Anja M. aus Osnabrück hatte eine Menge Schulden privater Natur. Sie drückte deshalb auf die Tube, was Einbürgerungen anging. Es konnte nicht schnell genug gehen, um Bargeld und „Gebäck“ abzuzweigen. Denn das war den Mitarbeitern von Anja M. bei der Ausländerbehörde des Landkreises Osnabrück aufgefallen: Antragsteller brachten häufig größere Mengen Gebäck vorbei, wo es eigentlich nur um Einbürgerungen, um Gesetze und Regeln des deutschen Staats ging. Daneben forderte Anja M. die Antragsteller dazu auf, die Gebühren für die gewünschte Einbürgerung in bar mitzubringen. So gab es Bakschisch in Form von Geld und Naturalien. Bargeld und Baklava kreuzten den Schreibtisch.
Anja M. ist Nancy F. im Kleinen. So wie die Bundesinnenministerin in allen ihren Gesetzentwürfen auf mehr Zuwanderung und leichtere, ja Turbo-Einbürgerung setzte, so setzte es Anja M. – aus scheinbar ganz anderen Motiven – auf der Kreisebene um. Mehr als 300 Ausländer hat Anja M. eingebürgert, ohne dass die notwendigen Voraussetzungen vorlagen. Die bar gezahlten Gebühren hat sie veruntreut. Ermittler stießen zunächst auf „Unregelmäßigkeiten“ in ihrer Bargeldkasse. Es folgte eine Überprüfung ihrer Arbeit. Daraus ergab sich: In 74 Fällen waren die zeitlichen Fristen für die Einbürgerung (noch) nicht erfüllt. 64 Mal fehlte die vorgeschriebene Überprüfung beim Verfassungsschutz. 16 Mal wurden weder Polizei noch Staatsanwaltschaft angefragt. Und 17 Mal vergab Anja M. den deutschen Pass, ohne dass auch nur die Identität der Antragsteller geklärt war.
Da versteht sich fast von selbst, dass Anja M. sich auch nicht dafür interessierte, ob die Antragsteller ihren Lebensunterhalt eigenständig bestreiten können. Ebenfalls eine Grundvoraussetzung für die Erlangung der Staatsbürgerschaft. 189 Mal unterließ Anja M. auch diese Prüfung und beendete ihre Verfahren normalerweise in Rekordzeit: nach einigen Wochen statt nach einigen Monaten wie sonst üblich. Es war eben wirklich eine Turbo-Einbürgerung.
Wortschatz der Selbstentschuldigung: „Strafrechtlich nicht relevant“, keine Auffälligkeiten
Wir erinnern uns. Es war im gerade vergangenen August: Die von ihr erleichterten Einbürgerungen waren da laut Nancy Faeser (SPD) ein „Schlüssel für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands“. Durch sie könne Deutschland „die besten Köpfe“ gewinnen, aber eben nur dann, wenn „sie in absehbarer Zeit voll und ganz Teil unserer Gesellschaft werden können“. Man weiß, wie befriedigend der Besitz eines deutschen Passes ist – gerade für die Inhaber von weitaus weniger geltenden Papieren. Und natürlich erzählte Faeser ständig etwas von den Bedingungen der Einbürgerung: Um in Frage zu kommen, sollten Ausländer sich „zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen und grundsätzlich das Erfordernis der eigenständigen wirtschaftlichen Sicherung des Lebensunterhalts erfüllen“. Wie wenig das in der Praxis gelten kann, das zeigt dieser Osnabrücker „Einzelfall“ nun.
Die vorgenommenen Einbürgerungen – und das erstaunt dann doch – waren „nach gegenwärtigem Stand strafrechtlich nicht relevant“. Das erklärte ein Sprecher des Landkreises. Das gilt aber nur für die Eingebürgerten: „Da dem Schutz der Staatsangehörigkeit ein hohes Gewicht zukommt, sind Einbürgerungen nur unter ganz besonderen Voraussetzungen rücknahmefähig. Daher besteht nach jetzigem Stand keine Notwendigkeit, Einbürgerungen zurückzunehmen.“
Angeblich gab es auch keine „Auffälligkeiten“ bei den bisher erfolgten Überprüfungen. Es gäbe also keine Erkenntnisse, die gegen die Einbürgerungen sprechen, so der Sprecher des Kreises. So klingt der Wortschatz der Selbstentschuldigung, der bei solchen Skandälchen in Deutschland üblich ist. Was ist aber mit den fehlenden Identitäten, was mit den missachteten Fristen, was mit dem eventuell ungenügenden Verdienst? Das soll offenbar nach dieser Beugung des Rechts keine Bedeutung mehr haben, bleibt straffrei.
Die Straffreiheit gilt nicht für Anja M., gegen die Osnabrücker Staatsanwaltschaft laut Evangelischem Pressedienst (epd) und Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) „wegen Untreue, Vorteilsnahme und Bestechlichkeit“ ermittelt. Die 33-Jährige soll seit Januar 2022 insgesamt 41.000 Euro an Einbürgerungsgebühren unterschlagen haben – Gebäck vermutlich nicht mitberechnet.