Ehrlich gesagt kann ich mich über Medienberichterstattung über Israel nicht mehr richtig aufregen. Ich muss zugeben, dass ich in den Jahren, in denen ich mich intensiver mit dem Thema beschäftige, zunehmend abgestumpft bin. Mich wundert es einfach nicht mehr, wenn Journalisten ohne Hebräisch- oder Arabisch-Kenntnisse beziehungsweise vertieftes Wissen über die Region für die öffentlich-rechtlichen Anstalten aus Tel Aviv berichten. Wenn Berichterstatter die ausgelatschte Leerformel von der „Gewaltspirale“ immer wieder aufwärmen, erklären, Israel greife im Gazastreifen an, obwohl es nur auf Raketenbeschuss reagiert, oder schlicht völlig irrsinnige Sachfehler machen.
Wenn dann mal wieder eine Welle der Aufregung durch meine israelfreundliche Twitter/X-Blase rollt, weil Medien einen weiteren Bock geschossen haben, zieht das nur noch an mir vorbei. Ich sitze da, zucke mit den Schultern und denke oft: Was wollt ihr denn? Ist doch alles bekannt; nichts Neues unter der Sonne. Mir ist klar, dass das nicht die richtige Einstellung ist. Der Skandal der Berichterstattung muss immer wieder benannt werden. Weil Berichterstattung wirkmächtig ist, weil sie das Denken eines ganzen Volkes beeinflussen kann, vor allem und gerade der großen Masse, die nur schnell durch die Überschriften scrollt und sich dadurch ihre Meinung prägen lässt.
Was also gibt es gerade an Aufregung über Israel-Berichterstattung? Seit dem 7. Oktober, dem Tag des Hamas-Terrorgroßangriffs auf die israelische Zivilbevölkerung, haben wir bereits einigen Irrsinn durch: Besonders hängen geblieben ist die unselige Leichtfertigkeit, mit der sich zahlreiche Medien zum Büttel der Hamas-Propaganda machten, als es Mitte Oktober nahe dem Ahli-Krankenhaus zu einer Explosion kam und vielerorts umgehend von einem israelischen Raketenangriff mit angeblich hunderten Toten berichtet wurde. Mittlerweile erklärt selbst die hochgradig israel-kritische Organisation „Human Rights Watch“, dass es sich hier sehr wahrscheinlich um ein palästinensisches Geschoss gehandelt haben dürfte.
Aktuell steht vor allem ein Wort in der Kritik, das in der Berichterstattung immer wieder auftaucht: „Geiselaustausch“. Von einem solchen „Geiselaustausch“ sprach etwa die Tagesthemen-Moderatorin Aline Abboud, als Anne Will am Sonntagabend zu ihr übergab. Dasselbe Wort, etwas abgewandelt, las man in einem Tweet des Ersten, in dem ein Weltspiegel-Bericht zur Frage angekündigt wurde: „Ist der Austausch der Geiseln zwischen Israel und der Hamas ein erster Schritt zum Frieden?“ Aktuell findet man das Wort „Geiselaustausch“ auch auf der Website des MDR in einer Überschrift zu einem TV-Beitrag zur aktuellen Lage: „Längere Feuerpause und weiterer Geiselaustausch in Nahost“. Auch zuvor war es immer wieder in diversen Medien, darunter beim ZDF, kolportiert worden.
Was ist nun das Problem an diesem Begriff? Es ist völlig klar, dass es einen Geiselaustausch zwischen Israel und der Hamas nicht gibt. Richtig ist, dass sich Israel und die Terroristen auf einen Deal geeinigt haben, demzufolge die Hamas israelische Geiseln vom 7. Oktober – bisher ausschließlich Frauen, Kinder und Kleinkinder – freilässt, während Israel verurteilte Straftäter – Frauen und Personen unter 19 Jahren – aus Gefängnissen entlässt. Darunter sind Palästinenser, die wegen versuchten Mordes einsitzen. Wer von einem Geiselaustausch spricht, der behauptet de facto, dass es sich bei diesen Palästinensern um Geiseln Israels gehandelt habe. Das Wort signalisiert also eine Äquivalenz zwischen Israel und der Hamas, die es nicht gibt, weder in diesem konkreten Fall, noch insgesamt.
Die Frage, die sich bei diesen Vorfällen immer stellt: Ist es Unfähigkeit oder Absicht, die zu solchen Formulierungen führt. Einige X-Nutzer haben dazu eine klare Meinung. So schreibt Thomas Jäger, Politik-Professor, der selbst immer wieder im öffentlich-rechtlichen Sender Phoenix auftritt: „‘Geiselaustausch‘ ist antisemitische Propaganda, so als halte Israel seit Jahren Palästinenser als Geiseln. Das ist inzwischen häufig angemahnt worden, dass wer es sagt, es genau in dieser Absicht sagt. Es gibt Medien, bei denen es offenkundig die offizielle Sprache ist.“ Ähnlich sieht es Key Pousttchi, Professor für Digitalisierung: „Das ist also nicht unbedacht formuliert, sondern eine Tagesthemen-Moderatorin verbreitet bewusst das Narrativ der Hamas-Terroristen. Wow.“ Selbst der Leiter der Henri-Nannen-Journalisten-Schule zweifelt an seinen Kollegen: „Über diese Formulierung (‚Austausch der Geiseln‘) wird seit Tagen diskutiert. Lebt ihr unter einem Stein oder habt ihr euch bewusst für sie entschieden?“
— Thomas Jäger (@jaegerthomas2) November 26, 2023