Folge den orangenen Warnwesten, lautet wohl das Motto am gestrigen Donnerstagabend in der Universität Hamburg: Extremisten der Letzten Generation halten einen Vortrag oder – wie sie es nennen – eine „Krisensitzung“. Und orangene Warnwesten weisen den Weg zu dem Raum, in dem diese „Krisensitzung“ stattfindet: Am Fenster, an der Eingangstür, an einigen Wänden – überall hängen sie und sind nicht zu übersehen. Im Raum angekommen, ist die Verwunderung allerdings groß: Eine Extremistin der Letzten Generation namens Jana, sie hält einen Teil der Krisensitzung. Der einzige wirkliche Gast der Veranstaltung – der Hamburger Student Keno aus dem gerade begonnenen ersten Semester. Dazu kommt noch eine Reporterin von TE.
Und der Raum bleibt auch weitestgehend leer: Nur die Extremisten Marie und Heiko kommen noch hinzu. Sie sagen betrübt, sie hätten mehr Gäste erwartet: Schließlich habe die Letzte Generation Werbung für den Vortrag gemacht: Am vergangenen Montag haben einige Extremisten das Hamburger Audimax mit orangener Farbe besprüht und Flyer verteilt, die auf diese Veranstaltung hinwiesen. So ist Keno auf die Veranstaltung aufmerksam geworden – als einziger. Der Schaden der Aktion belief sich laut Marie auf 20.000 Euro. Die Rechnung hat die Universität an die verantwortlichen Extremisten geschickt. Dass deren „Opfer“ nur so wenig gebracht hat, enttäusche Marie.
Während Jana und Heiko nochmal zum Haupteingang laufen, um Leute einzusammeln, die womöglich den Raum nicht finden, erzählt Marie, wie sie „irgendwie bei der Letzten Generation reingerutscht“ ist: Erst im Juni hat sie einen solchen Vortrag wie an diesem Abend besucht, dann bei einigen Protestmärschen teilgenommen und jetzt hält sie selbst Vorträge, um neue Leute für die Letzte Generation zu begeistern. Die Aufstiegschancen bei der Letzten Generation scheinen demnach groß zu sein – oder es gibt halt zu viele Aufgaben für zu wenige Extremisten.
Jana und Heiko machen sich auf die Suche nach Studenten, die den Vortrag hören wollen. Die Sitzung stockt. Dann kehren Jana und Heiko zurück. Ohne Studenten. Marie legt los. Für einen Zuhörer – und eine TE-Reporterin.
Marie erzählt von mehreren „Katastrophen“ der letzten Jahre: Überschwemmungen, Dürren und Waldbrände. Außerdem zeigt sie Videos: Eines davon handelt von einem „Dinosaurier“, der bei den Vereinten Nationen einen Vortrag darüber hält, wie lächerlich es sei, sich als Spezies selbst auszurotten. Er kenne sich ja mit dem Aussterben aus. Die Letzte Generation scheint sich wiederum mit Lächerlichkeiten auszukennen. Marie findet dieses Video „total cool“.
Nach dem Dinosaurier kommt Jana zu Wort und hält eine „Lesestunde“ über den „zivilen Widerstand“. Denn: „Das sei das Einzige, das der Letzten Generation noch übrigbleibe“. Dabei vergleicht Jana die Blockaden der Letzten Generation mit der Unabhängigkeitsbewegung in Indien, dem Arabischen Frühling und der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Und dass die meisten Deutschen von den Extremisten, ihren Blockaden und ihren Sachbeschädigungen genervt seien, setzt sie mit Martin Luther King gleich: Er sei einmal der meistgehasste Mensch in den USA gewesen, meint sie. Aber seine Bewegung habe Dynamik bewiesen, und diese „Dynamik“ übertrage die Letzte Generation auf die aktuelle Situation. Das hat aber offenbar noch nicht so gut geklappt: Undynamischer als einen Vortrag vor einem leeren Raum zu halten, kann man sich wohl kaum eine Bewegung vorstellen.
„Dynamik“ versucht die Letzte Generation trotzdem verzweifelt herzustellen: Neu rekrutierte Extremisten könnten direkt in die Blockaden eingespannt werden, erzählen Jana, Marie und Heiko: Am kommenden Samstag gibt es demnach einen „Massenprotest“ in Berlin, bei dem die Letzte Generation die Straße des 17. Junis blockieren will. Die drei erwarten dort „Tausende“ von Extremisten. Es seien alle eingeladen: Extinction Rebellion, Fridays for Future und viele weitere Gruppen. Marie betont: „Das wird ein richtiger Spaß.“ Jana schlägt ein „Kompaktprotesttraining speziell für Samstag“ vor, damit Keno direkt mit nach Berlin kann. Offenbar hat es die Letzte Generation nötig: Sie pfeift aus dem „Letzten Loch“. Mal sehen, ob die Letzte Generation die Teilnehmerzahl für diesen „Massenprotest“ besser einschätzt als diejenige für den Vortrag.
Bei dem Vortrag erläutert Heiko die Bezeichnungen der Extremisten: „Hummeln“ sind demnach jene Extremisten, die nicht aktiv auf die Straße gehen, sondern die Blockaden vorbereiten, begleiten und die „Bienen“ unterstützen. Eine „Biene“ klebe sich auf die Straße und nehme somit Strafen von mehreren Hundert Euro in Kauf. „Wildbienen“ hingegen sind laut Heiko jene, die sich Pfändungsschutzkonten einrichten und dann die „wirklich medienwirksamen“ – extrem teuren – Proteste durchführen: beispielsweise die Attacke auf den Sylter und Hamburger Flughafen. Da entstehen dann gern mal Kosten in Millionenhöhe.
Aber das ist laut Jana alles „Zukunftsmusik“: Erstmal lege sie einem ans Herz, beim Protesttraining teilzunehmen und den Chatgruppen auf Signal beizutreten: Das verpflichte zu gar nichts aber dann könne man starten, sobald man bereit sei. Einen Link und einen QR-Code für die Signalgruppen, über die sie kommunizieren, hat Marie parat.
Die drei geben alles, um einen Beitritt in die Letzte Generation schmackhaft zu machen: Heiko erzählt von seinem Werdegang in der Letzten Generation und betont immer wieder, wie gut alles durchorganisiert sei und dass die Forderungen „simpel“ seien. Zudem betont er den „Support“: Wenn die Polizei einen Extremisten in Gewahrsam nehme, dann würden ihn viele andere direkt vor dem Gefängnis „liebevoll“ mit großem Applaus und „ganz viel leckerem Essen“ in Empfang nehmen. Dann würde erstmal gefeiert und über das Geschehene gesprochen. Danach habe man die Möglichkeit auf den „Emo-Support“ zurückzugreifen: Das seien laut Heiko Therapeuten, mit denen die Extremisten über den „Stress“ während der Straßenproteste und im Gefängnis sprechen können. An der Stelle könnte man fast meinen, dass die Letzte Generation verhindern möchte, dass einer von ihnen aussteigt. Ergibt Sinn: Neue Leute scheint sie nicht mehr zu rekrutieren. Dass die Extremisten Vorträge vor nur einer Person halten, sei kein Einzelfall, berichtet Jana.
Der Vortrag endet mit einer Aufnahme von einer weinenden und verzweifelten Elena, die im Gefängnis in Bayern sitze. Auffällig ist, wie emotionalisierend der gesamte Vortrag ist: Entweder weinen Leute, oder Menschen mit Doktortiteln erzählen von den Todesopfern der „Klimakatastrophen“. Oder aber die Extremisten zitieren Psychologen, die sagen, es sei ein „Eigenschutz der Psyche“, wenn man nichts gegen die bevorstehende „Klimakatastrophe“ mache, weil man Negatives nicht an sich heranlasse. Unterstreichen tut Marie ihren Vortrag durch Kriegsfotos in Schwarz und Weiß – wirkt halt dramatischer. Psychologische Diagnosen und Fotos in Schwarz-weiß: Die Extremisten versuchen mit allen Mitteln, neue Mitglieder zu finden – ohne Erfolg.