Viel war darüber gesprochen, debattiert und spekuliert worden, ob der türkische Präsident Erdogan in dieser Situation, vor allem nach seiner Stellungnahme zum Gaza-Kriegs in Istanbul überhaupt nach Berlin hätte kommen sollen. Die kritische Masse war aber nicht erreicht. Nicht einmal Josef Schuster hatte eine Absage gefordert. So blieb es bei dem Besuch, der allenfalls etwas heruntergestuft wurde. Das Fußballspiel zwischen der deutschen und der türkischen Mannschaft sah man sich dann doch nicht zusammen an. Das hätte nämlich zu protokollarisch heiklen Fragen geführt, wer sich neben Erdogan setzen und das Spiel mit ihm feiern sollte. Diese Bilder wollte man nicht erzeugen, sondern andere.
Und so kam es zu zwei So-gut-wie-nicht-Begegnungen. Erdogan lächelte kurz, als er vor dem Schloss Bellevue aus dem Auto stieg, Frank-Walter Steinmeier verzog keine Miene. Man hatte das Gefühl, er zeigte dem Gast nur den Weg zur Haustür und führte ihn dann zum Gästebuch. Aber gesprochen hat Steinmeier, wenn, dann nur im Verborgenen mit Erdogan.
Die Kommentierung des Besuchs, die nun einsetzte, hatte häufig etwas Barockes, zumal wo es um die Migrationspolitik ging, um die bestehende „gemeinsame Erklärung“ von 2016, die ja nicht mehr so recht funktioniere und vielleicht durch ein neues Abkommen ersetzt werden sollte. Davon hätte vor allem Deutschland etwas, und daher ist klar, wer in diesem Fall mehr zahlen müsste. Genauso gut könnte man das Geld natürlich in Grenzschutz an den EU-Außengrenzen stecken. Dann wüsste man etwas besser, was man dafür kriegt. Aber das Kommentariat ist der Meinung, hier habe Erdogan einen Trumpf im Ärmel und damit eine Daseinsberechtigung in Berlin.
Eine halbe Stunde Nebeneinander
Olaf Scholz wartet im Berliner Novemberwetter auf Erdogan und lächelt etwas angespannt, als er den Präsidenten empfängt. Man schüttelt Hände und geht sofort zu den im Innern des Kanzleramts aufgestellten Redepulten, wo dann die Pressekonferenz stattfindet (es gab aber nur zwei Anstandsfragen).
Die folgende halbe Stunde zwischen Erdogan und Scholz ist vom Nebeneinander geprägt. Jeder darf seine Auffassung sagen. Berührungspunkte waren vor allem an zwei Stellen zu sehen, die aber nicht ganz unbedeutend sind. Das Getreideabkommen mit Russland ist der heimliche, gemeinsame Absprungpunkt für Erdogan und Scholz. Für Erdogan gehört es in seine multipolare Ausrichtung light, denn natürlich mache auch die Türkei einen Unterschied zwischen Ukraine und Russland, rede aber weiterhin mit beiden.
Als der dpa-Journalist im Anschluss seine ultrakritische Frage stellt, in der er Erdogan nach seinen Worten über den Gaza-Konflikt fragt, ihm ein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels abverlangt, ihn nach dem „Faschismus“ Israels, dem Völkermordvorwurf und dem Stichwort „Befreiungsorganisation“ (das soll die Hamas sein) befragt, antwortet Erdogan auf diese selbst ziemlich vorwurfsvolle Kaskade exakt nichts. Er redet lieber noch einmal vom Getreideabkommen. Außerdem sollte sich der Journalist doch einmal bessere, „menschlichere“ Fragen überlegen.
Erdogan wirbt erst für Gaza, dann für sich selbst
Auch Scholz belobigte seinen Gast mindestens zwei Mal für sein Getreideabkommen, als ob von dieser Sache allein der Weltfrieden abhinge. Erdogans Rede war daneben eine fast reine Werberede. Er warb allerdings für verschiedene Dinge: Erst ging es um mehr Verständnis für die Sache des Gazastreifens. Erdogan hielt eine zahmere Version seiner Istanbuler Rede, in der er sich als Anhänger und Verbündeter der Hamas gezeigt hatte, keinen Unterschied zwischen Gaza-Stadt und Adana (einer Stadt im Süden der Türkei) erkennen wollte und folglich mit einem Militäreinsatz im Gazastreifen drohte – eine Ankündigungspolitik, zu welcher der Präsident schon seit längerem neigt, die er aber in Syrien, dem Irak, Libyen und Armenien auch vorexerziert hat, um von der anhaltenden Besetzung des nördlichen Teils der Insel und Republik Zypern zu schweigen.
Erdogans Motto in jenem Istanbuler Redeabschnitt war gewesen: „Wir können über Nacht kommen“, und das sollte offenbar die nicht ermüdende Einsatzbereitschaft der türkischen Streitkräfte bedeuten. Solche Spitzen ließ Erdogan in Berlin wohlweislich weg. Das hätte die Gesprächsatmosphäre gestört. Laut neueren Berichten ist die Türkei aber durchaus finanziell in den Gaza-Konflikt involviert. Sie beherbergt Hamas-Anführer und organisiert Geldflüsse, vielleicht sogar über deutsche Banken oder deutsche Filialen türkischer Banken. Die Hamas hat Erdogan in dieser Rede als „Befreiungsbewegung“ bezeichnet, Israel hingegen als Besatzer und Terrorstaat. In Berlin schwieg man darüber. Scholz sprach nur über die eigene Position Deutschlands, kommentierte seinen Gast so wenig, wie es sich gehört. Es ist ja grässlich genug, wie alle möglichen Phoenix-Moderatoren ihren befragten Gästen am Ende immer noch einmal über den Mund fahren, damit die Welt die ‚Wahrheit‘ höre.
Auf der einen Seite stand nun also dieser treueste aller treuen Muslimbrüder, Erdogan, auf der anderen Seite Bundeskanzler Olaf Scholz von der SPD, der die Sicherheit Israels als „deutsche Staatsräson“ bezeichnet hatte. Ob aus dieser Behauptung – geerbt aus der Konkursmasse Angela Merkels – irgendetwas von Bestand folgt, national oder international, ist immer noch unklar.
Was stand auf dem Programm?
Auch in Berlin ließ Erdogan es sich nicht nehmen, seinen Vortrag mit Gaza zu beginnen und ihn mit Gaza zu beenden. Dabei zeigte er – wie üblich – keine Hemmungen, alle Register zu ziehen, die ihm momentan nützen: Der 7. Oktober werde immer als Anfang dargestellt (sei es aber vielleicht nicht, sollte man offenbar ergänzen). Israel verteidige sich seitdem und sei viel stärker als die Hamas, habe vielleicht sogar Atomwaffen. Erdogans Hauptforderung in diesem Komplex ist die nach einer humanitären Waffenpause, offenbar für länger als einen Vormittag. Später spricht er auch von zerstörten Moscheen und Kirchen, nur dass sich im Gazastreifen Terroristen verschanzt haben, das kommt ihm nicht über die Lippen. Von der Hamas will er nicht sprechen. Stattdessen ging er lieber auf die palästinensischen „Geiseln“ der Israelis ein. Dabei handelt es sich allerdings um inhaftierte oder verurteilte Terroristen, die Erdogan derart mit unschuldigen Zivilisten gleichsetzt.
Diese Fehldarstellung bleibt unwidersprochen. Scholz hatte das Detail vielleicht nicht parat. Außerdem sollte das Vortreffen ja optimistisch enden, die eigentliche Arbeit stand noch bevor. Laut Scholz erwartete die beiden Staatsmänner ein „volles Programm“, was wohl noch einmal die Einladung des Präsidenten erklären sollte: Man hatte zu tun und wollte sich nicht ablenken lassen. Aber was stand nun eigentlich auf dem Scholz-Erdogan-Programm?
Vermutlich ging es wirklich um die Bezahlung (in der einen oder anderen Form) für das fortgesetzte Ausbleiben von Fake-Flüchtlingsströmen aus der Türkei. Und das war der zweite Berührungspunkt des Gesprächs. Heiß im Kurs stehen da die Visa-Erleichterungen für Türken. Angeblich, so hörte man im Laufe des Abends, stellte die Erlangung eines Visums neuerdings ein Problem für Türken dar, die ein „Unternehmen“ in Deutschland hätten. Das Eigenkapital sei zu gering, würden deutsche Behörden da sagen. Vielleicht gibt es aber auch gute Gründe, so ein Visum zu verweigern? So setzt sich die Journaille dafür ein, dass die deutsche Visa-Vergabepraxis nicht so streng verläuft, wie Behörden sie betreiben. Und die Politik wird vielleicht bald wie aus dem Zauberhut die Lösung ziehen: freie Visa für alle Türken. Oder so ähnlich. Dann müssen sie auch keine Asylanträge mehr stellen (zweiter Platz im Oktober).
Scholz strahlte einen unterschwelligen Stolz aus
Mit Eigen-PR ging es später weiter. Erdogan bot einfach ein neues Getreideabkommen für Afrika an, als man ihn kritisch befragte. So versuchte er, sich mit Klagen (über die Ungerechtigkeit Israels) und Schmeicheln (mit neuen Verhandlungsmöglichkeiten, über die nur er als Putin-Vertrauter verfügt) einen Weg durch diese schwierigen Gespräche zu bahnen. Er wollte dabei, kurz gesagt, alles: ein neues Migrationsabkommen (mit Geldabwurf über der türkischen Staatskasse – Achtung: eine Arbeitsgruppe tagt!), wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschland, Rüstungsexporte ohne Begrenzung, Palästina in den Grenzen von 1967.
Und natürlich sei es eine so phantastische Brücke für die gemeinsamen Beziehungen, dass drei oder mehr Millionen Türken in Deutschland leben. Die fünf oder mehr Millionen Muslime erwähnte Erdogan an dieser Stelle freundlicherweise nicht. Olaf Scholz strahlte derweil eine Art unterschwelligen Stolz aus, dass er diesen schon im Vorhinein vielkritisierten Besuch so stoisch-preußisch durchexerzierte. Ihm war klar, dass er sich damit auf politisches Glatteis begab. Aber das ist ja sein alltägliches Geschäft seit langem. Erdogan könnte ihm nützen, nicht nur, wo es um Getreide aus der Ukraine geht, sondern auch wenn er endlich den Nato-Beitritt Schwedens akzeptieren würde.
Aber auch Scholz hatte durchaus etwas anzubieten, um Erdogan milde zu stimmen, etwa über 160 Millionen Euro deutsche Unterstützung für den Gazastreifen. Deutschland ist einer der größten Geldgeber dort. Hier könnte sich also die Äquidistanz Deutschlands lohnen. Denn die Bundesregierung besteht zwar auf der Solidarität mit Israel, hat sich aber zugleich auch der Palästinenser erbarmt. Erdogan schlug darüber hinaus vor, man könne ja auch einige Verletzte oder Krebspatienten aus Gaza nach Deutschland bringen. Scholz zeigte sich nicht abgeneigt.
Migration: Deutschland möchte zahlen, Erdogan ist bereit zu nehmen
Äquidistanz gab es auch bei einem anderen Thema: Antisemitismus gehe nicht in Deutschland, so Scholz, aber auf der anderen Seite und „zugleich“ wehrte er sich dagegen, fünf Millionen Muslime aus Deutschland zu vertreiben. Der Zusammenschluss der beiden Aussagen ist aufschlussreich: Hatte Scholz etwa durch die Blume gesagt, dass alle fünf Millionen Muslime quasi logischerweise Antisemiten sind? Solche Freudschen Versprecher passieren, aber wenn man den Text vom Blatt abliest wie Scholz, wären sie vielleicht vermeidbar.
Kurzum, der Kanzler sah, dass er und Erdogan zum Teil sehr unterschiedliche Ansichten zum Thema haben, beharrte aber trotzdem auf dem direkten Gespräch. Und diese Stärke war ja eben der Anlass seines Stolzes. Dann kam wieder die Leier von der Fortsetzung der Migrationsabmachungen mit der Türkei, was immer nur bedeutet, dass noch mehr Gelder in dem Land versenkt werden. Scholz mahnte an, dass man wieder über Rückführungen sprechen müsse. Er investiert hier vermutlich an der falschen Stelle.
Dass Erdogan selbst die illegale Migration nicht nur zeitweilig, sondern ständig mutwillig anheizt, durch Partnerschaften und einfach zu erlangende Visa etwa für somalische „Studenten“, spielte natürlich keine Rolle auf diesem glatten Parkett des relativen Wohlgefallens. Doch diese Massenwanderung auf den europäischen Kontinent verläuft eben nicht aus geographischem Zufall auch über Türkei. Vielmehr zeigt sich die Türkei betont offen für muslimische Einwanderer aus vielen Ländern, auch weil die Migranten meist weiter in die EU ziehen wollen. Man wird sie also bei Bedarf leicht los. In dieser Frage ist die Bundesregierung nie ernsthaft mit dem türkischen Präsidenten ins Gericht gegangen. Das ist aber kein Wunder. Die Massenmigration war und ist ja das offizielle Programm der regierenden Parteien.