Tichys Einblick
Geschichte des Sozialismus – Teil 3 von 3

Der moderne Sozialismus: Von Milliardärssozialisten, Hufeisentheorien und dem Todestrieb

Welche Formen nimmt der moderne Sozialismus an und wie kann man ihm begegnen? Ist der neoliberale Kapitalismus die Antwort oder nur eine komplementäre Erscheinung? Und was treibt letztlich die Sozialisten an? Diese Fragen will der dritte und letzte Teil der TE-Reihe zur Geschichte des Sozialismus beantworten.

Des Kaisers neue Kleider.

IMAGO / imagebroker

Nachdem Teil 1 dieser Reihe einen kurzen Blick auf die geschichtlichen Wurzeln des Sozialismus bot und Teil 2 darlegte, wie der Sozialismus der Nachkriegsära durch den Einsatz vermeintlicher Freiheit die kulturelle Hegemonie errang, sollen in Teil 3 der vielzitierte „Milliardärssozialismus“ und seine komplementären Erscheinungsformen des Liberalismus beleuchtet sowie die Frage nach dem letztendlichen Antrieb zum Sozialismus gestellt werden.

Ein typisches Merkmal sozialistischer Gesellschaftsformen ist der unaufgelöste Widerspruch zwischen vermeintlicher Gleichheit, bei gleichzeitiger Existenz einer Gruppe Auserwählter – ob nun Propheten, Berufsrevolutionäre, oder sonstiger „Eliten“ – die den Staat lenken. Während die utopischen Sozialisten dabei vor allem Ideologen am Ruder sehen, übernimmt spätestens im staatssozialistischen Kompromiss fast immer eine Bürokratenkaste das Kommando. Womöglich ist das der Grund, dass eine Mehrheit der Studenten – die als angehende Akademiker prädestinierte Unterstützer des Sozialismus sind – laut Umfragen auf Karrieren im öffentlichen Dienst hoffen, da sie instinktiv begreifen, dass in der von ihnen angestrebten Gesellschaft die Bürokratie zur einzig verbliebenen Hierarchie von Wert wird.

Demgegenüber würde man klassischerweise die Kräfte des freien Marktes, das Unternehmertum, als schöpferisch-schaffenden Pol des Widerstands erwarten. Doch in den letzten Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, offenbarten diverse Organisationen, wie zum Beispiel der WEF und dessen „Great Reset“, dass sozialistische Maßnahmen von (über-)staatlicher Seite Hand in Hand mit den Interessen einer globalen Elite von Oligarchen und Milliardären gehen können.

Eine genauere Analyse dieses Zustands lieferte bereits TE-Autor David Engels vor einigen Jahren, als er die gegenwärtige Verquickung kapitalistischer Eliten mit sozialistischen Ideologien trefflich mit dem auf Oswald Spengler zurückgehenden Begriffs des „Milliardärssozialismus“ beschrieb und diesen damit zum salonfähigen Schlagwort machte. Engels bezeichnete die Bestrebungen moderner Großkonzerne wie Google, Facebook etc. als „pseudosozialistisch“, da …

„… Liberalismus und Sozialismus in ihrer real existierenden Form nicht mehr als fundamentale Gegensätze zu denken sind, sondern vielmehr als konvergierende Kräfte, die zwar von unterschiedlichen Ausgangspunkten argumentieren, letztlich aber aufgrund ihres materialistischen Menschenbilds derselben ideologischen Schule zuzurechnen sind“

Völlig zurecht zitiert Engels (wie könnte er auch anders) Marx, der dem Kapitalismus ein unweigerliches Streben zu Monopolismus und autoritären Strukturen nachsagte, dabei allerdings, so Engels, fälschlicherweise schlussfolgerte, der Sozialismus würde dies überwinden. Engels hingegen argumentiert, dass Kapitalismus und Sozialismus mittlerweile „komplementär, nicht antagonistisch“ operieren würden.

Die Verwandtschaft von Sozialismus und Neoliberalismus

Die Frage, inwiefern die Strukturen des modernen Kapitalismus überhaupt noch fähig oder willens sind, dem modernen Sozialismus etwas entgegenzusetzen, stellt sich tatsächlich mit größter Dringlichkeit. Der koreanisch-deutsche Philosoph Byung-Chul Han analysierte bereits in seinem Werk „Die Müdigkeitsgesellschaft“ einen gravierenden Übergang in der neoliberalen Gesellschaft vom repressiven „Du musst“ zum vermeintlich befreienden „Du kannst“ („Yes, we can“), das allerdings in einer Selbstknechtschaft und – damit verbunden – Depression und Burnout endet. Im Zusammenspiel mit einer Vielzahl moderner Erscheinungen, wie der Aufmerksamkeitsökonomie, dem Hang zur grenzenlosen Selbstvervollkommnung, dem Informationsüberfluss, sowie dem Subjekt als „Unternehmer seiner selbst“, wird der Mensch im Neoliberalismus gleichzeitig zu Opfer und Täter der Ausbeutung. Die fehlgeleitete Freiheit wird zum Joch.

Für Han entpuppt sich die freiwillige Selbstausbeutung durch ihre freiheitliche Verklärung als weitaus effektivere Herrschaftsmethode, als reiner Zwang es je sein könnte. Somit entpuppt sich der Übergang von „Du musst“ zu „Du kannst“ als, wie Engels es analysierte, positivistisch komplementäres Gegenstück zum in Teil 2 besprochenen Übergangs von „Du darfst nicht“ zu „Du musst nicht“ im Sozialismus. Wirtschaftlich und ideologisch nähern sich also der moderne Sozialismus und der Neoliberalismus entsprechend der Hufeisentheorie einander an. Es entsteht darüber hinaus der Eindruck, dass der moderne Sozialismus, der sich freiheitlicher Methoden bedient, nur im Liberalismus entstehen konnte. Dass ausgerechnet die vielleicht perfideste Form des Sozialismus nur aus der freiheitlichsten Gesellschaftsform entstehen konnte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Sozialismus als Reaktion auf radikalen Individualismus

Diese Einsicht ist aber entscheidend bei der Frage, wie man der Dominanz des modernen Sozialismus begegnen kann. Die klassische Annahme des Nachkriegsliberalismus, dass der Erfolg des freien Marktes das beste Mittel gegen die Irrungen des Sozialismus sei, entpuppt sich nicht nur zunehmend als wirkungslos, sondern sogar als trügerisch. Monarchisten mögen zurecht den Finger heben und auf eine andere Lösung verweisen, doch bewegen sich auch diese Überlegungen in der momentanen Lage rein im theoretischen Raum.

Die Krise ist eine tiefere und hat mit den gerne belächelten Fragen nach der Sinngebung des Lebens zu tun. Es lohnt sich, dazu erst einmal auch der Frage nachzugehen, was die sozialistischen Systeme antreibt. Der paläokonservative Autor Paul Edward Gottfried beschrieb in seinem Werk „Multikulturalismus und die Politik der Schuld“ die Entwicklung der modernen Massendemokratie zu einem bürokratischen Verwaltungsapparat, der zwecks Selbstrechtfertigung zunehmend dazu neigt, eine volkserzieherische Funktion einzunehmen. „Was wie eine therapeutische Tyrannei aussehen mag, ist bei Lichte betrachtet die natürliche Entwicklung einer Massendemokratie, die durch immer mehr Rechtsansprüche und eine immer größer werdende Liste von ‚Menschenrechten‘ gekennzeichnet ist“, so Gottfried. Die Triebfeder für diesen therapeutischen Missionierungseifer sieht Gottfried dabei im liberalen Protestantismus, der sich durch eine „Suche nach individueller Erlösung, ausgeprägten Individualismus, Kreuzzüge für Menschenrechte und Krieg gegen jede Art von Diskriminierung“ auszeichnet.

Vor allem der Individualismus wird gemeinhin nicht als Merkmal sozialistischer Gesellschaften gesehen, im Gegenteil, der Individualismus gilt als Antipode des Kollektivismus. So verpönt es in unserer Zeit auch sein mag, eine Kompromittierung dieser Freiheit zu fordern, so ließe sich dennoch argumentieren, dass auch die Freiheit der Einhegung bedarf. Denn dort, wo selbst die letzten Zwänge – „Du musst“ oder „Du sollst nicht“ – zugunsten der Freiheit – „Du kannst“ oder „Du musst nicht“ – aufgegeben werden, droht die Freiheit in ihr Gegenteil umzuschlagen. Aus der Freiheit des Individuums wird dann die Atomisierung der Menschen, aus Individualität der gleichgeschaltete Wahn künstlicher Selbstdefinition als 47. Gender.

Der bereits in Teil 1 zitierte Igor Schafarewitsch beruft sich auf Karl Jaspers „Achsenzeit“, eine Periode, die ungefähr das erste Jahrtausend vor Christus umfasste. Jaspers erkannte in dieser Epoche einen revolutionären Wandel des Weltbildes, der vom Mittelmeerraum bis tief in den asiatischen Raum wirkmächtig wurde. An die Stelle der Gottkönige der orientalischen Despotien, jener ursprünglichen Formen des Staatssozialismus, trat nun das Individuum als Gestalter der Geschichte. Diese Entwicklung ließ sich sowohl im antiken Griechenland, als auch bei den israelischen Propheten, bis hin zum Buddhismus beobachten und kulminierte in der Entstehung des Christentums.

Der revolutionäre Aspekt der Entwicklungen der Achsenzeit führt aber unweigerlich zu der Schlussfolgerung, dass entgegen landläufiger Annahmen der Sozialismus in all seinen Schattierungen keine revolutionäre Kraft darstellt, sondern vielmehr eine reaktionäre, die den revolutionären Anspruch des Individualismus der Achsenzeit wieder ungeschehen machen möchte. Dies geschieht aber nicht aus reinem Machtkalkül, so Schafarewitsch, sondern basiert auf jenem triebhaften Verhalten, das bereits im Titel seiner Analyse auftrat: dem Todestrieb.

Sozialismus und Kapitalismus: Vereint im Todestrieb

Der Begriff des Todestriebs geht auf Sigmund Freud zurück, der diesen erstmals in „Jenseits des Lustprinzips“ formulierte. Freud verortete zwei grundlegende Triebe im Menschen: den Lebenstrieb und den Todestrieb. Letzterer sei dabei eine „Äußerung der Trägheit“ oder „ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes, welches dies Belebte unter dem Einfluss äußerer Störungskräfte aufgeben musste“. Schafarewitsch überträgt diesen selbstzerstörerischen Drang auf die gesellschaftliche Ebene, ist dabei aber nicht alleine.

Der bereits in Teil 2 erwähnte Herbert Marcuse, der so großen Einfluss auf die Entwicklung moderner sozialistischer Strömungen hatte, übernahm die Theorie Freuds bereits zuvor und bereicherte sie um ein größeres soziales Element. Für Marcuse ist der Todestrieb ein Streben, das von Spannung, Leid und Unzufriedenheit befreie, die auch durch soziale Faktoren erzeugt würden. „Der Tod kann zum Wahrzeichen der Freiheit werden. Die Unvermeidlichkeit des Todes widerlegt nicht die Möglichkeit einer schließlichen Befreiung. Gleich den anderen Notwendigkeiten kann er vernünftig gestaltet werden – schmerzlos. Die Menschen können ohne Angst sterben, wenn sie wissen, dass das, was sie lieben, vor Elend und Vergessen bewahrt ist. Nach einem erfüllten Leben können sie es auf sich nehmen, zu sterben – zu einem Zeitpunkt ihrer eigenen Wahl.“

Es bedarf keiner großen Anstrengungen, um ähnlich selbstzerstörerische Erfüllungsphantasien in der Gegenwart auszumachen. Ob nun die Befürwortung der Euthanasie, der Abtreibung, oder der bewussten Nichtfortpflanzung, um den Planeten zu retten – all diese und noch viele Phänomene sind Ausdruck eines Selbstzerstörungstriebs, der maßlos die Überhand über den Lebenstrieb gewonnen hat. Schafarewitsch behauptet, der Todestrieb werfe sich „im Gegensatz zu einer religiösen oder nationalen Ideologie, die offen ihre Ziele verkündet, das Gewand der Religion, der Vernunft, der Staatlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit, nationaler Bestrebungen, der Wissenschaft über, enthüllt aber nie sein wahres Gesicht. Anscheinend ist sein Einfluss desto größer, je mehr sein Sinn vom unterbewussten Teil der Psyche aufgedeckt wird, allerdings unter der Bedingung, dass das Bewusstsein nichts davon erfährt.“

Bemerkenswert ist, dass nicht nur Schafarewitsch den Todestrieb im Sozialismus verortet, Byung-Chul Han setzt diesen in Beziehung zum Kapitalismus! In „Kapitalismus und Todestrieb“ zitiert Han den französischen Wirtschaftswissenschaftler Bernard Maris, der meinte: „Die große List des Kapitalismus besteht darin, die Zerstörungskräfte, den Todestrieb, zu kanalisieren und in Richtung Wachstum umzulenken.“ Für Han beruht der Kapitalismus auf der versuchten Negation des Todes, das Kapital wird gegen den Tod als absoluten Verlust akkumuliert. Aber indem der Kapitalismus versucht, den Tod zu bannen, entreißt er dem Leben sein innerstes Wesen, das notwendig an den Tod verbunden bleibt. Der Versuch, dem Tod auszuweichen, tötet im Gegenzug das Leben.

Das Erkennen der Verbundenheit mit dem Anderen

Wiederum entpuppen sich die Beziehungen von Sozialismus und Kapitalismus zum Tod als zwei Seiten derselben Medaille. Es verdeutlicht, dass die Lösung auf die Herausforderung des modernen Sozialismus keine politische, sondern eine seelische ist. „Jeder politischen Revolution muss eine Revolution des Bewusstseins vorausgehen, die dem Leben den Tod zurückgibt“, schreibt Han. Eine einfache Antwort darauf, wie dies vonstatten gehen soll, gibt es zwar nicht, aber Han erachtet dafür vor allem den Eros, den Lebenstrieb, als notwendig, um den Narzissmus zu überwinden und wahre Freiheit durch die Öffnung gegenüber dem Anderen zu erfahren.

Auch Schafarewitsch konnte sich zu keiner einfachen Prognose durchringen, verwies aber immerhin auf die Werke des russischen Religionsphilosophen Wladimir Solowjow, der „eine optimistische Konzeption, der zufolge die Menscheit, um ihr Leben auf religiösen Prinzipien aufzubauen, zunächst die Idee des Individualismus in extremer Form durchleben, sie sogar Gott entgegenstellen müsse, um danach durch einen bewussten Akt der Individualität zu Gott zu gelangen“. Freilich, wer mit dem Christentum nichts anfangen kann, wird sich gegenüber diesem Vorschlag vor allem empören.

Doch womöglich ließe sich abschließend doch eine Einsicht gewinnen, nämlich die, dass der Sozialismus, trotz der immer in seinem Geleit auftretenden Gewalt und des Opportunismus, nur unzureichend mit dem simplen Streben nach Macht erklärt und bekämpft werden kann. Man muss kein Freund der Lehren Sigmund Freuds sein, um die bemerkenswerte Wiederkehr des Konzepts des Todestriebs auf gesellschaftlicher Ebene zum Anlass zu nehmen, über diese Triebhaftigkeit nachzudenken und dabei nicht nur die Getriebenheit des politischen Feindes zu erkennen, sondern auch die komplementäre Funktion, die uns – den Anhängern vermeintlicher Freiheit – selbst in diesem Komplex zukommt. Die von der jetzigen Verfahrenheit der Gesellschaft ausgehende Gefahr für große Teile der Menschheit ist zu groß, als dass wir uns mit einfachem Lagerdenken begnügen sollten.

Lesen Sie hier die Teile 1 und 2 der Serie „Geschichte des Sozialismus“ >>>

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