Vor mehr als 13 Jahren legte Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“ vor. Daraufhin wurde er beschimpft, ausgegrenzt und aus seiner Partei ausgeschlossen. Die damalige Bundeskanzlerin nannte das Buch „nicht hilfreich“. Es waren die ersten Ausprägungen der „Cancel Culture“, die später den politischen Diskurs grundlegend vergiften sollte. Doch nun wird ihm öffentlich Recht gegeben. Friedrich Merz, der Vorsitzende der CDU, meint, dass die SPD und seine eigene CDU besser auf Sarrazin hätten hören sollen. Roland Tichy konnte Thilo Sarrazin interviewen. Tichys Einblick präsentiert Auszüge aus dem Gespräch. Das ganze Videointerview finden Sie hier.
Tichys Einblick: Herr Sarrazin, ihr jüngstes Buch hat den Titel „Der Staat an seinen Grenzen“. Auch dieses Thema behandelt das Thema der Migration. Wie fühlt man sich, wenn man so viele Jahre später plötzlich bestätigt kriegt, dass man doch Recht hatte? Sechs Bücher später?
Thilo Sarrazin: Es ist ja so. Ich habe Menschen, die das, was ich schreibe, inhaltlich teilen. Ich habe sachliche Kritiker, die sich immerhin mit meinen Argumenten auseinandersetzen und diese zurückweisen. Das ist ja auch okay. Und dann gibt es welche, die nichts von mir lesen, aber meine Gedankengänge und die Gedankengänge vieler anderer, welche ähnlich denken, aus Prinzip ablehnen.
Diese drei Gruppen, die wechseln in ihrer öffentlichen Prominenz immer mal wieder. Und im Augenblick sehe ich eine Tendenz in Deutschland, dass man doch das Thema Migration wieder ernster nimmt. Das ist ein Thema, welches ja wirklich die vergangenen Wahlen maßgeblich bestimmt hat, welches den Aufstieg der AfD maßgeblich bestimmt hat. Migration ist auch ein wesentlicher Treiber für die neue Partei von Sahra Wagenknecht. Die herrschende Politik im Sinne der Ampel ist mittlerweile in Deutschland in einer absoluten Minderheitenposition. Und ich finde es gut, wenn die größte Oppositionspartei sich den Gedankengängen, die ich und nicht nur ich vertrete, da jetzt offenbar stärker öffnet.
Der Höhepunkt der Gegnerschaft gegen Sie war der Migrationspakt, dem ja auch die Bundesrepublik beigetreten ist. Da steht in der Präambel: „Migration war schon immer Teil der Menschheitsgeschichte und wir erkennen an, dass in unserer globalisierten Welt eine Quelle des Wohlstands, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung darstellt.“ Diese Meinung teilen Sie vermutlich nicht und wenn wir nach Berlin und Neukölln schauen, dann hat man ja auch seine Zweifel.
Also richtig ist: Es hat Migration immer gegeben, denn die Menschen fliehen eben dorthin, wo sie sich ein besseres Los erhoffen. In „Der Staat an seinen Grenzen“, habe ich mich auch damit beschäftigt. Blickt man auf die gesamte Menschheitsgeschichte, ist Migration letztlich aber auch eine Quelle von Gewalt, von Völkermord, von Unrecht, vom Untergang ganzer Völker. Migration nutzte in der Menschheitsgeschichte, wenn sie jemandem nutzte, vorwiegend denen, die da wanderten und vorwiegend denen nicht, in die eingewandert wurde.
Sie schreiben in Ihrem Buch sogar, die Einwanderungsgeschichte sei eine Kriegsgeschichte. Ist das nicht eine zu scharfe Formulierung, wenn man bedenkt, dass wir in Deutschland eine Gastarbeiter-Migration seit etwa 1966 haben und diese lange Jahrzehnte sicherlich sehr positive kulturelle wirtschaftliche Effekte hatte?
Es gibt natürlich friedliche Zuwanderung. Die Zuwanderung der Juden aus Osteuropa nach Mitteleuropa im 18. und 19. Jahrhundert war friedlich. Die Zuwanderung von Hugenotten, die aus Frankreich vertrieben wurden nach Brandenburg, war friedlich. Aber es gilt eben gleichwohl, dass Migration in der Menschheitsgeschichte weit überwiegend mit Krieg, mit Gewalt, auch mit Völkermord verbunden ist und immer wieder große Spannungen verursacht hat. Ich bin keiner, der jetzt jede Art von Migration absolut verteufelt. Jeder indische Software-Ingenieur, der nach Deutschland kommt, ist aus meiner Sicht hochwillkommen. Aber es geht eben nicht der umgekehrte Weg, dass man Migration generell verherrlicht und so tut als ob Migration als solche ein Fortschritt für die Menschheit sei. Das ist sie nicht, sondern eher das Gegenteil.
Eigentlich haben wir in Deutschland durchaus eine positive Geschichte der Einwanderung erlebt. Wir haben die Einwanderung aus Ungarn erlebt, wir haben die deutsche Einwanderung der Vertriebenen erlebt, aus Osteuropa. Wir haben die Gastarbeiter-Zuwanderung erlebt, die nicht ganz konfliktfrei war, aber insgesamt das Land verändert hat. Wie ist es zu dieser positiv werdenden Zuwanderung gekommen?
Die 13 Millionen Deutschen, die aus Osteuropa und aus Ostmitteleuropa vertrieben wurden und nach Deutschland kamen: Wir haben dies mit Millionen von Toten bezahlt. Es gab Hunger, es gab Anpassungsprobleme, es gab Anfeindungen und es ist eine große Leistung der aufnehmenden Gesellschaften in beiden deutschen Staaten, dass sie das so geschafft haben.
Die ungarische Einwanderung nach dem Aufstand in Ungarn war die Einwanderung einer kleinen geistigen Elite. Und die Einwanderung der Gastarbeiter ab Anfang der Sechzigerjahre muss man sich sehr differenziert anschauen. Die Italiener, die Spanier, die Portugiesen, die gingen nach dem Aufschwung in ihren Heimatländern im Wesentlichen auch in ihre Heimatländer zurück. Wer hier blieb, das waren die Einwanderer aus muslimischen Ländern, aus der Türkei, auch aus Marokko. Und die haben eben schon in den 70er Jahren mit dem Aufbau von Parallelgesellschaften begonnen und viele der Spannungen, die wir heute in Deutschland haben, beginnen mit dieser Einwanderung. Es ist ja interessant zu sehen, dass nach der Statistik des Statistischen Bundesamtes die Millionen Türken, die keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, im Durchschnitt 47 Jahre alt sind und seit 31 Jahren in Deutschland leben.
Aber es ist eben auch dann bestürzend zu sehen, dass von Ihnen 60 Prozent den Antidemokraten Erdogan wählen, also offenbar nicht in der deutschen demokratischen Mehrheitsgesellschaft angekommen sind. Und das ist eben das Problem. Genau das sehen wir jetzt ja auch bei den aktuellen tragischen Ereignissen rund um Israel. Genau wie in anderen europäischen Ländern haben wir auch in Deutschland breite Sympathiebekundungen gehabt von Freunden der Palästinenser, welche sich häufig dann auch als Islamisten zeigten und zur Gewalt neigten.
In Gesprächen mit Vertretern der türkischen Gemeinschaft hört man immer wieder, dass viele Türken zurückwandern in die Türkei, weil dort die Schulen besser, die öffentliche Sicherheit höher und der Friede auf den Straßen besser seien. Das heißt, wir erleben geradezu eine Rückwanderung gebildeter Türken in die Türkei vor der neuen arabischen, nordafrikanischen und afghanischen Masseneinwanderung. War die bedingungslose Grenzöffnung durch Merkel 2015 ein Kipppunkt?
Ja, das ist eine qualitative Veränderung. Mit den Gesellschaften der Gastarbeiter und ihrer Kinder und ihrer Nachzügler hatten wir Probleme, die ich ja auch in „Deutschland schafft sich ab“ geschildert habe. Parallelgesellschaften, Ehrenmorde und vieles andere mehr. Natürlich gibt es auch einen Teil der türkischen Einwanderer, der sich bei uns gut integriert hat und auch wirtschaftlich erfolgreich ist. Seit dem Jahr 2014 haben wir jetzt eine dazu qualitativ unvergleichbare Masseneinwanderung. Die Zahl der Ausländer in Deutschland hat sich seit 2014 um über fünf Millionen Menschen erhöht. Das sind nicht alles Asylbewerber, aber immerhin unter ihnen 2,4 Millionen Asylbewerber. Und diese kommen eben aus Ländern, die zum größten Teil einem konservativen Islam anhängen und in vieler Hinsicht vormoderne Strukturen haben. Ich nenne Afghanistan, ich nenne die afrikanischen Länder Eritrea, Somalia. Und so weiter. Das erhöht die Spannungen in unserer Gesellschaft.
Seehofers Begriff von einer „Herrschaft des Unrechts“ beschreibt, wie das Asylrecht systematisch missbraucht wird. Wir haben eigentlich ein relativ strenges Asylrecht. Es schützt Menschen bei individueller Verfolgung aus politischen Gründen. Und wir wissen, dass viele Asylbewerber ihre Identität verschleiern, ihre Pässe wegwerfen und offenkundigen Missbrauch betreiben. Wieso duldet Deutschland das?
Das ist eine Frage, die man der politischen Klasse stellen muss. Man kann zunächst unser Asylrecht falsch finden, was ich finde. Ich halte es für hochgradig reformbedürftig. Aber wenn man sich jetzt anschaut, was aufgrund dieses falschen Asylrechts entschieden wurde, so gab es in den letzten acht Jahren 2,1 Millionen Entscheidungen zu Asylverfahren. Und am Ende blieb trotz unseres falschen Rechts übrig, dass in 850.000 Fällen ein Asylanspruch abgelehnt wurde, weil er offensichtlich unbegründet war. Tatsächlich haben wir in dieser ganzen Zeit bei 850.000 unbegründet Anwesenden in der Summe 142.000 Abschiebungen gehabt. Im letzten Jahr waren es nur 11.000. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres waren es waren knapp 8.000. Das zeigt einfach, dass der Staat seine Aufgaben nicht bewältigt. Und das ist schlimmer als eine Herrschaft des Unrechts. Es ist eine Herrschaft der Verantwortungslosigkeit und Inkompetenz.
Olaf Scholz fehlt die politische Kraft, die Situation zu verändern, selbst wenn er es will. Wird das Land das überleben können?
Wissen Sie, der Übergang von einer funktionierenden westlichen Demokratie mit großen Wohlstand zu einem sogenannten „failed State“ ist lang und weit. Bei uns ist es besser als in Serbien. In Serbien ist es besser als im Libanon. Und im Libanon ist es besser als in Somalia und in Somalia besser als in Haiti. Sie können jetzt auf einer gleitenden Skala wählen.
Aber richtig ist, wenn ein Land und eine Gesellschaft mal absinkt, anfängt abzusinken, gibt es für das Absinken keine natürliche Untergrenze.
Nun behaupten insbesondere Politiker der Grünen, man bräuchte unbedingt diese Fachkräfte-Zuwanderung, damit unsere Renten und Pension bezahlt werden können. Ist die derzeitige Zuwanderungspolitik geeignet, die demographischen Probleme dieses Landes zumindest zu lindern oder verschärft sie vielleicht sogar die Probleme des Sozialstaats?
Ich habe ja bereits gesagt, dass ich nichts habe gegen den indischen Software-Ingenieur, der hier direkt zu BASF geht oder sonst etwas. Wir müssen aber erkennen, dass die Einwanderung, die wir oft auf dem Weg des Asyls in den letzten neun Jahren hatten, zu ganz großen Teilen niemals in das deutsche Arbeitsmarkt-System zu integrieren sein wird, außer vielleicht als ungelernter Arbeiter. 70 Prozent haben nicht das, was unser Hauptschulabschluss wäre, sie haben keine Ausbildung. Aber auch für ungelernte Arbeiter haben wir immer weniger Stellen. Und tatsächlich wird ein Teil von ihnen die Integration schaffen und das ist ja auch positiv. Aber ein ganz großer Teil wird es eben nicht schaffen und in der Summe kostet diese Gruppe der Volkswirtschaft und uns als Gesellschaft mehr als diese Gruppe ihrerseits an der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Werten schafft. Das ist ein Problem und das war es auch schon mit den Gastarbeitern. Wenn man sich die gesamte Gastarbeiter-Politik seit Anfang der 60er Jahre anschaut, muss man sagen, dass uns die Türken und Araber so willkommen sie im Einzelnen waren, in der Summe, einschließlich der Sozialleistungen, mehr gekostet haben und bis heute kosten, als sie jemals an deutscher Wertschöpfung erbracht haben.
Nun haben Sie ja 2010 „Deutschland schafft sich ab“ geschrieben. Hat es sich jetzt abgeschafft? Müssten Sie ein Buch vorlegen mit dem Titel „So hat sich Deutschland abgeschafft“?
Mein letztes Kapitel in diesem Buch heißt „Deutschland in 100 Jahren“. Und da sage ich, dass deutsche Staatsgebiet liegt in der Mitte Europas. Es hat ein angenehmes Klima. Menschen werden hier immer leben und das gilt auch in Zukunft. Es werden nur keine Deutschen mehr sein.
Vielen Dank, Herr Sarrazin, für dieses wirklich bedrückende, aber sehr informative und sachliche Gespräch.
Das ganze Gespräch mit Thilo Sarrazin finden Sie auf dem Tichys Einblick You-Tube Kanal: