Das andere Frankreich steht auf: Nach Crépol dreht sich der Wind
Matthias Nikolaidis
Die Bluttat von Crépol offenbart ein Frankreich, das genug hat von der Belastung durch einen Bevölkerungsteil, der dem Land nichts bringt, ihm sogar Schaden zufügt. Das Verbrechenskarussell dreht sich derweil weiter: Ein Absurd-Intensivtäter in Le Mans wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt. In Lille schockiert ein Ritualmord an einer Rentnerin.
In Frankreich wird langsam alles anders. Das Land könnte an einer Wegscheide stehen, wie es sie lange nicht mehr gegeben hat. Nach dem Tod des 16-jährigen Thomas Perotto sind noch einmal viele Franzosen auf das größere, umfassende Thema der „beiden Frankreich“ aufmerksam geworden und wollen sich Ähnliches nicht mehr gefallen lassen. Der politische Kommentator Jean Messiha hat den passendsten Ausdruck für die einseitige Messerstecherei von Crépol gefunden: Es war kein Streit, kein Gerangel und auch kein Raubzug, sondern ein Mini-Pogrom mit dem Ziel, ein paar „Weiße abzustechen“, wie die Angreifer auch selbst bestätigten.
Eine der Folgen dieses Vorfalls ist, dass sich hunderte Menschen vor dem weihnachtlich geschmückten Pariser Pantheon versammelten und schon ziemlich entschiedene Slogans skandierten: „Franzose, erwache, du bist hier bei dir!“ etwa, oder: „Das Gesindel ins Gefängnis, Illegale ins Flugzeug!“ Laut Augenzeugen war es eine Atmosphäre ohne jeden Rassismus. Nur der „Überlebensinstinkt“ der Franzosen, auf dem herumgetrampelt wird, sei erwacht.
Die Pariser Demonstration war zunächst vom Polizeipräfekten verboten worden, um dann von einem Gericht genehmigt zu werden. Ähnliche Demonstrationen fanden in anderen Städten statt. Das ist kein beginnender Bürgerkrieg, scheint aber allmählich ein veritabler Konflikt zwischen verschiedenen Teilen des tonangebenden Milieus in Frankreich zu werden. Die Karten sind nicht mehr so eindeutig verteilt, als dass sich abweichende Meinungen aus der Öffentlichkeit verbannen ließen. So beginnt der Wind in einem Land auf breiter Front zu drehen.
Zemmour verdammt das Ultra-Lumpengesindel
Auch parteipolitisch deutet sich eine mehr oder weniger große Zeitenwende in Frankreich an. Der Führer der konservativen Républicains, Éric Ciotti, hat nicht gezögert, sich in dem aktuellen Streit an die Seite von Marine Le Pen und Éric Zemmour zu stellen. „Mein Frankreich ist das von Thomas“, schrieb er auf der Plattform X in Antwort auf den ultralinken Jean-Luc Mélenchon, der Solidaritätskundgebungen für Thomas als „rassistisch“ gebrandmarkt hatte. Für Ciotti hat sich Mélenchon damit auf die Seite von Thomas’ Henkern gestellt. Mélenchon habe sich schon „seit Jahren“ mit dem „ewigen Frankreich“ angelegt. Ciotti nahm zudem ein Wort Marine Le Pens auf, das allerdings eine Faktenbeschreibung ist: „Wir sind nirgendwo mehr sicher.“
Éric Zemmour gab eine wunderbare Antwort auf die Frage der naiven Mainstream-Journalistin vom Dienst, Apolline de Malherbe, für den Fernsehsender BFM TV: Ob er den Aufmarsch der Ultrarechten in Romans-sur-Isère verdamme? Der Ex-Journalist und Gründer der politischen Partei Reconquête („Rückeroberung“) setzte langsam an: „Ich verdamme den Tod von Thomas. Ich verdamme das Ultra-Lumpengesindel, die Ultra-Immigration, und lassen Sie mich sagen, auch die Ultra-Verarschung, die Medien und Politiker mit dieser Geschichte versuchen.“
Die Vermutung, einige empörte Franzosen könnten einen Bürgerkrieg auslösen, kann Zemmour nur lächerlich finden. Den wirklichen Bürgerkrieg habe es im Juni gegeben, als der Tod des algerischen Wiederholungstäters Nahel M. zu dutzenden Brandstiftungen an Rathäusern, Schulen und Polizeikommissariaten, zu ausgedehnten Plünderungen, Straßenschlachten usw. führte. Durch die Demonstration rechter Gruppen sei kein einziger Einwohner von La Monnaie zu Schaden gekommen, so Zemmour – wohl aber einer der Demonstranten, der von einer Gruppe Jugendlicher entführt und verprügelt wurde. Die Polizei musste ihn in Sicherheit bringen. Das Sicherheitsproblem Frankreichs ist weiterhin in den Banlieues zu Hause. Die Hamas habe Schüler in Romans, fassen es einige zusammen.
Jonglage mit dem Kopf der Bürgermeisterin und der Romeo-Bezug
Im selben Interview fordert Zemmour eine drastische Verschärfung der Strafen, darunter die Einführung von Mindeststrafen, die von Richtern nicht unterschritten werden können. Daneben fordert er konsequente Abschiebungen von ausländischen Straftätern und den Entzug der französischen Staatsbürgerschaft bei Doppelstaatlern. Und auch in Frankreich sieht Zemmour das Problem einer laschen Justiz, die allerdings noch von den nachträglichen Erleichterungen durch die Haftanstalten übertroffen werde.
Persönlich nahm es übrigens der Innenminister Gérald Darmanin, dass Zemmour von ihm die Herausgabe der Vornamen der Messerstecher von Crépol forderte. Darmanin, der teils algerischer Herkunft ist, behauptete, dass Zemmour ihn damit bloßstellen wollte, da sein „zweiter Vorname Moussa ist“. Das ist eher eine absurde Fußnote zu der gesamten Diskussion, aber es zeigt, dass die Macron-Regierung in einer Sackgasse feststeckt, aus der sie sich nur durch die woke Antidiskriminierungsideologie befreien zu können glaubt. Man kann sich merken: Falls Darmanin wirklich als Präsidentschaftskandidat antreten sollte, wird er es als „Mélenchon light“ tun, als Politiker der Macron-Mitte, der sich die Interessen der Vorstädte und Migranten zum großen Teil auf die Fahnen schreiben wird.
Mit welchen Risiken eine eindeutige Positionierung in Fragen der „beiden Frankreich“ behaftet ist, zeigt der Fall der mutigen Bürgermeisterin von Romans-sur-Isère. Seit Marie-Hélène Thoraval daran erinnerte, wer im Fall Thomas Opfer und wer die Täter waren, bekam sie innerhalb kürzester Zeit Morddrohungen. Einer schrieb ihr, er werde innerhalb eines Monats mit ihrem Schädel jonglieren. Thoraval will weiter klare Worte wählen. Vermutlich braucht sie dafür aber Polizeischutz. In einer zweiten Nachricht wurde Thoraval gefragt, ob sie eine Kalaschnikow bei sich zu Hause habe und ob sie einen Leibwächter besitze. Daneben erhält sie tausende unterstützende Nachrichten.
Demgegenüber versuchte eine Historikerin im deutsch-französischen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender arte, die Bluttat von Crépol nach dem Muster von „Romeo und Julia“ als tragischen Konflikt zwischen zwei Clans zu sehen. Man bemüht sich sehr ernsthaft, den Dimensionen dieses literarischen Vortrags im Studio zu folgen. Im letzten Moment widerspricht dann ein vom Haus arte unabhängiger Journalist dieser Romantisierung der rohen Gewalt.
Von Terroranschlägen, Intensivtätern und Ritualmorden
Und der Strom der Untaten, durch die Franzosen, aber auch Besucher des Landes in den verschiedensten Lagen ihr Leben verlieren, reißt nicht ab. In Paris, in der Nähe des Eiffelturms, hat sich ein Mann unter dem Schrei „Allahu akbar“ mit einem Messer und einem Hammer auf zufällige Passanten gestürzt und einen 24-jährigen Deutschen (geboren auf den Philippinen) umgebracht. Berichten zufolge hat er daneben einen 60-jährigen Franzosen und einen 66-jährigen Briten verletzt. Der Täter, ein gewisser Armand Rajabpour-Miyandoab, Franzose mit iranischen Eltern, ist Polizei und Terroranalysten bereits wohlbekannt. Er war Teil einer radikal-islamischen Zelle und wird seit 2016 in der französischen Terrordatei geführt, die leider vollkommen wirkungslos zu sein scheint.
Der Blick in die allerjüngste Vergangenheit zeigt, dass die Tat des jungen Franko-Iraners nicht isoliert zu sehen ist. Die Kriminalität durch nicht-westliche Zuwanderer ist ein furchterregendes Phänomen geworden. In Le Mans hat ein Migrant ohne legalen Aufenthalt zwei Passanten gewürgt, auf dass sie ihm eine Soda kaufen. Bei anderer Gelegenheit versuchte er, sich mit einem Küchenmesser gegen einen Sicherheitsmann durchzusetzen, weil der ihm den Zugang zu einem Verein verweigerte. Der Mann in seinen Dreißigern hat 28 Vorstrafen auf dem Kerbholz. Außerdem versuchte er im Bürgeramt, sich einen neuen Aufenthaltstitel mit Gewalt zu erpressen. Solche Personen schaffen es ganz alleine, eine Kriminalitätsstatistik in die Höhe zu treiben.
Im Oktober gab es – von deutschen Medien nicht bemerkt – einen barbarischen Raubmord an einer älteren Dame von 68 Jahren, ein Fall, der stark an die barbarische Vergewaltigung der jungen Mégane in Cherbourg in diesem August erinnert, die überlebte, aber so lange im Koma lag, dass ihre vollständige Genesung zweifelhaft scheint.
Fabienne aus Lille war eine fitte Großmutter und hatte das Pech, einen Einbrecher in ihrer Wohnung zu überraschen. Fabiennes Schwägerin erzählt den Vorgang im Detail: Ihr Bruder fand seine Frau am Boden liegend, entkleidet, erdrosselt, mit gespreizten Beinen. Die Hände waren ihr abgeschnitten worden, der Kopf skalpiert, ihr ganzer Körper von Messerstichen getroffen, sieben Mal allein im Intimbereich. Die Autopsie ergab keine Vergewaltigung im sexuellen Sinn. Die Schwägerin nennt es „Rituale der Barbarei, der Folter“. Sie mag solches nicht mehr als „vermischte Meldung“ lesen. Zemmour, der mit ihr spricht, stimmt ihr zu, dass sich solche Dinge mittlerweile regelmäßig zutragen, in allen Ecken des Landes.
Die Dame sagt es dann sehr klar: „Das Volk, unsere Kinder und Enkel sind in Gefahr. Der Staat tut seine Arbeit nicht. Sollen wir das etwa tun?“ Der Täter des grauenerregenden Verbrechens (begangen ohne klares Motiv) war ein „unbegleiteter Minderjähriger“ von 17 Jahren, ohne Papiere, nach eigenen Angaben aus der Elfenbeinküste. Es ist schon das zweite Mal innerhalb kürzester Zeit, dass eine Französin in ihrer eigenen Wohnung in einer solchen Weise „massakriert“ wird. Zemmour wies an anderer Stelle darauf hin: Die Opfer sind leider immer die Thomasse (oder Fabiennes und Méganes), die Täter leider immer die Chaïds, ob in Crépol, Lille oder Cherbourg.
Das Land weigert sich, ein anderes Land zu werden
Inzwischen zirkulieren handliche Listen darüber, was zum „neuen Frankreich“ gehört. Da heißt es etwa:
seit 30 Jahren immer wieder Anschläge,
Aufschlitzen der Kehlen unserer Lehrer,
fast täglicher Mord an unseren Landsleuten,
religiöser Fundamentalismus überall,
ständige Angriffe auf den Laizismus,
Verweigerung der Assimilation an die französische Kultur,
Explosion des Antisemitismus und erzwungenes Exil jüdischer Franzosen,
wiederholte Vergewaltigungen und Angriffe auf Frauen in den Straßen und Verkehrsmitteln,
hunderte von rechtsfreien und nicht-französischen Zonen,
Unsicherheit und Kriminalität überall, 120 Messerangriffe pro Tag,
landesweite Unruhen,
das mafiöse Krebsgeschwür des Drogenhandels in ganz Frankreich,
zunehmende Homophobie in den Vorstadtsiedlungen.
Der Bericht einer jungen Straßburgerin scheint diese Liste zu bestätigen, ebenso die Teilung des Landes in „zwei Frankreich“ (die Formulierung stammt übrigens von Zemmour). Die junge Frau berichtet von einem Ausgang auf dem Weihnachtsmarkt in der elsässischen Metropole. Gemütliche Stimmung, bis einige bewaffnete Polizisten angerannt kommen. Sie „drücken“ einige Jogginghosenträger gegen die Wand. Die Frau denkt an die „Attentate“. Auf dem Heimweg wird ihr dann etwas unheimlich angesichts eines vermummten Nordafrikaners, der sich erratisch verhält. Sie ist hin- und hergerissen, ob sie bei einer anderen jungen Frau bleiben sollte, als sie eigentlich aussteigen muss. „Warum werden wir gezwungen, inmitten von Verrückten zu leben?“, fragt sie abschließend und meint die Desorientierung durch so viele junge Männer ohne klare Orientierung im Leben – nordafrikanische Männer, die ihr Geld, wenn überhaupt, wohl mit Drogen verdienen.
Festzuhalten bleibt als Lehre aus Crépol: Die Franzosen – wie hier einer der besten Freunde von Thomas – sehen die Angreifer höchstens als Franzosen dem Pass nach. Ein Personalausweis habe noch nie die „Qualität eines Franzosen“ erzeugt. Es gebe einen „sehr konkreten Unterschied zwischen den Dingen, die durch ein Schriftstück, eine Quantität bestimmt werden, und jenen Dingen, die durch eine Qualität, durch das Verdienst, das vergossene Blut, die Mühe und so weiter bestimmt sind“. Hier greift der Freund des Toten weit in die französische Geschichte aus – vielleicht auf die Weltkriege, vielleicht auf die Revolutionen –, die im Großen und Ganzen noch lebendig scheint im weiten Land.
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