Der Kanzler zeigt kein Profil. Das ist immer wieder der Vorwurf gegen Olaf Scholz. Meistens ist er zutreffend – sonst hätte er sich nicht diese Reputation erworben. Umso überraschender war die ungewöhnliche deutsche Beharrlichkeit in Brüssel. Wäre es nach zahlreichen Staaten – Spanien als führendes Beispiel – innerhalb der Europäischen Union gegangen, dann hätte die EU wohl eine Waffenruhe in Gaza gefordert. Es war nicht zuletzt das Wort des Bundeskanzlers, der sonst wenig für seine Richtliniennutzung bekannt ist, das dazu führte, dass man sich auf einen Kompromiss verständigte. Nun ist nur noch von „humanitären Pausen“ die Rede. Das ist eine dehnbare Bitte, keine harte Forderung mehr.
Scholz hatte zuvor klar gemacht: Die Geiseln müssen freigelassen werden, und Israel sei ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien. Scholz setzte volles Vertrauen darauf, dass die „Armee, bei dem, was sie macht, die Regeln beachtet, die sich aus dem Völkerrecht ergeben“. Daran habe er „keinen Zweifel“. Der Kanzler geht auch auf den Iran und seine „Proxies“ als Unruhestifter. Der Konflikt dürfe sich nicht ausbreiten.
Man muss diese für Scholz-Verhältnisse klaren Worte in den Zusammenhang einordnen. Ratspräsident Charles Michel hatte davon gesprochen, dass Zivilisten überall geschützt werden müssten – eine nicht nur zwischen den Zeilen versteckte Kritik am israelischen Vorgehen. Belgiens Regierungschef Alexander De Croo sagte, der Hamas-Terror „kann niemals eine Entschuldigung dafür sein, eine Bevölkerung auszuhungern“. Die Zusage der EU. Treibstoff nach Gaza zu liefern, zeigt, dass die israelkritischen Vertreter sich teilweise durchsetzen konnten.
Hierzulande wie im Ausland mag man sich über die Bemühungen der EU, die sich weniger auf eine klare Nahoststrategie denn einen Kompromiss einigen konnten, belächeln. Nahostpolitik ist Sache der regionalen Mächte und der bekannten Großmächte, aber nicht die eines Staatenbundes, der auf Konferenzen abgemagerte Beschlüsse verkünden muss. Dabei könnte die EU in dieser Krise tatsächlich entscheidender Faktor sein: wann sie etwa ihre Zahlungen an die Autonomiebehörde, aber auch ihre Investitionen im Nahen Osten und ihre Geschäfte mit den dortigen Mächten als Hebel benutzten würde, statt sie immer darauf warten, bis jene Staaten diesen Hebel gegen sie selbst verwendet. Offenbar wirken aber auch hier Mechaniken, die weit über die üblichen Geschäfte, etwa mit dem Iran, hinausgehen.
Die große Frage bleibt deswegen, was die Union eigentlich bezweckt: Sind etwa die Hilfszahlungen an die Autonomiebehörde tatsächlich ein Mittel für Frieden und Stabilität? Ist es die Zwei-Staaten-Lösung? Ist es die Neuordnung der Region? Wer keine Idee hat, wie die Region in 30 Jahren aussehen will, wird stets nur mit auf Zeit geschlossenen Kompromissen Flickschusterei betreiben. Die eigentliche Schwäche der Union ist, dass sie keine Langzeitstrategie kennt, sondern das bundesrepublikanische Mantra übernommen hat, dass Geld schon alle Probleme lösen würde, solange man nur genügend davon einsetzt. Nicht über die Ambitionen der EU, sondern über diese Richtlinie sollte man sich amüsieren, wäre es nicht so bitter.
Wie man auch immer zum Nahostkonflikt und der Rolle der EU stehen mag: Der Bundeskanzler lässt mit seinem Auftritt keinen Zweifel an Deutschlands Haltung zu Israel. Er zeigt sich überraschend verlässlich. Diese Botschaft wird man auch in Israel verstanden haben.
Bleibt die Frage: Wenn der Bundeskanzler auf EU-Ebene so viel Gewicht hat, dass er eine israelfreundlichere Resolution herbeiführen kann – warum tut er dasselbe nicht daheim? Warum bekommt er die eigene Außenministerin nicht eingefangen? Und wieso stoppt er nicht den Geldfluss nach Gaza? Das könnte er auch ganz ohne Abstimmung mit den EU-Partnern. Womöglich ist auch das eine amnesische Nebenerscheinung.