Tichys Einblick
Ist der Verfassungsschutz verfassungswidrig?

Der Inlandsgeheimdienst delegitimiert sich selbst

In einer Demokratie ist der Bürger mit der sogenannten Privatautonomie ausgestattet, abgesichert durch die Grundrechte der Verfassung. Es ist dagegen nicht die Aufgabe des Staates oder seiner Behörden, auch nicht des Verfassungsschutzes, Haltungen zu proklamieren oder Einstellungen zu überprüfen. Von Lothar Krimmel

IMAGO/Future Image

Nun hat es also auch den AfD-Landesverband Sachsen-Anhalt erwischt. Er wurde soeben vom Verfassungsschutz dieses Bundeslandes als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft und ist damit künftig Objekt systematischer Beobachtung seitens der sachen-anhaltischen Schlapphüte.

Selten hat eine solche Nachricht größere Nichtbeachtung hervorgerufen als in einer Zeit, in der das systematische Versagen des Verfassungsschutzes bei der Abwehr linken und islamistischen Terrors derart evident zu Tage getreten ist. Ausweislich der Umfrageergebnisse der AfD gerade in Thüringen und Sachsen-Anhalt scheinen die Einstufungen seitens der „Verfassungsschützer“ von den Bürgern fast schon als Wahlempfehlungen wahrgenommen zu werden.

Daher besteht Anlass, sich näher mit dieser Institution und den dort agierenden Personen zu befassen. Fangen wir einmal an mit Thomas Haldenwang, dem Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz. Dieser hat sein Aufgabenverständnis am 20. Juni 2023 im ZDF folgendermaßen zusammengefasst:

„Nicht allein der Verfassungsschutz ist dafür zuständig, die Umfragewerte der AfD zu senken … Aber wir können die Bevölkerung wachrütteln.“

Selbstverständlich gehört es niemals zu den Aufgaben des Verfassungsschutzes, die Umfragewerte einer Partei zu senken oder die Bevölkerung „wachzurütteln“. Dies verstößt eklatant gegen das Gebot der parteipolitischen Neutralität staatlichen Handelns. Haldenwangs Äußerung verhöhnt zudem das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip und damit gleich zwei Kernbereiche des Grundgesetzes. Es braucht wenig Intelligenz, um zu erkennen, dass man mit derart inakzeptablen Äußerungen die AfD eher stärkt als schwächt.

Am 26. Juni 2023 sagte dann Stephan Kramer, der Präsident des thüringischen Landesamts für Verfassungsschutz, in einem Interview mit dem NDR Folgendes:

„Wir sind bei ungefähr 20 Prozent braunem Bodensatz in der Bundesrepublik.“

Vielleicht kennt Stephan Kramer Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes nicht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Die Herabwürdigung von 16 Millionen Deutschen zum „braunen Bodensatz“ könnte nicht nur geeignet sein, den Tatbestand der Volksverhetzung zu erfüllen. Die entmenschlichende Bezeichnung einer definierten Gruppe von Bürgern verstößt zudem in gravierender Weise gegen das Gebot der Achtung der Menschenwürde und damit gegen einen Kernbereich des Grundgesetzes. Wird Stephan Kramer jetzt seit dem 26. Juni 2023 vom thüringischen Verfassungsschutz als in flagranti erwischter „Bodensatz“ überwacht und seine Partei, die SPD, als Extremismus-Verdachtsfall geführt?

Verengung des Meinungskorridors als Staatsaufgabe?

Zur Einordnung dieser Vorgänge muss man sich zunächst vergegenwärtigen, auf welch schwachen verfassungsrechtlichen Grundlagen ein auf Gesinnungsschnüffelei zugeschnittener Inlandsgeheimdienst in einem demokratischen Rechtsstaat steht.

Das Ausspionieren der Bürger hinsichtlich ihrer Gesinnung ist eigentlich das klassische Kennzeichen von autoritären Regimen und Diktaturen. In Deutschland gehört das Wüten von Gestapo und Stasi zum Allgemeinwissen. Es gibt daher aus gutem Grund keine andere westliche Demokratie, die etwas mit dem deutschen Verfassungsschutz auch nur Vergleichbares aufzuweisen hätte. Dieser Sonderweg wurde und wird in Deutschland mit dem „Nie-wieder-Gebot“ begründet. Man will also mit dem Verfassungsschutz darauf hinwirken, dass sich niemals mehr ein diktatorisches Regime herausbilden kann, das die drei Kernbereiche unseres Grundgesetzes missachtet: die Menschenwürde, das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip.

Um diese drei Kernbereiche geht es daher, wenn der Verfassungsschutz Material gegen die AfD sammelt, um deren Verfassungsfeindlichkeit zu belegen. Wenn man sich nun aber den aktuellen thüringischen Verfassungsschutz-Bericht anschaut, in dem die Belege für die Einschätzung des thüringischen AfD-Landesverbands als „gesichert rechtsextrem“ vorgelegt werden, kommen Zweifel auf, ob das vom Verfassungsschutz Intendierte tatsächlich gelungen ist.

Es ist nämlich mit Sicherheit kein „Verstoß gegen die Menschenwürde“, wenn sich ein Politiker gegen die unkontrollierte Massenimmigration von Wirtschaftsflüchtlingen wendet oder auf die überproportionale Beteiligung von Flüchtlingen an der explodierenden Gewaltkriminalität hinweist. Dagegen sieht der thüringische Verfassungsschutz es als Beleg für den „erwiesenen Rechtsextremismus“ der AfD, dass der thüringische AfD-Chef Höcke etwa nach dem schrecklichen Würzburger Attentat vom 25. Juni 2021, als ein 2015 nach Deutschland eingereister somalischer Täter drei Frauen tötete und weitere fünf Menschen schwer verletzte, Folgendes postete:

„Es interessiert mich nicht, warum der Täter nach Deutschland kam – ob er tatsächlich auf der Flucht war oder hier nur ein besseres Leben suchte. Die Art, wie er die Aufnahme dankte, zeigt: Er gehörte von Anfang an nicht hier hin.“

Im Ergebnis erreicht kaum einer der vorgelegten „Beweise“ das Ausmaß an Menschenverachtung, welches der Behördenchef selbst mit seiner Bezeichnung von Millionen von AfD-Wählern als „braunem Bodensatz“ an den Tag gelegt hat. Der thüringische Verfassungsschutzbericht ist daher eher der eigentliche Skandal. Er erweckt den Eindruck, dass durch die Inkriminierung von Aussagen, die mehr als die Hälfte der Deutschen genau so teilen, der Korridor des Sagbaren und Erlaubten im Sinne einer ebenso lautstarken wie radikalen Minderheit beschnitten werden soll. Und das Ergebnis solchen Tuns ist alarmierend. Denn – offenbar wie gewünscht – geben bei allen entsprechenden Umfragen mehr als die Hälfte der Deutschen an, dass sie inzwischen Angst haben, ihre Meinung frei zu äußern.

All dies zeigt, dass die Aktivitäten eines auf politische Einstellungen gerichteten Inlandsgeheimdienstes hochproblematische Aufgabenbereiche betreffen und sogar selbst zur Bedrohung für die freiheitliche demokratische Grundordnung und den demokratischen Rechtsstaat werden können.

Das Grundgesetz ist ein Tugendkatalog für den Staat, nicht für den Bürger

Wie in allen anderen westlichen Demokratien gäbe es auch in Deutschland keine rechtsstaatliche Lücke, wenn man auf einen Verfassungsschutz deutscher Ausprägung verzichten würde. Denn wenn die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet wird, dann ist die Polizei zuständig. Und wenn dies im Rahmen einer Straftat geschieht, ist die Staatsanwaltschaft zuständig, bei politischen Straftaten der Staatsschutz.

Der Verfassungsschutz ist dagegen zuständig für Bespitzelung und Bloßstellung von Bürgern, die weder die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedrohen noch Straftaten begangen haben. Damit ist der Verfassungsschutz selbst ein institutioneller Verstoß gegen das Demokratieprinzip, wonach sich die Gesellschaft zwanglos und frei von unten nach oben organisieren soll.

Denn die Verfassung in demokratischen Rechtsstaaten stattet den Bürger mit einer vorrechtlich gedachten Freiheit aus, der sogenannten Privatautonomie. Der Wahrnehmung dieser Privatautonomie dienen die Grundrechte der Verfassung. Es ist dagegen nicht die Aufgabe der Verfassung, des Staates oder seiner Behörden, irgendwelche Haltungen zu proklamieren oder Einstellungen zu überprüfen.

Überhaupt ist Verfassung stets staatsgerichtet, das heißt, ihre Gebote richten sich immer nur an den Staat und nicht an den Bürger. Der einzelne Bürger kann daher per definitionem niemals etwas Verfassungswidriges tun oder sagen. „Verfassungswidrig“ redet oder handelt also nicht der einzelne Bürger, sondern höchstens eine politische Partei oder aber der Staat selbst, zum Beispiel über das zunehmend verfassungswidrige Gebaren eines gegen das Demokratieprinzip agierenden Verfassungsschutzes. Wenn dennoch in Verfassungsschutzberichten immer wieder behauptet wird, ein Bürger oder Politiker habe etwas Verfassungswidriges gesagt, so zeigt dies nur die gravierende juristische Inkompetenz des Verfassungsschutzes. Dies ist ein Indiz dafür, dass dort politische Agitation immer mehr den juristischen Sachverstand ersetzt.

Es fällt zudem auf, dass die Verfassungsschutzbehörden zunehmend versuchen, das Grundgesetz umzudeuten. Das Grundgesetz soll nicht länger ein Tugendkatalog für den Staat sein, sondern nunmehr ein Tugendkatalog für den Bürger. Der Verfassungsschutz selbst missbraucht damit das Grundgesetz in einer den Rechtsstaat destabilisierenden Weise dazu, dem Bürger Angst vor dem Staat zu machen, obwohl es – um in diesem Sprachbild zu bleiben – das einzige Ziel des Grundgesetzes ist, dem Staat Angst vor dem Bürger zu machen.

Der Verfassungsschutz auf dem Weg zur Delegitimierung

Ein weiteres Beispiel für das zunehmend irrlichternde Agieren des Verfassungsschutzes ist seine neueste Erfindung: die „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Nicht nur, dass sich schon das Wortungetüm wie eine Gummiparagraphen-Erfindung aus dem Instrumentenkasten der Stasi anhört; auch die Gedankenwelt, die hinter einem solchen Tatbestandskonstrukt steht, hat in einem demokratischen Rechtsstaat nichts zu suchen.

Denn die „Delegitimierung des Staates“ ist nicht nur die Hauptaufgabe eines guten politischen Journalisten, sondern auch das Grundrecht jeder parlamentarischen Opposition. Daher bleibt der Eindruck: Hier wollen sich politische Agitatoren Rechtfertigungsmittel für eine verfassungswidrige Jagd auf oppositionelle Aktivitäten jedweder Art zurechtlegen. Spätestens mit dieser demokratiefeindlichen Erfindung ist der Verfassungsschutz auf dem besten Weg, sich selbst zu delegitimieren.

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