Das politische Establishment in den Niederlanden ist erschüttert worden. Die Parteien, die die Niederlande seit dem Zweiten Weltkrieg regiert haben, sind nach den Parlamentswahlen am Mittwoch, dem 22. November, in der Minderheit, vor allem die Linke hat verloren. Der unerwartete große Gewinner ist Geert Wilders von der Partij voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit), die üblicherweise als „rechtspopulistisch“ bezeichnet wird und mit 37 der 150 Sitze nun die mit Abstand stärkste Kraft in der „Zweiten Kammer“ in Den Haag ist.
Die Frage ist, ob Wilders nun fähig ist, eine Koalition zu bilden, eine Rechtskoalition mit den konservativen Liberalen, der neuen Partei der Mitte von Pieter Omtzigt und der jungen Bauernpartei Bauer-Bürger-Bewegung (BoerBurgerBeweging). Bei den Liberalen und bei Omtzigt ist das Regieren mit Wilders nicht ganz unumstritten, insbesondere wegen seiner islamfeindlichen Ansichten. Wilders selbst sagt, er wolle „Ministerpräsident aller Niederländer“ werden und seine Ansichten zum Islam – er ist gegen Kopftücher, gegen Moscheen, gegen den Koran – auf Eis legen.
Wahlergebnis hat Schock ausgelöst
Das Wahlergebnis hat in den Niederlanden einen Schock ausgelöst: Freude bei den einen, große Enttäuschung bei den anderen. Noch nie zuvor ist eine Partei, die nicht zum Establishment (links, liberal oder christdemokratisch) gehört, stärkste Kraft im Unterhaus in Den Haag geworden.
Die auf dem Papier rechtsliberale VVD des Rekord-Premierministers Mark Rutte (seit 2010) regiert seit 2012 mit linken Parteien, verfolgt eine überwiegend linke Politik und zahlt nun einen hohen Preis dafür: sie schafft es mit 24 Sitzen nur auf Platz drei im Parlament. Die neue rot-grüne Kombination unter Führung des ehemaligen EU-Kommissars Frans Timmermans kommt nicht über 25 Sitze hinaus. Und die Christdemokraten, die Partei, die bis 2010 an der Macht war, wurde praktisch ausgelöscht: 5 Sitze. Viele dieser CDA-Wähler fühlten sich von ihrer Partei nicht mehr vertreten und wechselten in den letzten Monaten zur BBB (7 Sitze) und insbesondere zur neuen Partei des ehemaligen CDA-Politikers Pieter Omtzigt (20 Sitze).
Das Wahlergebnis in den Niederlanden ist mehr als ein Erdrutschsieg für Wilders (und in geringerem Maße für Omtzigt). Es kann fast als eine Kulturrevolution betrachtet werden. In gewissem Sinne gehen die 1960er Jahre in den Niederlanden zu Ende. Fast sechzig Jahre lang dominierten linke, progressive und kosmopolitische Ideen. Die Niederlande schienen ein „Leitland“ mit fortschrittlichen Idealen (Homo-Ehe, Abtreibung, Euthanasie, Drogen) sowie einer großzügigen Politik gegenüber dem Ausland und Ausländern sein zu wollen.
Der damals neue Politiker Pim Fortuyn wollte bereits 2002 dagegen vorgehen, doch kurz vor den Wahlen – bei denen er in den Umfragen zu führen schien – wurde er von einem linken Umweltaktivisten ermordet. Wenige Zeit später brach seine Partei zusammen. Die Heiratsmigration von Türken und Marokkanern wurde daraufhin eingeschränkt, aber ansonsten regierten Christdemokraten, Liberale und Sozialdemokraten weiter, als ob nichts geschehen wäre.
Die Niederlande waren nie so links wie unter Rutte
Im Jahr 2010 war Geert Wilders bei den nationalen Wahlen ebenfalls sehr erfolgreich, aber nach eineinhalb Jahren als „Toleranzpartner“ landete seine Partei in der Opposition. Der liberale Premierminister Mark Rutte regierte weiter, zunächst mit den Sozialdemokraten und dann mit den Linksliberalen von D66 (die jetzt eine große Wahlniederlage erlitten haben und nur noch 9 Sitze bekommen). Der Einfluss der D66 auf die Politik war stark: mehr Europa, die Niederlande als Vorreiter in Sachen Klima und Natur, keine Maßnahmen zur Begrenzung der Rekordeinwanderung und eine Reihe „woker“ Maßnahmen unter der Leitung von D66-Ministern.
Auf diese Politik wurde bei den Wahlen am Mittwoch nun reagiert. Die Niederlande waren nie so links wie die Politik der Rutte-Kabinette. Unter den Rutte-Kabinetten regierte die linke Minderheit mit den rechten Stimmen von Ruttes Wählern. Im Juli ließ Rutte sein letztes Kabinett fallen – er kündigte auch seinen eigenen Abschied an –, weil D66 und der kleine Koalitionspartner ChristenUnie nicht genügend Maßnahmen gegen den Familiennachzug von Asylbewerbern ergreifen wollten.
Rutte mag gedacht haben, dass seine Nachfolgerin, die türkischstämmige Dilan Yesilgöz, mit der Asylpolitik als Wahlkampfthema Unterstützung gewinnen würde. Sie schlug daraus Kapital, indem sie eine mögliche Zusammenarbeit mit Geert Wilders nicht mehr ablehnte. Doch beides erwies sich als Schub für Wilders: Schließlich gehört ihm das Thema Einwanderung mehr als der VVD unter Rutte. Dass Yesilgöz dann anfing, darüber zu streiten, ob sie mit Wilders regieren sollte, hat ihr auch nicht geholfen.
„Die Amsterdamer Seifenblase ist geplatzt“
So erlebte die Partei für die Freiheit von Geert Wilders am 22. November 2023 ihren endgültigen Durchbruch in den Niederlanden. Nie zuvor wurde ein angeblicher „Rechtspopulist“ nach dem Zweiten Weltkrieg die größte Partei in den Niederlanden – oder in Westeuropa überhaupt. Es war ein echter Durchbruch: Hatten sich die Niederländer bisher mit ihrer Entscheidung für Wilders‘ PVV zurückgehalten, so wurde sie in den Wochen vor dieser Wahl offen ausgesprochen. Die Linke ist in den Niederlanden klein (ein Drittel der Bevölkerung), aber wenn sie mit den Liberalen von Rutte (dann mit den Christdemokraten) regiert, könnte sie das Land trotzdem regieren.
„Die Amsterdamer Seifenblase ist geplatzt“, schrieb die sozialdemokratische Amsterdamer Heimatzeitung Het Parool am Donnerstag. Diese Schlagzeile bringt die Wahlrevolution in den Niederlanden auf den Punkt. Jahrzehntelang waren die großen Städte mit ihren Universitäten und ihren linken Stadträten auch im Zentrum der Regierung in Den Haag entscheidend. Von Den Haag aus hat die Linke dem Rest des Landes ihren Willen aufgezwungen, mit teuren Klimaplänen, mit strengen Stickstoffmaßnahmen gegen Landwirte, mit offenen Grenzen für Einwanderer, ohne Häuser zu bauen, mit der Abschaffung einer Folklorefigur wie dem Zwarte Piet und großzügigen Reparationszahlungen für die niederländische Sklavenvergangenheit.
Im März fanden die Regionalwahlen statt, bei denen die „Bauernpartei“ BBB mit Abstand stärkste Kraft wurde. Nun folgte die zweite Stufe: Zunächst schien die neue Partei des angesehenen Parlamentariers Pieter Omtzigt – der von seiner Partei, der CDA, hinausgedrängt wurde – die größte zu werden. Am Ende wurde es Geert Wilders. Sein gemäßigterer Ton in den letzten Monaten hat dazu beigetragen, aber sicherlich auch die über Jahre hinweg aufgebaute Unzufriedenheit darüber, dass in den Niederlanden eine linksgerichtete Politik betrieben wird.
Ein übersehener Effekt könnte durch den Pogromangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober und die Reaktion der Linken, der Medien und eines Teils der niederländischen Politik auf die israelischen Angriffe auf die Hamas im Gazastreifen verursacht worden sein. Hamas-freundliche Demonstrationen wurden bisher verschont, während jüdische Schulen geschlossen werden mussten und auch die Kristallnacht-Gedenkfeiern ausfielen. Das kam Geert Wilders sehr gelegen: Er ist nicht nur ein Islamkritiker – und wird aus diesem Grund seit 20 Jahren massiv geschützt –, sondern auch ein klarer Befürworter Israels. Das Land sieht er als Bollwerk gegen die Bestrebungen des Islam, in und gegen den Westen vorzudringen.
Schärfere Politik gegenüber Brüssel ist wahrscheinlich
Es ist durchaus möglich, dass Wilders’ Sieg und der Rechtsruck in den Niederlanden auch außerhalb des Landes Auswirkungen haben werden – vor allem in den Nachbarländern. Während sich die Parteien der Mitte in anderen europäischen Ländern verängstigt in die Ecke drängen, sieht die populistische Rechte neue Chancen. Nach dem Brexit in Großbritannien und dem Sieg von Donald Trump in den Vereinigten Staaten im Jahr 2016 jubelte die populistische Rechte in Europa, gekrönt von einer Kundgebung in Koblenz im Januar 2017. Doch trotz großer Erfolge der Rechten in Frankreich und Italien schien diese Bewegung zu stagnieren.
Wie sich der Sieg von Wilders auf die niederländische Außenpolitik auswirken wird, ist ungewiss, aber zwei Aspekte sind sicherlich zu erwarten. Der erste betrifft die Europapolitik. Das letzte Kabinett Rutte war dank der D66 das europafreundlichste Kabinett, das die Niederlande je hatten. Wilders wollte eigentlich den Austritt der Niederlande aus der EU oder zumindest eine Ausnahmeregelung bei den Themen Migration und Euro. Dazu wird es – zumindest nicht sofort – kommen, aber eine schärfere Politik gegenüber Brüssel ist wahrscheinlich.
Zweitens: Die letzte Rutte-Regierung bezeichnete sich selbst als „Verstärker“ bei der Bewaffnung der Ukraine und stellte erst 2024 weitere 2 Milliarden Euro für Waffenlieferungen zur Verfügung. Wilders ist dagegen und hat sich in der Vergangenheit auch gegenüber Putin nachsichtig gezeigt. Das wird eine gewisse Wirkung haben und könnte der Selenskyj-Regierung in Kiew Sorgen bereiten, zumal die Unterstützung für die Ukraine auch anderswo immer unsicherer wird.
Der scheidende niederländische Ministerpräsident Mark Rutte hat unterdessen seinen Blickwinkel verschoben: Er war in der Vergangenheit mit der Lieferung von Kampfjets und Panzern an die Ukraine der „Booster“ und hat sich nun um das Amt des Generalsekretärs der Nato beworben. Rutte hat sich in den letzten Monaten viel in ausländischen Hauptstädten wie Brüssel und Washington aufgehalten.