Das Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts ist und bleibt trotz allem eine Enttäuschung! Natürlich ist eine Nachwahl immer besser als keine Nachwahl, jedenfalls in diesem Falle. Denn man kann sich ja erinnern, wie das „Berliner Wahlchaos“ noch am Wahlsonntag 2021 kurz zum Medienthema wurde, dann aber, als die Medien bemerkten, dass jedes Rütteln am Berliner Wahlergebnis nur dem bestätigten rot-rot-grünen Senat schaden würde, schnell und vollständig in der Versenkung verschwand. Ohne „Tichys Einblick“ hätte es wohl auch die jetzt konkret entschiedene, durch das Gericht wohl pars pro toto ausgewählte Wahlprüfungsbeschwerde der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nie gegeben, weil das Thema dann nämlich schnell und vollständig in Vergessenheit geraten wäre.
Aber: wenigstens hätte man erwarten dürfen – das wäre auch meine Prognose gewesen – dass das Gericht sich die seinerzeitige Rechtsauffassung des Bundeswahlleiters zu eigen macht, der eine Wahlwiederholung in immerhin 1.200 von insgesamt 2.256 Wahlbezirken gefordert hatte. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hatte der Bundeswahlleiter sein Einspruchsrecht gegen das Ergebnis der Bundestagswahlen in Berlin ausgeübt. Der Bundestag hatte jedoch die gesetzliche Berufung wie fachliche Expertise des Bundeswahlleiters vom Tisch gewischt und Neuwahlen in lediglich 431 Wahlbezirken angeordnet.
Und dagegen konnte dieser nichts tun; kurioserweise – vermutlich handelt es sich um ein Redaktionsversehen – wird der Bundeswahlleiter in § 48 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz, der die Wahlprüfungsbeschwerde gegen den Wahleinspruchsbescheid des Deutschen Bundestages regelt, nicht genannt, er hat folglich kein Beschwerderecht, obwohl er qua Amt ein Einspruchsrecht hat! Demgegenüber werden aber die Fraktionen im Deutschen Bundestag genannt, diese sind also beschwerdefähig, obwohl sie, mangels Wahlrecht auf Bundesebene, natürlich nicht einspruchsberechtigt waren; Fraktionen kommen also immer erst in der zweiten Runde ins Spiel.
Dabei hatte übrigens nicht nur die CDU/CSU-Fraktion, sondern auch die AfD-Fraktionen eine Wahlprüfungsbeschwerde erhoben. Doch zuvor, warum ist denn überhaupt der Deutsche Bundestag selbst für die Überprüfung von Wahleinsprüchen und mithin zur Feststellung seiner eigenen Legitimität berufen? Das wirkt ja kurios, und man denkt sich gleich: dabei wird nie viel herauskommen, denn auch angesichts gravierendster Mängel sind sich die Parlamentarier doch meist einig, dass sie ihre neugewonnenen Mandate nicht gleich wieder loswerden oder jedenfalls aufs Spiel setzen wollen.
Dass der Bundestag – wie auch jeder Landtag außer dem Abgeordnetenhaus von Berlin – für die Überprüfung seiner Legitimität selbst zuständig ist, hat allein historische Gründe, es ist eine Verfassungstradition noch aus der Zeit, als die „Souveränität“ als eine Eigenschaft der staatlichen Exekutive (und letztlich des Königs oder Fürsten) galt und nicht des Volkes („Volkssouveränität“), und als die Parlamente, die ursprünglich noch nicht eigentlich das Volk repräsentierten, sondern die größeren Steuerzahler bei der Aufstellung des Haushalts vertraten, mühsam und kleinschrittig um ihre Selbstbehauptung rangen. Und damals wollte man eben nicht, dass die königliche Exekutive unter Einschaltung irgendeines Wahleinspruchsführers ein politisch unbequemes Parlament als „illegitim“ wieder auseinandertreiben kann.
Nun stellt sich dieses Problem heute erkennbar nicht mehr (eher zeigt der politisch-mediale Komplex gelegentlich Züge einer ne-en Adelsschicht); und ein wichtiges Ergebnis der Aufarbeitung des Berliner Wahlchaos besteht eindeutig auch darin, dass unter den Fachleuten inzwischen Einigkeit darüber hergestellt ist, dass der „Berliner Sonderweg“, nämlich unmittelbare Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofs für die Wahlüberprüfung ohne vorgeschaltete Entscheidung des Abgeordnetenhauses in eigener Sache, richtiger, vernünftiger und zeitgemäßer ist als die Regelung auf Bundesebene und überall sonst.
Und die Wahlprüfungsbeschwerde der AfD-Bundestagsfraktion? Man sollte denken, dass diese durch das Bundesverfassungsgericht dieselbe Aufmerksamkeit erfahren müsste wie die der Unionsfraktion, schließlich sind alle Bundestagsfraktionen gleichermaßen beschwerdeberechtigt. Aber so kam es nicht; während über die Wahlprüfungsbeschwerde der Unionsfraktion in Karlsruhe sogar mündlich verhandelt wurde – was bei Wahlprüfungsbeschwerden mehr als ungewöhnlich ist! – hörte man von der AfD-Beschwerde dann einfach weiter nichts mehr. Bis heute!
Heute um kurz nach zehn Uhr stellte das Bundesverfassungsgericht dann völlig überraschend, gleichzeitig mit dem lange angekündigten Urteil im Fall der Unionsbeschwerde, einen „Beschluss“ auch über die AfD-Beschwerde ins Internet, dieser sollte dann aber bereits vom 19. September 2023 (!) herrühren (und war offenbar durch das Bundesverfassungsgericht aus unerfindlichen Gründen seither streng geheimgehalten worden). Dem Prozessbevollmächtigten der AfD-Bundestagsfraktion [nicht mit dem Verfasser dieses Beitrages identisch!] wurde der Beschluß heute exakt um 9:59 Uhr per E-Mail (die dem Verfasser vorliegt) mitgeteilt. Anders als die Wahlprüfungsbeschwerde der CDU/CSU-Bundestagsfraktion soll die der AfD-Bundestagsfraktion unzulässig sein, weil die Wahlfehler und ihre Mandatsrelevanz nicht hinlänglich „substantiiert“ worden seien.
Der breiten Öffentlichkeit, auch wenn sie politisch interessiert ist, ist nämlich gar nicht bekannt, dass das Bundesverfassungsgericht – anders als andere Gerichte – sich auch unter politischen Gesichtspunkten selbst aussuchen kann, mit welchen Fällen es sich befassen oder eben lieber nicht befassen will, was es dann aber nicht offengelegt, sondern – im einen wie im anderen Fall – über die Prüfungsstufe der „Zulässigkeit“ rationalisiert.
Anträge, die eigentlich gut begründet, aber dem Gericht politisch zu „heiß“ sind oder die die Antragstellern stammen, die aus allgemeinpolitischen Gründen keinen Erfolg haben sollen – wohl, weil dies gewissermaßen eine „Delegitimierung der guten Demokraten, und dann auch noch mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts, durch die nicht so guten Demokraten“ wäre – sind dann eben „unzulässig“, weil „nicht hinlänglich substantiiert“. Was bei Sachverhalten, die mittlerweile nicht nur allgemein und öffentlich bekanntgeworden sind, sondern die auch der Verfassungsgerichtshof Berlin auf 167 Urteilsseiten beschrieben und gewürdigt hat, schon bemerkenswert ist. Das Gericht konnte also über die Wahlprüfungsbeschwerde der AfD-Fraktion beim besten Willen nicht befinden, da irgendwie nicht deutlich wurde, was die überhaupt wollen?
Doch zurück zur heutigen, ja immerhin teilweise stattgebenden Entscheidung auf Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (die man der Öffentlichkeit offenbar auch wieder stärker als prachtvolle und mächtige Oppositionskraft in Erinnerung rufen möchte). Was ist an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verkehrt?
Das Gericht wendet einen Maßstab an, den man – untechnisch – geradezu „strafprozessual“ nennen könnte. In einem Strafverfahren kann man bekanntlich, und auch richtigerweise, nur verurteilt werden, wenn die Täterschaft und Schuld wirklich erwiesen ist, es gelten Strengbeweis und „in dubio pro reo“. Nun ist dieser strafprozessuale Ansatz, auch das weiß eigentlich fast jeder Bürger, nicht der einzige rechtlich mögliche Bewertungsmaßstab. Vergleicht man das Strafrecht mit dem Arbeitsrecht, fällt auf: im Arbeitsrecht kann man nicht erst gekündigt werden, wenn man gerichtsfest der Begehung von Straftaten zum Nachteil des Arbeitgebers überführt worden ist; sondern es genügt, wenn aufgrund von äußeren Tatsachen das Vertrauen des Arbeitgebers so erschüttert worden ist, dass ihm die Weiterbeschäftigung eines Mitarbeiters nicht zugemutet werden kann. Wenn es also einigen Anlaß zum Misstrauen gibt. Wäre dies nicht auch bei der Wahlüberprüfung ein näherliegender Maßstab als die Frage nach dem endgültigen Beweis im Einzelfall?
Die genauen Maßstäbe der Wahlüberprüfung stehen in keinem Gesetz. Dort steht eigentlich nur der äußere Ablauf des Prozederes, die Inhalte der Prüfung werden hingegen vom Bundestag und dann entscheidend vom Bundesverfassungsgericht selbst geschöpft. In diesem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht schon früh den Grundsatz des „geringstmöglichen Eingriffes“ in das einmal, wenn auch vielleicht mangelhaft, festgestellte Wahlergebnis aufgestellt. Das Gericht geht schon immer davon aus, dass ein einmal festgestelltes und grundsätzlich und im allgemeinen wohl auch „demokratisch“ zustande gekommenes Wahlergebnis im Prinzip eine hohe verfassungsrechtliche Dignität und Schutzwürdigkeit besitzt, die Angriffen auf dieses Wahlergebnis, und hier haben wir wieder das Element der „Delegitimierung“, hohe Hürden entgegenstellt.
Ein für alle Mal selbstverständlich ist das aber nicht. Denn, wenn zum Beispiel der TÜV die Fahrsicherheit eines Autos untersucht, so bringt er ja auch keinen „Grundsatz von der Aufrechterhaltung der Betriebserlaubnis“ zur Anwendung, der dem konkurrierenden „Grundsatz der Suche nach Sicherheitsmängeln“ gleichberechtigt und sorgfältig gegen diesen abzuwägen wäre. Sondern: die Mängel werden bewusst gesucht, und lassen sie sich finden, so erlischt eben die Betriebserlaubnis, aus Gründen der öffentlichen Sicherheit. Könnte man die Wahlprüfung nicht auch so angehen?
Dabei ist der Grundsatz des geringstmöglichen Eingriffs aber vom Grundgedanken her natürlich berechtigt. Denn schon im Rahmen der Gewaltenteilung ist es nicht die Aufgabe von Gerichten, durch die Kombination von intensiver Fehlersuche mit dem Satz „im Zweifel lieber Wiederholungswahlen!“ jedes gewählte Parlament gleich wieder aus den Angeln zu heben. Ein sinnvoller Mittelweg wäre dieser: wo es um die Anfechtung einzelner Mandate oder das Prozedere in einzelnen Wahllokalen geht, letztlich um die allgemein-menschliche Fehlbarkeit, da sollte richtigerweise gelten, dass Wahlfehler und Mandatsrelevanz im Einzelfall nachgewiesen werden müssen, ansonsten gibt es auch keine Wahlwiederholung.
Beim Berliner Wahlchaos verhielt es sich aber so, dass vorher beispiellose, zahlreiche und tiefgreifende Wahlfehler auftraten, die ihren Grund bereits in systematischen Mängeln der Wahlvorbereitung hatten; und dass man weiterhin teils versuchte, diese Fehler dann zu vertuschen („Rotstift“). Und zu dieser Problematik hat der Berliner Verfassungsgerichtshof ganz richtig erkannt: unter diesen besonderen Umständen wäre die Annahme „überall dort, wo keine Wahlfehler direkt nachgewiesen worden sind, hat es jedenfalls von Rechts wegen keine gegeben“ nicht nur naiv, sondern geradezu grotesk.
Man muss also zwischen einzelfallbezogenen Wahlfehlern und systemischen, übergreifenden Wahlfehlern unterscheiden. Diese Unterscheidung hat das Bundesverfassungsgericht, anders als der Verfassungsgerichtshof Berlin, hier nicht geleistet; in der Sache stellt sich das Gericht mithin hier auch ein Stück weit dumm.