Tichys Einblick
”Habe ich genug getan?“

In memoriam Gunnar Kaiser

Gunnar Kaiser war ein Mensch, der andere berührte, eine Präsenz, die den anderen durch seine unbedingte Aufrichtigkeit dazu einlud, ja geradezu dazu zwang, sich als das zu offenbaren, was er wirklich ist – mit seinen Licht- wie auch seinen Schattenseiten.

Bild: via Gunnar Kaiser

Leider zählte ich nicht zu den engeren Vertrauen Gunnar Kaisers: Wir kannten uns vor allem aufgrund einiger Interviews, die er in den letzten Jahren mit mir geführt hat, und in deren Folge wir uns über Gott und die Welt ausgetauscht haben. Selten habe ich die relative Oberflächlichkeit unserer Bekanntschaft so sehr bedauert wie vorgestern, als ich von seinem Tod erfuhr: So vieles beginnen wir in dem leichtfertigen Glauben, es eines Tages beliebig fortführen zu können; und erst, wenn das Schicksal zuschlägt, wird uns auf einmal bewusst, welche Gelegenheiten wir ungenutzt haben verstreichen lassen.

Wenn ich den Vorschlag trotzdem angenommen habe, hier eine kurze Würdigung zu versuchen, so auf der einen Seite in dem vollen Bewusstsein, dass es weitaus Berufenere als mich gibt, auf der anderen Seite aber auch aus dem Wunsch heraus, ihm zumindest durch diesen letzten Dienst stellvertretend für so viele andere Leser und Zuhörer die Botschaft mit auf dem Weg ins große Unbekannte mitzugeben, dass ich ihn sehr mochte und es als Ehre empfunden hätte, ihm näher vertraut sein zu können, als ich es durfte.

Ich bitte nicht um Entschuldigung dafür, einen Nachruf mit einem eher persönlichen Exkurs begonnen zu haben, denn dieser scheinbare Umweg führt uns vielmehr mitten ins Thema: Gunnar Kaiser war ein Mensch, der andere berührte, eine Präsenz, die den anderen durch seine unbedingte Aufrichtigkeit dazu einlud, ja geradezu dazu zwang, sich als das zu offenbaren, was er wirklich ist – mit seinen Licht- wie auch seinen Schattenseiten. Und wenn sein Tod im Netz gegenwärtig so viele ehrliche Ausdrücke von Mitgefühl, Trauer und Leid von Seiten unzähliger Menschen hervorruft, für die Gunnar Kaiser doch konkret gesehen eigentlich nur eine Stimme aus einem Lautsprecher, eine Hand hinter einer Aneinanderreihung von Buchstaben und ein Farbfleck auf einem Bildschirm hätte sein sollen, so liegt dies nicht nur daran, dass eine wichtige Stimme verstummt ist, sondern vor allem daran, dass ein wahrer Mensch verschwunden ist, dem andere sich wirklich und innerlich verbunden fühlten.

Wenn ich etwas mit Gunnar Kaiser assoziiere, so ist es der Begriff der absoluten Aufrichtigkeit – gerade heute eine überaus selten gewordene Qualität. Kaiser machte es sich niemals einfach; er wählte niemals die argumentative Abkürzung, die rhetorische Blendung, die sophistische Rechthaberei: Er wollte den Dingen in völliger Ehrlichkeit und als wahrer Philosoph auf den Grund gehen und ließ sich dabei einerseits immer wieder ehrlich auf die Argumentation des anderen ein, stand aber andererseits auch felsenfest zu dem, was er selbst als wahr erkannt hatte – und bezahlte für seine Überzeugung, wenn nötig, mit dem, was gemeinhin der „gute Ruf“ genannt wird.

Ob es nun um Cancel Culture, Politikversagen, Meinungsfreiheit, Covid-Lügen, Abendland oder Gott ging: Immer wieder zeichnete er sich durch Kohärenz, Folgerichtigkeit und Ehrlichkeit aus; und wenn dies bedeutete, dass man in exakt denselben Medien, die heute lauwarme Nachrufe auf den Verstorbenen veröffentlichen, vollmundig erklärte, man müsse jemanden wie Kaiser fortan ausgrenzen und dürfe ihm keinerlei öffentliches Forum mehr für seine Überlegungen bieten, so nahm er dies im wahrsten Sinne des Wortes stoisch hin: Was er als Wahrheit empfand, war ihm wichtiger als seine eigene Person – so sehr er auch psychisch und zweifellos auch gesundheitlich darunter gelitten haben wird.

Besonders berührt hat mich Kaisers letzter Weg, seitdem er von seinem nahen Ende erfahren musste, und dabei nicht nur die ruhige und offene Gelassenheit, die er sich in jenen stillen und einsamen Kämpfen errungen hatte, von denen wohl nur seine Frau, seine Kinder und seine Allernächsten wussten, sondern auch und vor allem die Tatsache, dass er sich in jenen letzten Monaten den Weg zu Gebet und Transzendenz eröffnet hatte. Und mehr noch: Dabei hat er nicht etwa, wie nur allzu verständlich und natürlich gewesen wäre, das Gefühl für seine öffentliche Verantwortung in den Wind geschlagen, sondern vielmehr seine Stellung bei seinen vielen Lesern und Zuhörern dazu genutzt, seine Freunde auch an seiner letzten und größten Reise teilhaben zu lassen und noch den Tod zum Anlass zu nehmen, in großer Würde und Einfachheit zu philosophieren, letzte Fragen zu stellen und vor allem Antworten zu geben: Über Kaisers letzte Monate schwebte zumindest für den Außenstehenden eine Art heitere Phaidon-Stimmung, wie man sie im 21. Jahrhundert eigentlich völlig ausgestorben zu sein glaubte.

So werde ich es mir immer als eine besondere Ehre anrechnen, im Mai 2023 einer seiner letzten öffentlichen Gesprächspartner gewesen sein zu dürfen. Selten habe ich ein solches Interview erlebt, sowohl, was die Vor- und Nachbereitung betrifft, als auch die eigentliche Diskussion: Kaiser hatte aus seiner unmittelbaren Erfahrung der letzten Dinge wie niemand, mit dem ich bisher sprechen durfte, verstanden, dass alle politischen, sozialen, wissenschaftlichen, kulturellen oder wirtschaftlichen Erwägungen wenig mehr sind als ein vorübergehender eitler „Windhauch“, wenn sie nicht immer wieder rückgebunden werden an das einzig Wichtige: das Wahre, Gute und Schöne, das man auch als Gott oder Transzendenz bezeichnet. Dies, und nichts anderes, ist echter Konservatismus.

„Habe ich genug getan?“, lautet daher auch der Titel des wohl berührendsten unter den vielen Videos Gunnar Kaisers, in dem dieser ganz offen über den Satz reflektiert, demzufolge philosophieren heißt, sterben zu lernen. Ja, Gunnar, Du hast genug getan, für Dich und uns alle, und es wird hier wie dort nicht vergessen werden.

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