Tichys Einblick
Freilassung von Hamas-Terroristen verlangen

Istanbul: Erdogan watscht Steinmeier und „den anderen“ noch einmal ab

Gerade zurück in Istanbul, erklärte Erdogan vor Studenten, dass der Westen ein Kreuzfahrer-Komplex sei, gegen den er kämpfen will. Die Interessensphären der Türkei reichen demnach vom Kaukasus bis nach Südasien und ins innere Afrika. Europa gehört auch irgendwie dazu.

IMAGO / dts

Erdogan ist wieder in heimischen Gefilden angekommen. Man kann nicht sagen, dass er sich in Berlin – der Sache nach – irgendwie zurückgehalten oder gemäßigt hätte. Aber er trug andere Dinge in Berlin vor als zuvor in Istanbul, sprach für ein anderes Publikum, versuchte auf andere Weise, die eigene Position zu stärken und Zweifel an ihrer Position bei seinen Zuhörern einzupflanzen. Erdogan ging in all dem geschickt und gerissen vor. Man konnte ihn durchschauen, aber er setzte zugleich sein gesamtes Kapital ein, um seinen Punkt zu machen.

Und so ist es kein Wunder, dass er nun – kaum in der Türkei angekommen – zu seiner aggressiven Rhetorik mit deutlicher Aussprache zurückkehrt, die man seit Beginn des Gaza-Kriegs von ihm kennt. Er sprach in Istanbul vor dem nationalen Studentenverband, wo ihm bekopftuchte Studentinnen mit Türkei-Palästina-Freundschaftsschals gegenübersitzen. Erdogan reflektierte hier über seine Deutschland-Reise, einschließlich seiner neuesten Fake-News: Israel würde auch Geiseln der Hamas festhalten, aber das wären dann offenbar Terroristen. Erdogan konkretisierte den Vorwurf in Istanbul und forderte, dass Bundespräsident Steinmeier sich auf seinem kommenden Israel-Besuch für die Freilassung von „fast 10.000 Geiseln aus den Händen der Israelis“ einsetzt. Erdogan beharrt auf einer kruden Gleichung Mann-gegen-Mann, als ob israelische Kinder oder Senioren dasselbe wären wie ein von Israel festgesetzter oder rechtskräftig verurteilter Terrorist.

Dies ist, man muss es deutlich sagen, eine Umwertung der Werte. Terroristen und verurteilte Strafgefangene lassen sich nicht mit knapp dem Tod entronnenen, entführten und in irgendwelchen Tunneln versteckten Zivilisten vergleichen. Hier sind Moral und ethisches Unterscheidungsvermögen am Ende. Es geht nur noch um einen Machtkampf zweier Blöcke. Interessanter als dieses offensichtliche Ablenkungsmanöver – das dennoch aufschlussreich und bezeichnend ist – waren die strategischen Bemerkungen aus Erdogans neuer Istanbuler Rede, die eine kleine Analyse vertragen.

Erdogans Türkei zwischen Sèvres-Syndrom und Kalifat

1. Laut Erdogan bildet die westliche Welt eine einzige kreuzfahrerisch-imperialistische Struktur. Das habe er auch auf seiner Deutschland-Reise wieder festgestellt. „Ich habe das beim Präsidenten gesehen und bei dem anderen auch.“ Der „andere“ ist Bundeskanzler Olaf Scholz… – Kommentar: Die Türkei gehört offenbar nicht (mehr) zum Westen. Tatsächlich hatte Erdogan schon vor der Reise vorausgesehen, dass „der Deutschland-Besuch einiges enthüllen wird“. Nun enthüllt sich zudem, dass Olaf Scholz schlicht nicht in einer Liga mit dem türkischen Präsidenten spielt, zumindest aus Erdogans Sicht.

2. Man dürfe nicht vergessen, dass die „Kreuzfahrer-und-Halbmond-Mentalität“ nicht verschwunden sei. – Kommentar: Eine interessante Formulierung, denn Erdogan klagt den Westen wegen einer Mentalität an, die er sich im gleichen Atemzug selbst zu eigen macht und die vermutlich eher aus ihm (und aus dem Islam) als aus dem Westen kommt. (Applaus der – dann doch vornehmlich männlichen – Studenten.)

3. Laut Erdogan ist es aber der Westen, der den „Kreis des Feuers“ entzündet und nicht näher bezeichneten „Flammen“ Nahrung gibt. Dadurch wolle er „diese Nation“ am Erreichen ihrer Ziele hindern. „Diese Nation“ sei aber der Motor der türkischen wie der islamischen Welt. Man werde das nicht erlauben. (Applaus.) – Kommentar: Eine für Erdogan typische Verquickung von türkischem Nationalismus (eigentlich erst um 1900 entstanden) und islamischem Sendungsbewusstsein (etwas länger in der Region präsent). Wiederum scheint Erdogan seinen eigenen „Kreis des Feuers“ anzufachen. Er und seine Anhänger sind es, die in der „Kreuzfahrer-und-Halbmond-Mentalität“ befangen sind.

4. Angeblich wolle der Westen (oder wer auch immer) mit dieser Aktivität die türkisch-islamische Nation aus ihren Landen vertreiben. Die inzwischen klassischen Länder des Nahen Ostens werden hier in der Tat zur Verschiebemasse und zu formlosen Landen, wie sie zweifellos im Osmanischen Reich existiert haben. Denn Erdogan spricht ohnehin von der „Geographie des Herzens im breitesten Sinn“, nicht von der realen Geographie mit ihren politischen Grenzen. – Kommentar: Was soll man sagen? Es ist das Sèvres-Syndrom, für das die Türkei bekannt ist („Fremde Mächte wollen uns aus unserem Land vertreiben“), kombiniert mit einem neo-osmanischen und (vorerst rhetorisch) auf das Kalifat abzielenden Sendungsbewusstsein. Das Kalifat würde aber genau dieses wohlbegrenzte Vaterland in einem riesigen Gottesstaat auflösen. Das ist in der Tat eine totalitäre Idee, die jedem Traum von Germania-Berlin mit seinen überdimensionierten „Hallen des Volkes“ gerecht würde.

5. Die Türkei aber sei ein Land, das nicht durch seine Grenzen begrenzt sei. Das müsse nun jeder Mensch mit Gehirn verstanden haben. Dieses Bekenntnis macht Erdogan zur Feuerprobe für türkische Patrioten: Glaubt ihr das nicht, dann steht ihr innerlich im Dienst fremder Mächte! – Kommentar: Ein weiterer Hinweis auf totalitäre Tendenzen in Erdogans Türkei. Daneben ist natürlich wahr, dass national gesinnte Türken heute auch in anderen Ländern, etwa in Deutschland, Österreich, Frankreich, Belgien usw. leben. Sieben Millionen sind es allein in Europa laut Erdogan. Insofern hört die Türkei heute nicht an ihren Grenzen auf, wie man am Sonnabend auch im Berliner Olympiastadion erleben konnte.

Vom Kaukasus bis ins Innere Afrikas interessieren „alle Themen“

6. Man müsse daher auch die Ereignisse richtig einschätzen, die in letzter Zeit im Zusammenhang mit dieser „breiteren Geographie“ der neo-osmanisch-islamischen Türkei bekannt geworden sind. – Kommentar: Hier wird es spannend. Was folgt ganz praktisch aus Erdogans weitschweifenden Phantasien?

Als er die Regionen aufzählt, an die er gerade denkt, wird einem klar: Erdogan ist längst bei der Umsetzung angekommen. Denn zu diesem Thema gehören für ihn Länder und Gegenden wie „Syrien, Irak, Zypern, der Kaukasus, der Balkan“, am Ende sogar „Südasien“. Vom östlichen Mittelmeer bis ins „innere Afrika“ seien „alle auftretenden Themen“ von Bedeutung für die Türkei; hier darf man wohl besonders an wirtschaftliche und energiepolitische Themen denken.

Das entspricht daneben einem klassischen Großmachtanspruch. Das genannte Gebiet wäre dann die Einflusssphäre, die eben vom Balkan bis nach Indien reicht und vom Kaukasus bis ins Innere Afrikas. Auch Gaza und Jerusalem zählen wie selbstverständlich dazu. Europa ist in dieser Sichtweise nur eine in verschiedenen Graden assimilierte Weltgegend. Daneben sagt Erdogan, dass die „Groß-Türkei“ sich in allen diesen Ländern natürlich auch militärisch engagieren könne, also von Berg-Karabach bis nach Jerusalem. Und wenn jemand im Innern der Türkei sage, man habe dort nichts zu suchen, dann stehe er dem Entstehen dieser „Groß-Türkei“ im Wege. Noch so ein Aufnahmekriterium für Erdogan-Patrioten.

Der Exiljournalist Abdullah Bozkurt nennt all das „Erdogans feuchte Träume“. Andere wie der griechische Vermittler zwischen den Kulturen Nikos Michailidis sprechen schon eher von totalitären Tendenzen, von einem „Nazi-Staat und einer ernsten Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit der Welt“. Michailidis ist kein pauschaler Türkenhasser, hat in der Türkei studiert und viele Reisen in die Heimat seiner Vorfahren an der Schwarzmeerküste gemacht, wo er auch mit dem türkisch-pontischen Musiker Adem Ekiz musizierte. Umso mehr kritisiert er die Verwandlung der Türkei in einen islamischen Gottesstaat mit totalitären, faschistoiden Zügen.

Noch ist ein Besuch Erdogans in Athen für den 7. Dezember vorgesehen. Tagen soll der Höchste Kooperationsrat zwischen Griechenland und der Türkei, und entschieden werden soll etwa über einen direkten militärischen Informationskanal, der Zusammenstöße, wie sie sich in der Ägäis ergeben könnten, verhindern soll. Das Treffen wird nun in Griechenland als falsches Signal kritisiert, zum Teil mit dem Churchill-Wort, dass man ein Krokodil nicht füttern sollte, in der Hoffnung, dass es einen zuletzt frisst.

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