Blickt man in diesen Tagen nach Großbritannien, könnte man durchaus den Eindruck gewinnen, das Land sei eine Bananenrepublik, wäre da nicht die Monarchie, die noch halbwegs funktioniert und die Bezeichnung Republik natürlich unpassend erscheinen lässt. Sonst allerdings sieht es an den Ufern der Themse nicht gut aus. Die Straßen der Hauptstadt, aber auch von einigen Provinzstädten werden durch Massendemonstrationen von Leuten dominiert, die die Regierung dazu zwingen wollen, im Nahostkonflikt die Seite der Palästinenser zu ergreifen. Nicht jeder, der bei solchen Demonstrationen mitläuft, bewundert deshalb die Hamas oder hasst grundsätzlich alle Juden, aber einen unangenehmen Unterton gibt es doch. Vor allem aber haben jetzt viele nicht-muslimische Briten den verständlichen Eindruck, dass ihre Hauptstadt von Kräften übernommen und dominiert wird, die sie als fremd und bedrohlich empfinden.
Noch problematischer ist der Umstand, dass die in einer lange vergessenen Vergangenheit durchaus respektierte Londoner Polizei alles, wirklich alles tut, um bei solchen Demonstrationen nur ja nichts zu erkennen, was irgendwie ihr Eingreifen erfordern könnte. Kinder treten kostümiert auf wie die Kämpfer der Hamas: Kein Problem – freundliche Polizisten machen mit ihnen zusammen ein Foto.
Solche Leute muss man natürlich verhaften, da sind wir uns alle einig. Aber eine Kalifatsfahne oder Symbole der Hamas oder ein Aufruf zum Djihad? Muss man ganz gelassen sehen, schließlich kann mit Djihad auch einfach das Streben nach sittlicher Vollkommenheit und einem erfüllten Leben gemeint sein, wie uns die Londoner Polizei, die sich da in der Tat sehr gut auskennt, und sich von diversen „community leaders“ beraten lässt, wissen ließ. Diversity is our strength, Vielfalt ist unsere Stärke, das ist auch hier das Motto.
Der britischen Innenministerin Suella Braverman, deren eigene Vorfahren aus Goa und aus Mauritius stammen, gefiel dieser Laissez-faire-approach freilich nicht, und sie war verwegen genug, das auch laut zu sagen und zwar in einem Artikel in der Times. Das war vielleicht nicht das ideale Forum, denn im Prinzip ist sie ja eine Vorgesetzte des Londoner Polizeichefs, mit dem sie auf dem Dienstweg kommunizieren kann, auch wenn dieser eine gewisse Unabhängigkeit genießt und zudem auch dem Bürgermeister Khan, der auf der Seite der Pro-Palästina-Demonstranten stehen dürfte (das sind schließlich seine Wähler) verantwortlich ist. Und sicher, Braverman ist eine Hardlinerin, die gerne den Konflikt an möglichst vielen Fronten sucht.
Dennoch ist es bemerkenswert, dass Premierminister Sunak sie umgehend feuerte. Braverman, die nie dafür bekannt war, sich zurückhaltend zu artikulieren, wenn sie gereizt ist, antwortete auf ihre Entlassung, die sie vielleicht sogar bewusst provoziert hatte, um Sunak als Parteiführer nach der nächsten Wahl beerben zu können, mit einem Schreiben an den Premier, das in einer Sammlung grober Briefe auf jeden Fall einen Ehrenplatz erhalten würde.
Damit ist es Braverman zumindest gelungen, die unkontrollierte Immigration wieder zu einem zentralen politischen Thema zu machen, obwohl diese in Großbritannien einen viel geringeren Umfang hat als bei uns (dafür gibt es deutlich mehr Arbeitnehmer, die legal mit einem Visum einreisen). Sunak reagierte darauf weitgehend hilflos. Einerseits verspricht er jetzt, dass er einen Weg finden werde, sich über das Urteil des Obersten Gerichtes hinwegzusetzen – was kaum aussichtsreich sein dürfte –, andererseits hat er sein Kabinett umgebildet und David Cameron, den am Brexit-Votum gescheiterten Premier in die Politik zurückgeholt.
Cameron ist jetzt der neue Außenminister. Weil er keinen Sitz im Unterhaus mehr hat, musste man ihn zu diesem Zweck adeln und zum Mitglied des Oberhauses machen (als Lord Cameron of Chipping Norton), ein ungewöhnlicher Schritt. Die Ernennung Camerons wird der rechte Flügel der Tories freilich als Kampfansage verstehen, noch mehr als die Entlassung von Braverman, denn Cameron gilt als Gegner des Brexit und ein Politiker, der die Tories als Partei zur linken Mitte hin geöffnet hat; ein Stück weit in der Sicht seiner Gegner das englische Gegenstück zu Merkel, auch wenn man ihm damit wohl unrecht tut, aber die konservativen Medien stellen seine Rolle nun einmal so dar.
Sunak muss eine zutiefst zerrissene Partei führen
Sunak selbst wirkt persönlich eigentlich eher sympathisch, aber ihm hängt der Ruf an, elitär zu sein und eher ein Technokrat als jemand, der sich stark von weltanschaulichen Motiven leiten lässt. Durch das Vermögen seiner Frau ist er unendlich reich und als Absolvent einer führenden Privatschule (Winchester) besitzt er, obwohl Kind von indischen Immigranten aus Ostafrika durchaus ein wenig den Habitus der alten englischen Elite, auch wenn Winchester College zuletzt 1804 einen Premierminister gestellt hat und sonst eher für die Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten unter seinen Absolventen bekannt ist.
Das Chaos ist vorprogrammiert, und da die Tories sich seit 2016 ohnehin vorwiegend darauf konzentriert haben, sich selbst zu zerfleischen, kann es nur noch schlimmer werden. Zusätzlich beeinträchtigt die eher schlechte Wirtschaftslage in Verbindung mit hoher Inflation und der Wohnungsnot (auch zum Teil eine Folge der allerdings überwiegend legalen und politisch durchaus gewollten Massenimmigration) die Wahlchancen der Tories, die sich in einer tiefen Identitätskrise als Partei befinden. Von daher sind die Chancen von Sunaks Kabinett, den Preis für die hilfloseste Regierung mit den schlechtesten Zukunftsaussichten in Europa zu erhalten, gar nicht schlecht. Wäre da nicht die Konkurrenz aus Deutschland, die Sunak in letzter Minute den ersten Platz streitig machen könnte.
Die deutsche Regierung kann mit der englischen durchaus mithalten, wenn es um Überforderung und Sehnsucht nach dem Untergang geht
Scholz und seinem Kabinett muss man zubilligen, dass sie von Anfang an systematisch ein groß angelegtes Projekt der Selbstversenkung verfolgt haben und sich auch nie davon haben abbringen lassen. Da war und ist zum einen die Energiepolitik, die trotz des Wegfalls russischer Gaslieferungen am radikalen Ausstieg aus der Kernkraft festhielt, und damit den Trend zur Deindustrialisierung Deutschlands, der freilich schon vor 2020 eingesetzt hatte, beschleunigt. Hinzu kommt eine Wohnungsbaupolitik, die die ohnehin bestehende Krise der Baubranche durch zu strenge Auflagen verstärkt hat und daher zu immer mehr Wohnungsnot in Deutschland führt. Nicht vergessen darf man die Immigrationspolitik. Sicher ist unter den Rechtsbedingungen, die die EU unter deutscher Mitwirkung geschaffen hatte, Migration generell nur sehr schwer zu steuern und zu kontrollieren, aber die Regierung Scholz hat das Thema lange Zeit komplett tabuisiert und die Anreize für eine reine Armutsmigration sogar noch maximal erhöht.
Dazu kommt eine unsolide Finanzpolitik, die an allen Stellen auf hohe Mehrausgaben setzt, bei Subventionen ebenso wie beim Sozialstaat, etwa beim Bürgergeld, aber eigentlich nicht weiß, woher sie das Geld nehmen soll. Dieser Politik hat das Verfassungsgericht jetzt einen Knüppel zwischen die Beine geworfen. Die deutsche Schuldenbremse ist mit hoher Sicherheit weitgehend unsinnig, weil wir im Euro direkt oder indirekt ohnehin für die Schulden der anderen Mitgliedsstaaten haften. Unsere Schuldenbremse wird Länder wie Frankreich oder Italien nur dazu ermutigen, noch mehr Schulden zu machen als ohnehin schon, weil es ja ein großes dummes Land gibt, das dennoch die relative Stabilität des Euro garantiert. Machen wir selbst weniger Schulden, führt das nur dazu, dass wir mehr Transferzahlungen leisten müssen oder von der Entwertung der Schulden durch eine Politik der finanziellen Repression, wie sie die EZB bis vor kurzem verfolgt hat, und sicher bald wieder aufnehmen wird, weniger profitieren als andere.
Aber die Schuldenbremse steht nun mal in der Verfassung und ohne die Mitwirkung der CDU kann die Regierung das nicht ändern. Für eine solche Aufhebung oder Lockerung der Schuldenbremse wird sich die CDU kaum hergeben, solange sie in der Opposition sitzt. Das hätte man vorher wissen können. Das Bestehen Karlsruhes auf strikter Anwendung der Schuldenbremse, hätte man also zumindest als Möglichkeit einkalkulieren müssen. Da man das nicht getan hat, schaut man jetzt in den fiskalpolitischen Abgrund, zumal die Neigung der FDP, als Partei Selbstmord zu begehen, zwar ohne Zweifel lobenswert groß ist, aber vielleicht doch nicht groß genug, um drastischen Steuerhöhungen auf Kosten ihrer eigenen Wähler – viele gibt es davon ja nicht mehr – zuzustimmen.
Im Vergleich zu Sunak besitzt Scholz weitaus größere Fähigkeiten zur Selbsthypnose
Wie reagiert der Kanzler auf diese Serie von Katastrophen? Seine Bewunderer – sie stellen allerdings mittlerweile eine eher seltene Spezies von Zeitgenossen dar, die vom Aussterben bedroht ist – werden ihn als großen Stoiker feiern, der in jeder Situation einen kühlen Kopf behält. Weniger freundlich Gesinnte werden eher den Eindruck haben, dass er sich in eine Traumwelt flüchtet, in der bloße Worte die politische Realität verändern können, so dass es reicht, etwas anzukündigen, um tatsächlich etwas zu erreichen: Ich rede von einem neuen Wirtschaftswunder und im Nu sind die meisten ökonomischen Probleme verschwunden. Ich spreche von einer Wende in der Flüchtlingspolitik und plötzlich werden die Zahlen geringer, und ich erkläre, dass die Schuldenbremse kein großes Problem ist, und siehe an, schon ist genug Geld da. Von daher könnte man fast vermuten, dass Scholz ein magisches Weltbild hat und sich selbst in der Rolle eines Herrschers mit charismatischer Kraft sieht, der die Kräfte des Himmels in seinen Dienst stellen kann, so wie einst der chinesische Kaiser.
Diese Kraft der Selbsthypnose dürfte Sunak dann doch fehlen, dazu ist er zu nüchtern, und das dürfte der entscheidende deutsche Joker im großen Finale des Kampfes um die Auszeichnung für die dysfunktionalste und schwächste Regierung in Europa sein. Sicher, Sunak hat mit seiner Kabinettsumbildung und durch das generelle Bild der Ratlosigkeit, das er bietet, die Latte in diesem harten Kampf hoch gelegt, aber am Ende können wir Deutschen doch noch Hoffnung haben.
Hier gilt eben ein letztes Mal: Vorsprung durch Technik, auch wenn davon in der Industrie nicht mehr viel zu spüren ist. Und bei der Kunst, sich selbst und das ganze Land gegen die Wand zu fahren, haben deutsche Regierungen phasenweise in der jüngeren Geschichte ja auch wirklich immer wieder beeindruckendes Talent gezeigt, und die jetzige Regierung scheint entschlossen, an diese große Tradition anzuknüpfen. Damit könnten wir den britischen Wettbewerber vielleicht doch noch aus dem Rennen schlagen. Wir können jedenfalls zuversichtlich sein.