Tichys Einblick

Der woke Kapitalismus ist mehr als nur Marketing

Auch wenn Unternehmen, die sich moralmissionarisch geben, zuweilen der Wind ins Gesicht schlägt, halten sie grundsätzlich an der modischen Wokeness fest. Von Joanna Williams

IMAGO

Die Damenunterwäsche-Marke Victoria’s Secret hat beschlossen, Slips wieder sexy zu machen. Victoria’s Secret, das für seine jährliche „Angels“-Modenschau mit knapp bekleideten, superdünnen Models berühmt geworden ist, machte Jahr 2021 einen auf woke. Das Unternehmen tauschte die bauchlos-beflügelten Models gegen „hochkarätige Frauen, die eher für ihre Leistungen als für ihre Figur bekannt sind“.

Es betonte die Diversität in seinem Marketing und präsentierte dicke Frauen, Frauen mit Behinderungen, lesbische Frauen, Flüchtlingsfrauen und natürlich Transgender-Frauen. Es gab jedoch nur ein Problem: die Verkaufszahlen brachen ein.
Es stellte sich heraus, dass Frauen (und zweifellos auch Männer) beim Kauf von Unterwäsche die Fantasie der Realität vorziehen. Wenn es um sexy Unterwäsche geht, stellen wir uns lieber vor, dass wir schlank und wunderschön sind, als dass wir unförmig und beleibt sind. Um die Kassen wieder zum Klingeln zu bringen, verzichtet Victoria’s Secret jetzt auf diese woke Neuaufstellung und bringt wieder Supermodels und Sex-Appeal auf den Laufsteg.

Ob die Rückkehr der Engel Victoria’s Secret wieder zu großen Gewinnen verhelfen wird, bleibt abzuwarten. Aber es ist nicht das einzige Unternehmen, das derzeit die Effektivität von „Woke Branding“ in Frage stellt. Nachdem Unilevers Gegenwind für sein „Virtue signalling“ entgegenblies, kündigte der neue Vorstandsvorsitzende Hein Schumacher diese Woche an, dass der Konsumgüterkonzern seine Marken -–von der Dove-Seife bis zur Hellmann’s Mayonnaise – nicht länger einem sozialen Anspruch unterwerfen wird. Dies ist ein deutlicher Richtungswechsel gegenüber dem bisherigen CEO Alan Jope, der 2019 versprach, Marken abzustoßen, die „nicht für etwas Wichtigeres stehen können, als nur dafür, dass Ihr Haar glänzt, Ihre Haut weich, Ihre Kleidung weißer oder Ihr Essen schmackhafter wird“. Wie es scheint, kam der Versuch von Jope, Speisezutaten mit sozialer Verantwortung zu verbinden, bei den Aktionären nicht besonders gut an.

Andere Unternehmen und Organisationen haben letzte Woche ihre Zuwendungen für Black Lives Matter zurückgezogen, nachdem mehrere BLM-Sektionen Unterstützung für die Hamas bekundet hatten. Coca-Cola hat Hinweise auf seine finanzielle Unterstützung der BLM von seiner offiziellen Website entfernt; der englische Fußballverband hat versucht, sich von der Gruppe zu distanzieren, vor der er zwei Jahre lang niedergekniet ist; und Geldgeber haben amerikanischen Universitäten, die Erklärungen zur Unterstützung der Hamas abgegeben haben, die Mittel entzogen. Selbst Ben and Jerry’s, die ständig empörten Speiseeismacher, haben sich seit den Angriffen auf Israel zurückgehalten.

Die Entscheidung dieser Unternehmen, ihr wokes Marketing zu drosseln, mag aus finanziellen Gründen sinnvoll sein. Das „Virtue signalling“ kommt in der Öffentlichkeit oft schlecht an. Anfang dieses Jahres war der Verbraucherboykott von Bud Light, nachdem der Hersteller den Transgender-Influencer Dylan Mulvaney für seine Bierwerbung eingesetzt hatte, eine heilsame Lehre, was Fallstricke bei der Kundenbelehrung betrifft. Der Absatz von Bud Light brach ein, da sich die Konsumenten für Konkurrenzmarken entschieden.

Aber wer von uns des woken Kapitalismus überdrüssig ist, sollte mit dem Feiern noch etwas warten. Die Chefs von heute sind nach wie vor der Wokeness verpflichtet. Sie halten es wirklich für ihre Aufgabe, neben dem Verkauf von Mayonnaise oder Bier auch Antirassismus oder Transgender-Inklusion zu fördern. Die jahrzehntelange Hinwendung zu einem woken Kapitalismus war nie nur eine Frage von Image und Werbung. Es war immer auch eine Mission.

Auch wenn sich die Unternehmen im Moment bei der Schleichwerbung zurückhalten, haben sich doch viele von ihnen dem Zertifizierungsverfahren „B Corp“ unterworfen, bei dem ihre „gesamten sozialen und umweltbezogenen Auswirkungen“ gemessen werden. Laut ihrer Website sind zertifizierte B-Corporations „führend in der globalen Bewegung für eine integrative, gerechte und regenerative Wirtschaft“. Die Wokeness ist nicht nur ein Marketingtrick. Sie formt die grundlegenden Prinzipien, die den heutigen Kapitalismus antreiben.

Das Bekenntnis zu Gleichstellung, Vielfalt, Inklusion und Nachhaltigkeit ist für die Unternehmen sinnstiftend, indem es ihnen einen moralischen Zweck verleiht, der auch im deutschen Sprachraum inzwischen als „purpose“ bezeichnet wird. Dieses Bekenntnis bestimmt auch, wie Unternehmen auf nationaler und internationaler Ebene reguliert werden und wie Unternehmen ihrerseits ihre Arbeitnehmer disziplinieren. Kurz gesagt, Wokeness ist tief in die Prozesse eingebettet, mit denen Unternehmen Geld verdienen.

So sehr sich die Bosse auch zu progressiven und sozial gerechten Anliegen bekennen, so sehr mögen sie doch ihre fetten Gehaltsschecks. Alison Rose, die ehemalige Vorstandsvorsitzende der britischen NatWest-Bank, zeichnete für die Kündigung der Bankkonten von Nigel Farage aufgrund seiner politischen Ansichten verantwortlich und ließ der BBC falsche Informationen über den Kündigungsgrund stecken. Sie trat mit einer Abfindung von 2,4 Millionen Pfund zurück.
Dass der woke Kapitalismus sich für einige so sehr bezahlt macht, zeigt, wie schwierig er zu stürzen sein wird.


Dieser Beitrag ist zuerst beim britischen Magazin Spiked erschienen.
Mehr von Joanna Williams lesen sie in den Büchern „Die sortierte Gesellschaft: Zur Kritik der Identitätspolitik“ und „Schwarzes Leben, Weiße Privilegien: Zur Kritik an Black Lives Matter“. Joanna Williams ist Kolumnistin beim britischen Magazin spiked und Autorin von „How Woke Won”.

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