Ein Blick auf die neuesten Wahlumfragen zeigt das deutsche Paradox, dass sich alles ändern soll, aber nichts anders werden darf. Oder mit anderen Worten: Akteure und Spielregeln der deutschen Demokratie entsprechen nicht mehr der deutschen Realität. Zu den Zahlen: Laut Insa bekommt die Union einen kleinen Schubs nach oben, sie läge, wenn am Sonntag im Bund gewählt worden wäre, bei 29 Prozent. Kantar sieht die Union bei 31 Prozent, die Forschungsgruppe Wahlen bei 30 Prozent. Die Rohdaten dürften ähnlich, nur unterschiedlich interpretiert worden sein. Die Fehlertoleranz liegt für gewöhnlich bei +1,5 bis -1,5 Prozentpunkten. Forsa wollte die Union schon bei 32 Prozent sehen, doch bei Forsa weiß man nie, ob die Interpretation der Rohdaten nicht auch einem politischen Impetus folgt, beispielsweise ein Warnsignal an die SPD zu senden. Denn Forsa sieht die SPD nunmehr bei 14 Prozent, gleichauf mit den Grünen, weiter hinter der AfD, die zweitstärkste Partei ist und bleibt – bei allen Meinungsforschungsinstituten übrigens.
Die AfD steht stabil und ohne Bewegung bei 21 bis 22 Prozent. Letztlich fehlt es ihr noch an Integrationskraft, bekommt ihr auch Chrupallas außenpolitischer Dilettantismus nicht. Die AfD hat es jedoch geschafft, sich in den Kommunen und in den Ländern breit aufzustellen und sozialpolitisch Kompetenz als Partei der Kümmerer zu erwerben.
Grüne und SPD streiten sich in den Umfragen um den dritten und den vierten Platz. In der Reihenfolge der Meinungsforschungsinstitute Kantar, Insa, Forschungsgruppe Wahlen stehen die Grünen bei 15 Prozent, bei 13 Prozent und bei 14 Prozent, die SPD bei 14 Prozent, bei 16 Prozent und bei 15 Prozent. Unterm Strich kann man die SPD bei 15 Prozent, Tendenz nach unten, die Grünen bei 14 Prozent, Tendenz eher nach unten ausmachen. Die FDP hängt bei allen drei Instituten bei 5 Prozent, Forsa sieht die FDP sogar bei 4 Prozent. Die Linke schwankt zwischen 5 und 4 Prozent.
Interessant hierzu sind noch einige Zahlen aus den Bundesländern. In Schleswig-Holstein verliert Günthers durch und durch grüne CDU -3,5 Prozentpunkte und kommt jetzt auf 32,5 Prozent, die Grünen büßen -5 Prozentpunkte ein und erreichen einen Wert von 18 Prozent, die SPD verliert ebenfalls und steht bei 14 Prozent, während auch hier der große Gewinner die AfD ist mit 15 Prozent, was einen Zugewinn von 7 Prozentpunkten bedeutet. Die FDP verharrt bei 5 Prozent und der SSW legt wie die AfD zu, nämlich um +3 Prozentpunkte und klettert auf 9 Prozent.
Im Vergleich mit der Wahl am 9.10.2022 verliert die SPD in Niedersachsen -6,4 Prozentpunkte und käme nun auf 27 Prozent und liegt damit hinter der CDU. Die Grünen büßen -1,5 Prozentpunkte ein und erreichen 13 Prozent. Damit hätte Rotgrün in Niedersachsen keine Regierungsmehrheit mehr. Auch hier wäre der große Gewinner die AfD mit 17 Prozent, was einen Zuwachs von 6 Prozentpunkten bedeuten würde. Die FDP bliebe unter der 5-Prozent-Hürde, sogar mit Verlusten, statt 4,7 Prozent wie zur Wahl, nun glatt 4 Prozent. Die laue CDU in Niedersachsen kann ein schwaches Plus von +0,9 Prozentpunkten verzeichnen, was zu einem Wert von 29 Prozent führte.
In Baden-Württemberg verlieren SPD und Grüne Stimmen, die Grünen -2 Prozentpunkte, die SPD -1. Die CDU gewinnt +3 Prozentpunkte und die AfD +1. Die CDU liegt in der letzten Umfrage von Infratest dimap vom 27.09. 2023 mit 29 Prozent in Führung, es folgen die Grünen mit 22 Prozent, die AfD mit 20 Prozent, die SPD mit 12 Prozent, die FDP mit 8 Prozent.
In NRW haben die Grünen in der letzten Umfrage vom 3. September -2,5 Prozentpunkte, die SPD -5 verloren und können auf 16,5 Prozent und 19,5 Prozent verweisen, während auch hier die AfD zulegt, nämlich +5,5 Prozentpunkte, was 18 Prozent bedeutete.
In Hamburg sackt die SPD in der Umfrage vom Institut Wahlkreisprognose auf 24,5 Prozent, also -7,5 Prozentpunkte, die Grünen auf 21,5 Prozent, also -5,5 Prozentpunkte, während die CDU und die AfD +6 Prozentpunkte hinzugewinnen, und damit auf 21 Prozent und 13 Prozent kommen – und das im rotgrünen Hamburg. In Berlin können CDU und Grüne kaum wahrnehmbare Zuwächse von +0,1 und +0,4 Prozentpunkten verzeichnen, die von der SPD stammen, die -2,9 Prozentpunkte verliert. Auch im woken Berlin gewinnt die AfD +5,7 Prozentpunkte und käme auf 14,8 Prozent.
Die Zahlen sind eindeutig: Die Ampel-Parteien verlieren im Bund und in den Ländern deutlich an Zustimmung. Nur in Baden-Württemberg kann die FDP etwas mobilisieren. 71 Prozent der Wähler sind mit der Ampel unzufrieden.
Insa hat in der jüngsten Umfrage auch gefragt, wer sich vorstellen kann, eine Sahra-Wagenknecht-Partei zu wählen, die tatsächlich gerade zunächst als Verein unter dem Namen „Bündnis Sahra Wagenknecht – Für Vernunft und Gerechtigkeit“ gegründet wurde, wie Wagenknecht heute Morgen in Berlin bekannt gab. Laut Insa würden 27 Prozent die Idee, Wagenknechts Partei zu wählen, nicht ablehnen, 55 Prozent würden sie hingegen nicht wählen.
Womit Wagenknecht punkten kann, ist, dass sie grosso modo alte SPD-Politik mit stark linker Schlagseite machen würde, vor allem besetzt sie das von der SPD und von den Linken freigegebene Feld der Sozialpolitik. Die SPD hat immer noch nicht verstanden, dass mit dem Sieg der identitätspolitischen Linken in der Partei sie ihr Wählerklientel aufgegeben hat. Fast tragisch dabei ist, dass man in der SPD nicht einmal mehr weiß, was Sozialpolitik im modernen Sinn ist, denn alles, was die SPD an Sozialpolitik macht, siehe Mindestlohn, ist keine Sozialpolitik, sondern Klientelwirtschaft.
Das liegt daran, dass abgebrochene Studenten und ehemalige Call-Center-Mitarbeiter wie Kevin Kühnert oder Leute wie Klingbeil, Esken, Scholz und Faeser über keinerlei Erfahrung im realen Leben ihrer Wähler verfügen. Bestenfalls kennen sie Sozialpolitik als Seminarthema im Soziologie-Seminar. Vor allem wird Wagenknecht als authentische sozialpolitische Linke Wähler der SPD und der Linken überzeugen können, aber auch von der AfD, allzumal im Osten, wo sie Wähler, die von der Linken oder (vor allem im Westen), die von der SPD und den Grünen zur AfD gewandert sind, zurück ins linke Lager zu holen vermag, wenn ihre wirtschaftlichen Vorstellungen, und das ist mehr als ein bisschen Sozialklimbim und Umverteilungsräusche, überzeugen.
Doch eines zeigen die Stärke der AfD und die offene Erwartungshaltung vieler Wähler für eine Parteigründung: dass die deutsche Konsensdemokratie, die deutsche Kompromissdemokratie und das alte bundesdeutsche Parteiensystem ans Ende gekommen sind. Deutschland steht auf der Kippe und befindet sich in einem Zwischenstadium, wie der italienische Marxist Antonio Gramsci sagen würde, in einem Interregnum, in dem das Alte nicht mehr bestehen bleiben kann und das Neue sich noch nicht zeigt. Das Neue ist nicht, wie die Ampel tapfer behauptet, die klimaneutrale Gesellschaft (Klimadiktatur) und die Subventionswirtschaft, das ist nur das alte, reaktionäre Grundmodell des Sozialismus und der politischen Ökonomie des Sozialismus in allenfalls neuen Farben, grün oder pink statt rot.
Es werden die Parteien überleben, die sich dynamisieren, die sich neu formieren, die wieder mit der Realität in Übereinstimmung kommen und Realität nicht für eine rechte Erfindung halten. Dazu bedarf es allerdings auch Funktionäre, die nicht schon besitzstandswahrend als Spießer geboren worden sind, keine Versammlung der Frühvergreisten. Die Wähler sind letztlich weiter als die Parteien. Die Themen der Bürger werden sich neue Parteien und neue Koalitionen suchen. Über wen die Entwicklung hinweg geht, entscheidet sich jetzt, für die SPD könnte es sich schon entschieden haben. Die Union wird die „Brandmauer“ abreißen müssen, will sie nicht letztendlich im Todesstreifen vor der „Brandmauer“ verenden. Darüber können konjunkturelle Zugewinne nicht hinwegtäuschen, denn alles ist brüchig, volatil, vorläufig, ohne Bestandsgarantie – Interregnum halt.
Die Zahlen belegen es, es ist sehr viel Bewegung da, Bewegung einstweilen noch auf der Stelle.