. Das müssen Sie sich mal vorstellen!
Am Dienstag wurde bekannt, dass zwei weitere israealische Geiseln in Haft gestorben sind. Schwinden die Hoffnungen auf eine Rückkehr der verbliebenen Menschen allmählich?
Die zwei Geiseln sind getötet worden. Aber wir müssen optimistisch bleiben. Ohne militärischen Druck wird gar nichts passieren. Man hat mit radikalislamistischen Mördern, Vergewaltigern und Entführern einfach keine gemeinsame Sprache. Jeder Tag, der ohne gute Nachrichten vorübergeht, ist ein bitterer Tag. Auch weil das Rote Kreuz seit mehr als 100 Tagen keinen Einblick bekommen hat, wie es den Geiseln geht und was mit knapp 20 größtenteils jungen Frauen und zwei Kleinkindern angestellt wird. Ich kann natürlich nicht sagen, welche Erkenntnisse wir als Armee haben. Aber es ist davon auszugehen, dass die Terrorchefs die Geiseln als Sicherheitsgürtel um sich scharen, um sie im Fall der Fälle mit in den Abgrund zu reißen.
Nicht nur das Schicksal der Geiseln bringt Leid. Auch knapp 200 Soldaten sind seit Beginn der Bodenoperation bereits gefallen. Was macht das mit der Volksarmee IDF?
Es gibt jeden Tag Begräbnisse. Es ist traurig, es tut weh. Gleichzeitig verstehen wir durch das Ausmaß der Katastrophe am 7. Oktober: Das ist der Preis, den wir bezahlen müssen. Für die Geiseln, für die mehr als 1.000 ermordeten, für die mehr als 10.000 verwundeten Israelis. Die allermeisten Israelis verstehen, dass wir jetzt keine alten Sachen machen dürfen. Sonst wird es in wenigen Jahren wieder explodieren – dann eventuell noch schlimmer als jetzt.
Blicken wir noch auf den Norden Israels: Hier scheint alles auf einen Krieg mit der Hisbollah im Libanon hinauszulaufen. Die Terrormiliz ist deutlich besser ausgestattet als die Hamas: Besteht die Gefahr, dass der Krieg in Gaza rückblickend irgendwann wie ein vergleichsweise harmloses Vorspiel für die viel größere Eskalation im Libanon wirken wird?
Ja, das kann sein. Wir stehen seit mehr als drei Monaten unter Beschuss durch die Hisbollah. Wir reagieren mit null Toleranz, beschießen ihre Stellungen. Es gibt Tote auf beiden Seiten. Rund 100.000 Israelis aus dem unmittelbaren Grenzgebiet sind evakuiert und können nicht in ihre Häuser zurück – sie sind Flüchtlinge im eigenen Land, was medial leider kaum besprochen wird. Wir beobachten die Situation nicht nur, sondern haben bereits konkrete Maßnahmen in die Wege geleitet, um die unmittelbare Hisbollah-Gefahr weg von der Grenze zu schieben…
… wie es auch die UN-Resolution 1701 verlangt, laut der die Hisbollah nicht mit Waffen südlich des Litani-Flusses rund 30 Kilometer von der Grenze stehen darf.
Ja, sie tun es trotzdem. Und nichts passiert: null internationaler Aufschrei. Was man macht: beide Seiten zur Mäßigung aufzurufen. Das ist eine Riesenschweinerei.
Also kommt der Krieg im Norden?
Wir sagen seit Jahren: Falls die Hisbollah den Beschuss verstärken und gewisse rote Linien überschreiten sollte – dann ist sie schuld an einer hochproblematischen Situation, die entsteht. Das wird viele Israelis treffen. Insbesondere wird es aber den Libanon in eine ganz schwierige Situation versetzen: Die israelische Armee wird nicht die Zeit haben, langsam, besonnen und so präzise wie möglich vorzugehen, wenn die Hisbollah täglich tausende Präzisionsraketen mit hoher Sprengkraft abschießen und unser Raketenabwehrsystem durchbrechen sollte. Dann müssen wir schnell und hart sein: Dann wird der Libanon als Staat den Preis für das Abenteuer der Hisbollah zahlen.
Wir bedanken uns für das Gespräch!