So vergiftet wie derzeit war das Debattenklima im öffentlichen, beruflichen und privaten Raum seit den „1968ern“ nicht mehr. Spaltungen, Anprangern, Wut, Wehleidigkeit, immer neue Opferhierarchien, Exorzismen, Sprachtabus sind angesagt. Hass ersetzt debattierenden Widerspruch. Freie Meinungsäußerung wird zum beruflichen und privaten Risiko. Andersdenkende werden totgeschwiegen, oder sie erleben qua Shitstorm in den (a)sozialen Medien gar den sozialen Tod. Radikale Minderheiten geben mit totalitärem Anspruch den Ton an. Das Pathologische erfährt eine Normalisierung, und das Normale wird pathologisiert. Die Vergangenheit einschließlich ihrer intellektuellen und technischen Errungenschaften wird moralisierend verteufelt, der „woke“ Zeitgeist wird zum Absolutum. Das Ganze gleichermaßen aggressiv und larmoyant inszeniert.
Fokussiert ist all dies auf einen Schuldigen: den alten, weißen Mann. Testosteron gilt als toxisch. Denn ohne den alten weißen Mann und seine Hormone hätte es angeblich nie Kriege, nie Umweltverschmutzung, nie einen Klimawandel, nie Sexismus, nie Kolonialismus, nie soziale Ausbeutung gegeben. So einfach ist das. Allerdings gäbe es ohne den „alten, weißen Mann“ auch keine großen Errungenschaften etwa in Technik, Medizin, Philosophie, Literatur, Musik, bildender Kunst, die der ganzen Welt und all ihren Kulturen zugutekamen.
Aber der Reihe nach: Norbert Bolz (Jahrgang 1953) ist derjenige, der all die hier genannten Verirrungen und neuen Autoritarismen aufspießt und mikrochirurgisch zerlegt. Mit seinem neuen Buch „Der alte, weiße Mann“ ist ihm das auf 220 Seiten markant, bestens belegt, sprachlich kreativ und eindrucksvoll mutig gelungen. Die Lektüre dieses Buches wird zu einem grimmigen Leservergnügen, mit Betonung auf „grimmig“. Mehr noch: Dieses Buch ist ein Weck-, ja ein Alarmruf, gegen die immer aggressiver auftretenden Gesinnungsdiktate einer freilich intellektuell dürftigen politischen und medialen Pseudoelite. Und ein Weckruf für so manchen lethargisch vor sich hindümpelnden deutschen Untertanen-Michel.
Bei Bolz geht intellektuell-diagnostische Präzision einher mit kreativ-markanter Sprachkunst. Er schreibt von: … geheuchelten Bußritualen; emotionaler Inkontinenz; vom Dominieren des Rotzigen, das als authentisch gilt; der 68er-Wächtergeneration; der Esoterik des Dekonstruktivismus; von Hatern, die Scheinriesen sind; dass jeder Wahnsinn heutzutage seine Website habe; dass Rechts und Links eins seien im Kampf gegen Aufklärung; von einer Blockwart-Kultur; von einem linken Moralbonzentum, dem das Proletariat abhandengekommen sei und das deshalb Regenbogenkoalitionen der Opfergruppen formiere; von „Wokewashing“; von NGOs als hofierten Störenfrieden; von Gefälligkeitswissenschaftlern; von der sündenstolzen, exhibitionistisch gepflegten „2. Schuld“, weil man die Schuld der Väter und Großväter angeblich nicht genügend aufgearbeitet habe; von einem kulturellen Bürgerkrieg …
Wir zitieren darüber hinaus ein paar Bolz-Sätze, die erfreulich anecken und repräsentativ für das Buch sind. Das Buch ist voll davon. Auf nahezu jeder Seite findet man florettmäßig zustechende Sätze wie die folgenden: „Abweichende Meinungen werden heute schärfer sanktioniert als abweichendes Verhalten“ … „Wir befinden uns mitten im Krieg der Hysteriker gegen das Normale“ … „Die moderne Gesellschaft präferiert Unreife“ … „Die Therapeuten und Sozialarbeiter helfen dem Individuum zu sagen, wie es an der Gesellschaft leidet“.
Das Buch ist eine Art Psychopathologie des geistigen und kulturellen Verfalls der westlichen Welt – mit Fokus auf das angeblich „beste Deutschland, das wir je hatten“ (Joachim Gauck 2014; CDU 2019; Frank-Walter Steinmeier 2020) und auf ein „Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ (Merkel 2017). Angeblich! Ja, Bolz hat über ein neurotisch gewordenes Land eine psychopathologische Studie verfasst, in der er keine Verirrung auslässt.
Aber Bolz bleibt hier nicht stehen. An mehreren Stellen des Buches stellt er die Frage: Wie umgehen mit dem kulturellen Bürgerkrieg der 68er-Enkel, mit dem Kulturkrieg des Westens gegen sich selbst, mit den Selbstgeißelungsritualen der „woken“ Taliban, mit der Normalisierung des Pathologischen und der Pathologisierung des Normalen?
Hat Bolz ein Gegenrezept parat? Nein, das kann und will er nicht. Denn sonst würde er wie die „Woken“, die er sich zur Brust nimmt, simplifizieren oder gar eine neue Heilsreligion verheißen. Bolz macht Mut zu einem Streiten, das wir wieder lernen müssen, ermutigt zur Risikobereitschaft. Er wünscht sich bürgerliches Durchhaltevermögen, und er will uns hoffen machen, dass die „woke“ Unkultur implodiert. Bis dahin empfiehlt Bolz außer intellektuellem Widerstand souveräne Ironie, Humor als bestes Mittel zur Kontingenzbewältigung. Bolz will uns eintreten lassen für Heimat, Familie, Elternschaft, Religion. Für Nächstenliebe vor „teleskopischer“ Fernstenliebe.
Das Buch von Bolz ist bei aller knallharten kulturkritischen Defizitanalyse, die fast verzweifeln ließe, ein Mut- und Muntermacher. Ein Mutmacher im Sinn Immanuel Kants, nämlich als Aufforderung zum Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Als Mutmacher auch im Sinne des führenden griechischen Staatsmanns Perikles (ca. 490 bis 429 vor Christus), den Bolz zwar nicht zitiert, der dem Bolz-Buch aber vorangestellt sein könnte: „Zum Glück brauchst du Freiheit. Und zur Freiheit brauchst du Mut!“
Bolz selbst lebt seine Empfehlungen vor – nicht erst seit der nunmehr 70-Jährige und vormalige Professor der Freien Universität Berlin für Medienwissenschaften emeritiert ist. Er ist ein bürgerlich-konservativ-liberal-skeptizistischer Intellektueller im besten Sinn des Wortes. Dass er aneckt, stört ihn nicht, ja, er will es so. Das ist gut so. Auch wenn die öffentlich-rechtlichen Talkshow-Redaktionen längst einen Bogen um ihn machen.
Norbert Bolz, Der alte, weiße Mann. Sündenbock der Nation. LMV, Hardcover mit Schutzumschlag, 256 Seiten, 24,00 €.