Herr S. war eine wohltuende Abwechslung unter den Lehrern. Er regte sich im Deutsch-Unterricht über die auf, die immer sagten: Sie hätten ja nichts gewusst. Als Kinder hätten sie auf der Straße gespielt, erzählte er in den frühen 90er Jahren. Dabei hätten sie gerufen: „Wenn ich dich fange, kommst du ins KZ und stirbst.“ Die Kinder hätten genau gewusst, wofür die Konzentrationslager dagewesen waren – und die Erwachsenen wollten nichts davon geahnt haben. Letzteres war in den 90er Jahren immer noch Lehrmeinung. Herr K. vermittelte das im Geschichtsunterricht. Guido Knopp brachte diesen Satz zu jener Zeit dreimal die Woche im ZDF.
Nun ist „Wir haben ja nichts gewusst“ zurück. Im Berliner Ensemble. Da gehört er auch hin. Wenn 99,9 Prozent der Deutschen eingesehen haben, dass die Einwanderungspolitik Angela Merkels (CDU) und Olaf Scholz‘ (SPD) dem Land unter anderem einen importierten Antisemitismus gebracht hat, dann wird Brechts Theater am Schiffbauerdamm immer noch voll sein mit einem Publikum, das die grünen Lebenslügen der Berliner Republik verteidigt – und alle als rechtsextrem einstuft, die etwas anderes sagen.
Dieses Berliner Ensemble hat nun einen Leseabend veranstaltet. Es geht um Michel Friedmans biographische Schilderung „Fremd“. Als er diese vor einem Jahr veröffentlicht hat, „konnte niemand ahnen, dass es auch hier einmal wieder offen antisemitische Demonstrationen geben könnte, dass Häuser wieder mit Judensternen beschmiert würden“. Das schreibt Peter Zander am Samstag in der Berliner Morgenpost über den Lese-Abend.
Wo hat Peter Zander eigentlich in den vergangenen Jahren gelebt? In der Kantine des Berliner Ensembles? Sich engagiert über vegane Ernährung unterhalten, über den Traum von der autofreien Stadt und über die Klimaleugner, die dem allem immer noch im Weg stünden? Und die Nazis verdammt, die Merkels Einwanderung schlechtreden?
Peter Zander hat jedenfalls nicht in Mainz oder Duisburg gelebt, wo schon vor über zehn Jahren Passanten angegriffen wurden, weil sie am Rande von palästinensischen Demonstrationen die blau-weiße Fahne mit dem Davidstern gezeigt haben. Angegriffen von Demonstranten. Aber auch von Polizisten, die in der israelischen Fahne eine unzumutbare Provokation gesehen haben. Aber Peter Zander kann auch nicht in dem Berlin gelebt haben, in dem offizielle Stellen Juden davon abrieten, auf der Straße die Kippa zu tragen. In denen Menschen angegriffen wurden, weil sie als jüdisch erkannt wurden. Und auch nicht in dem Deutschland, in dem palästinensische Demonstranten immer wieder unverhohlen das Existenzrecht Israels bestritten haben. Denn sonst könnte er nicht schreiben: Es „konnte niemand ahnen, dass es auch hier einmal wieder offen antisemitische Demonstrationen geben könnte“.
Auf der Friedman-Lesung war auch Claudia Roth (Grüne) unter den Besuchern. Kein Wort von Peter Zander darüber, dass unter deren Augen die Documenta antisemitische Kunstwerke gezeigt hat. Mit einer Bildsprache, für die früher der Stürmer stand. Kein Wort, dass Roth diese Kunstwerke verteidigt hat, bis der öffentliche Druck zu stark wurde – und sie dann ein Bauerinnenopfer vorschob, um selber im Amt bleiben zu können. Kein Wort von Peter Zander. Man kennt sich, sitzt nachher vielleicht noch in der Kantine des Berliner Ensembles zusammen und will sich friedlich über vegane Rezepte austauschen können – und nicht das Gefühl haben, dass es da draußen eine Welt mit antisemitischen Demonstrationen geben könnte.
Friedmans Text liest die Schauspielerin Sibel Kekilli. Sie wurde bekannt durch den Film „Gegen die Wand“, in dem sie eine Scheinehe mit einem Säufer eingeht, um sich dem Patriarchat ihrer türkischen Familie zu entziehen. Wegen dieses Films und ihrer Porno-Vergangenheit verstieß Kekillis echte Familie die Schauspielerin öffentlich. Kein Wort davon bei Peter Zander.
Stattdessen geht Zander auf einen Verfremdungseffekt der Lesung ein. Durch eine Leinwand hinter ihr. Künstlerisch hat sich das Berliner Ensemble in den 90 Jahren nach Erwin Piscator auch keinen einzigen Schritt weiterentwickelt. Die Leinwand zeigt „Deutsche, die ein Asylantenheim stürmen“. Das gehe, so Zander, auf Kekillis eigene Erfahrungen mit dem Thema „Fremd“ ein. Da sind dann der Kulturredakteur und das Berliner Ensemble wieder ganz bei sich, in ihrer Wohlfühlzone: Der Deutsche, der die Türkin angreift und die Helden aus dem Kulturbetrieb, die sie verteidigen. Jetzt schnell ein Zeichen setzen. Am besten in der Kantine des Berliner Ensembles. Dort gibt es ganz tolle Bulletten.
Vom importierten Antisemitismus weiß da niemand was. Das will auch keiner. Die Polizei und die deutschen Innenminister verhindern das. Antisemitismus von Muslimen gegen Juden lassen sie in die Statistik als Rechtsextremismus fließen. Das ist brillant: politisch, haushalterisch und propagandistisch. Mit jeder Tat eines Muslims gegen einen Juden, lässt sich eine weitere Erhöhung des Etats im Kampf gegen Rechts rechtfertigen – mit dem beschützt der Staat dann Muslime vor den Deutschen. Publizistisch.
Aber auch praktisch. Ginge es nach den muslimischen Dachverbänden in Deutschland würde der Staat Texte wie diesen hier verfolgen lassen. Texte, in denen der Zusammenhang zwischen Antisemitismus und muslimischer Einwanderung thematisiert wird. Als islamophob. Fällt das Stichwort „muslimisch“ sind diese Dachverbände nämlich sehr sensibel. Bei der Tötung von Kindern nicht. Oder bei der Vergewaltigung von Frauen oder der Schändung von Leichen. Da muss die Öffentlichkeit diese Verbandsvertreter schon sehr lange piesacken, bis die ein sehr kleines „Nicht ganz ok“ unter sehr vielen „Ja, aber Israels…“ verstecken. Und auch die liefern sie nur, damit Journalisten wie Peter Zander nicht aufwachen und sie sich selbst nicht von den so wunderbar fließenden Subventionsflüßen abschneiden.
So gut hat das System funktioniert: Importierter Antisemitismus ist Rechtsextremismus und Rechtsextremismus ist eine Sache der Deutschen. Das war eine Lösung, die einem Peter Zander und einer Claudia Roth friedliche Gespräche im Café des Berliner Ensembles ermöglichten, in denen es um alles ging, nur nicht um importierten Antisemitismus. Denn es „konnte niemand ahnen, dass es auch hier wieder einmal offen antisemitische Demonstrationen geben könnte“.
Boris Pistorius (SPD) hat am Sonntag Deutschland als nicht „wehrhaft“ bezeichnet. Der Verteidigungsminister hat sich damit auf die Armee bezogen und hatte recht. Er hätte aber auch recht, wenn er seine Worte auf die innere Wehrhaftigkeit angewandt hätte. Vor drei Wochen sind im Berlin Peter Zanders Menschen auf die Straße gegangen und haben den Mord und die Schändung von Juden gefeiert, indem sie Süßigkeiten verteilten.
Seitdem hat es an fast jedem Tag in Berlin Demonstrationen gegeben, die Israel das Existenzrecht absprechen. Nur nicht, wenn es zu viel geregnet hat. Denn die türkischen und arabischen Demonstranten finden zwar, dass Israel ihren Glaubensbrüdern unsägliches Leid zufüge. Leid, das den Mord an Israelis rechtfertige – aber nicht, dass die eigene Frisur nass wird. Genau da verraten die Demonstranten wes Kind ihr Protest ist: ein ichbezogener Fremdenhass. Eine Sehnsucht nach einem Vorwand, aus dem eigenen, unbefriedigenden Leben auszubrechen und die Sau rauslassen zu können.
Dieses Bedürfnis, die Sau rauszulassen, gibt es in Berlin. Und in Duisburg, Frankfurt oder Köln. Ebenso wie die Bereitschaft, dafür Leben zu opfern. Aber nur das Leben anderer. Schon das Beschießen von Polizisten, Sanitätern und Feuerwehrleuten oder das sexuell Nötigen an Silvester waren nichts anderes. Aber auch da war der erste Reflex von Journalisten, festzulegen, was diese Ausschreitungen alles nicht waren – und nicht sein durften.
Der deutsche Journalismus von ARD und ZDF über TAZ und Süddeutsche bis hin zu FAZ und Spiegel war in den letzten Jahren dafür da, zu bestimmen, was alles nicht gesagt werden darf. Statt darauf zu drängen, zu sagen, was ist. Und wenn Journalismus über Jahre so aussieht, dann steht der halt irgendwann nackt da. Mit dem deutschesten aller deutschen Sätze: „Wir haben doch nichts gewusst“. Oder wie es Peter Zander schreibt – es „konnte niemand ahnen, dass es auch hier einmal wieder offen antisemitische Demonstrationen geben könnte“.