Bis zu 1000 Menschen kommen pro Tag illegal in Deutschland an. Das gibt das ZDF selbst zu. 1000 pro Tag – das dürfte sich läppern. Wenn man bedenkt, dass die Bürgermeister schon vor Monaten in den Talkshows Sturm gelaufen sind, weil sie über der absoluten Belastungsgrenze angelangt sind, dann will man sich gar nicht vorstellen, wie die Situation heute aussieht. Große Erwartungen wurden dementsprechend an den Bund-Länder-Gipfel gestellt, der nach theatralischen 17 Stunden Sitzung zu einem Ergebnis gekommen ist, das Emilia Fester in einem Instagram-Video fast zum Weinen brachte. Hat Deutschland also doch mal gute Entscheidungen getroffen?
Das will Maybrit Illner auch wissen (wenn auch ohne Heulsusen-Bezug): „Historisch oder halbherzig – was bringt der Ampel-Asyl-Plan?“ war die Frage der Stunde. Die Studio-Besetzung sorgt derweil für ein altes Dilemma. Wir haben mit Cem Özdemir von den Grünen, Stephan Weil von der SPD und Carsten Linnemann von der CDU drei Brillenträger im Rennen, deren Gläser allesamt beschlagen, wenn sie bei der Frage nach dem Verantwortlichen in den Spiegel schauen sollen.
Während die Vertreter der Politik mit mehr Affären zu kämpfen haben als Paris Hilton, wird die Runde durch zwei Frauen außerhalb des Politikbereichts komplett. Die Migrationsforscherin Victoria Rietig mag ein neuer Name sein, doch in ihrer Szene hat sie sich bereits einen Namen gemacht. In ihrer Vita liest man von ihrer Tätigkeit bei der UN, ihrem Master-Studium an der Havard-Universität und ihrer Beratungsarbeit für sämtliche Außenministerien dieser Welt. Die zweite Dame ist Eva Quadbeck, die Chefredakteurin vom „RedaktionsNetzwerk Deutschland“(RND). Angesichts der Tatsache, dass diese Frau schon zahlreiche Male bei Illner eingeladen war und noch nie etwas Originelles gesagt hat, handelt es sich bei ihr wohl um den Notfall-Puffer – zur Not geht eine Vertreterin aus der freien Presse eben immer, auch wenn von ihrer Zeitung noch nie jemand was gehört hat.
Zu Beginn der Sendung hätte ich Victoria Rietig beinahe vorschnell als uninteressant abgestempelt. Doch sie hat tatsächlich ein paar interessante Dinge angesprochen. So zum Beispiel das Phänomen, dass man von Abschiebungen in Deutschland im Grunde nur zwei Arten kennt: der top integrierte Migrant, der abgeschoben wird, und der kaltblütige Straftäter, der hier bleiben darf. „Weil gut Integrierte leichter abschiebbar sind als weniger gut Integrierte.“ Rietig führt das auf ein unfaires Abschiebesystem zurück, das von uneinheitlichen Beschlüssen und Umsetzungen geprägt ist.
Dass diese Fälle endlich Mal im Fernsehen angesprochen werden, ist wichtig. Denn es lässt das Märchen des Fachpersonals so wunderbar auffliegen. Nein, was hat mein Politiklehrer damals von den ganzen zukünftigen Altenpflegern geschwärmt, die wir dank der Flüchtlingskrise haben werden. Das Pflegeproblem wäre gelöst, der demographische Wandel könnte uns nichts mehr anhaben. Und nun? Werden die wenigen Fachkräfte, die wir abbekommen haben, des Landes verwiesen, weil sie zu deutsch geworden sind. Hätten sie statt einer Ausbildung zu machen eine Frau vergewaltigt, dürften sie hier bleiben.
Was ich an diesen Sendungen spannend finde, ist die Parallele zu 2015, die man unweigerlich zieht – und welchen Wandel unsere Gesellschaft seitdem durchgemacht hat. Denn die Tatsache ist: Alle, ob Weil, Özdemir oder Linnemann, wollen Abschiebungen. Und alle sind von 2015 traumatisiert. Es steht ihnen ins Gesicht geschrieben: Jeder von ihnen weiß, dass das ein Fehler war. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mache mir keine großen Hoffnungen. Jeder will Abschiebungen, aber keiner will darüber entscheiden. Bei meiner letzten Zypernreise – wohlgemerkt ein EU-Land – musste ich ingesamt sechs Mal meinen Ausweis an der Grenze vorzeigen. Währenddessen hat Deutschland tausende Menschen aufgenommen, die in keinster Weise überprüft wurden. Und das während eines durch Terroristen ausgelösten Krieges im Nahen Osten, als Geheimdienste bereits gewarnt haben, dass unter den Flüchtlingen auch getarnte Hamas-Terroristen sein könnten.
Nein, wirklich gelernt hat hierzulande keiner. Aber die Stimmung ist anders. Es ist viel mehr sagbar geworden, als es noch vor acht Jahren war. Umso enttäuschender (vorausgesetzt, dass man Erwartungen hatte) war der Auftritt von Carsten Linnemann. Als er das letzte Mal bei Illner war, habe ich ihn gelobt. Nicht wegen seiner Politik oder seinen Positionen, was viele falsch verstanden haben. Ich halte es nur für Teil meines Jobs aufzuschreiben, wer sich in diesen Sendungen objektiv gut schlägt. Schlechte Politik und schlechte Rhetorik gehen nicht unbedingt Hand in Hand, das beste Beispiel dafür ist Obama. Bei seinem letzten Mal überzeugte Linnemann durch Energie und Aggressivität, wodurch es ihm gelang, seine politischen Gegner an die Wand zu reden. Dieses Mal versuchte er das erneut – doch war Özdemir ihm weit überlegen, der sich einfach nicht aus der Ruhe bringen ließ.
Linnemann erinnerte in dieser Sendung mehr an Rumpelstilzchen als an einen Staatsmann. Es schien, als wäre sein aufgebrachter Ton aufgesetzt, weil das das ist, was die Leute von ihm hören wollen – dass mal jemand auf den Tisch haut. Die linken Parteien bieten gerade weiß Gott mehr als genug Angriffsfläche. Schließlich scheitert gerade alles, wofür sie stehen: von der Willkommenskultur bis hin zu Fridays for Future. Das Problem ist nur: Wenn man dann jedes Mal die gleichen Phrasen wiederholt, bis dann auch Illner sagt: „Das haben Sie jetzt schon dreimal gesagt“ – dann kommt das nicht mehr so gut mit dem auf den Tisch hauen. „Wir müssen uns ehrlich machen“, „Wir müssen endlich mal machen“, oder „Wir brauchen einen Wechsel“ – das ist alles nichts, was das konservative Herz höher schlagen lässt. Wer so etwas bewegend findet, schaut auch Wandfarbe beim Trocknen zu – was die übriggebliebene CDU-Stammwählerschaft ganz gut beschreibt.
Fast könnte man Mitleid bekommen, so tragisch ist es mitanzusehen, wie jemand jede Chance von sich schlägt. Nach den antisemitischen Ausschreitungen auf muslimischen Demonstrationen ist aktuell so ziemlich alles erlaubt – mit Habeck angefangen haben sämtliche linke Politiker mit Abschiebungen gedroht. Sätze, für die Merz vor ein paar Wochen noch als Nazi beschimpft wurde, werden heute von Grünen übertrumpft. Doch in seiner Stunde benimmt Linnemann sich wie ein kläffender Chihuahua inmitten von Schäferhunden. Aber vielleicht ist es besser so – wer will schon Merz als Kanzler?