Tichys Einblick
Palästina-Demos

Die blanke Umkehr der Faktenlage

Benebelt von der eigenen moralischen Exzellenz, ausgestattet mit unentschuldbarer Naivität und einem großkotzigen Sendungsbewusstsein: So unterstützt eine linksakademische Bubble ausgerechnet jene, deren Glaube, politische Haltung und Sozialisierung allem entgegensteht, was man als klassischer „Linksliberaler“ zu schätzen vorgibt.

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„Free Palestine from German guilt“ – Befreit Palästina vom deutschen Schuldkomplex, so skandierten Demonstranten während einer pro-palästinensischen Sitzblockade in Berlin. Die zugrundeliegende These: Der Schuldkomplex, der die Deutschen plagt, binde diese in sozusagen blinder Solidarität an Israel – zum Nachteil der Palästinenser.

Wäre die Angelegenheit nicht so ernst, müsste man darüber schmunzeln, mit welcher Geschwindigkeit manche Deutsche den Nahost-Konflikt so umdeuten, dass er sich um sie dreht: Vor wenigen Tagen noch waren es Israelis, die in ihren Betten abgeschlachtet und beim ausgelassenen Feiern erschossen wurden; heute schon geht es eigentlich – um uns. Recht oder Unrecht, Krieg oder Frieden, unschuldige Zivilisten, all das spielt nur eine untergeordnete Rolle, ist Kulisse und Statisterie für deutsche Beschäftigung mit sich selbst.

Eine besondere Perfidie entwickelt der Slogan angesichts der Tatsache, dass die deutsche Politik Israel und jüdische Deutsche ungeniert mit Lippenbekenntnissen abspeist: Antisemitismus habe in Deutschland keinen Platz, so Scholz; währenddessen bricht sich dieser in Neukölln und anderswo Bahn. Hinzu kommt, dass sich viele deutsche Mainstream-Medien in atemberaubender Kritiklosigkeit der palästinensischen Sache verschreiben – und das im wahrsten Sinne des Wortes!

Man scheut sich nicht, Angaben der Hamas voreilig zu publizieren, und damit gewalttätigen Ausschreitungen Vorschub zu leisten. Auf der anderen Seite aber „schützt“ man in vornehmer Feinfühligkeit Leser und Zuschauer vor den Videos, die das größte Massaker an Juden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dokumentieren, so dass sich niemand einen Eindruck von der Katastrophe verschaffen kann, der nicht auf X, Tele- oder Instagram unterwegs ist. Tendenziöse Wortwahl, die Palästinenser als zivile Opfer sichtbar, israelische Zivilisten hingegen unsichtbar macht, tut das Ihrige dazu: Es wird ein Bild erzeugt, in dem der Philister Goliath zum unschuldigen Opfer des Aggressors David umdefiniert wird.

Kurz: Was die Demonstranten hier rufen, beruht nicht auf der Faktenlage, sondern ist die blanke Umkehrung derselben. Hier wird ein Narrativ kreiert, das ihnen ermöglicht, sich als Kämpfer für Gerechtigkeit zu gerieren.

Damit sagt dieser Ausruf über die Demonstranten mehr aus, als ihnen lieb ist. Abgesehen vom unwürdigen Narzissmus, der hier deutlich wird, zeigt sich, dass sie ihren Schuldkomplex nicht bewältigen, sondern nur verlagern. Denn über aus dem Holocaust resultierende Verantwortung wird zwar viel gesprochen. Was sie konkret bedeuten soll, wird jedoch nicht diskutiert. Und so liegt unter dem Deckmantel dieses Schlagwortes dann doch die Vorstellung einer generationenübergreifenden Kollektivschuld verborgen. Es ist nachvollziehbar, dass dies für jene, die an Verbrechen und Unterlassungen der Urgroßeltern keinen Anteil haben, unerträglich ist.

Doch anstatt die Fehlvorstellung zu analysieren und zu korrigieren, wird nun hastig „umgeschuldet“: Die Juden werden als Zielgruppe aussortiert, an ihre Stelle rücken die Palästinenser. Historische Verantwortung wird konstruktivistisch in ein allgemeines Verantwortungsgefühl für alles und jeden überführt. Ja, durch ihre schuldinduzierte Solidarität mit Israel sind Deutsche nun sogar mitverantwortlich für das Übel, das arme Palästinenser und Muslime bedrückt, und diese geradezu dazu zwingt, unschuldige Menschen niederzumetzeln, Synagogen anzugreifen, Judensterne an Türen zu kritzeln. „Deutsche Schuld“ – die Knute, unter der Palästinenser die eigene Zukunft verpfuschen.

Was den Protestlern entgeht: Unter dem Stichwort „Antikolonialismus“ feiert hier die kolonialistischste aller Attitüden Urständ; nämlich, dass man den minderbemittelten Schützlingen keinerlei Verantwortung für ihr Handeln zutraut. Nicht die Palästinenser sind für ihre Verbrechen und für ihre Situation verantwortlich, sondern der Deutsche, der sich nicht genug um sie kümmert. Hier zeigt sich dann auch, warum Juden als Adressaten deutschen Wohlwollens ausgedient haben: Mit Israel haben sie Verantwortung für sich übernommen; sie lassen sich nicht viktimisieren, protegieren, bevormunden. Sie eignen sich weder für deutsche Selbstdarstellung noch für Projektion.

Nicht aufgearbeitete Schuld, falsch verstandene Verantwortung, mangelndes Geschichtswissen und ein konstruktivistisches Weltbild: eine Mischung, die endlich offenlegt, dass die vielbeschworene Solidarität mit Israel seit langem nurmehr eine politische Floskel ist. Unter der Oberfläche schwelte Antisemitismus unbeobachtet vor sich hin, schließlich hatte man ihn in das Reich des Rechtsextremismus und damit weit von sich gewiesen.

Benebelt von der eigenen moralischen Exzellenz, ausgestattet mit unentschuldbarer Naivität und einem großkotzigen Sendungsbewusstsein: So unterstützt eine dekadente und denkfaule linksakademische Bubble ausgerechnet jene, deren Glaube, politische Haltung und Sozialisierung allem entgegensteht, was man als klassischer „Linksliberaler“ zu schätzen vorgibt: Humanismus, Demokratie, Freiheitlichkeit, Gleichberechtigung, Koexistenz verschiedener Kulturen, Religionen und Lebensweisen. All das wird im Gaza-Streifen, wird in der Westbank nicht gelebt. All das ist nur in Spuren in der muslimischen Welt und in homöopathischen Dosen in der arabischen Welt zu finden. Und doch skandieren diese Einfaltspinsel das Motto ihrer Selbstdemontage zu Gunsten von Judenhass, Tribalismus, Unterdrückung von Frauen, „theokratischer“ Indoktrination, Menschenverachtung, Gewalt.

„Free Palestine from German guilt!“: Als wäre all das nicht genug, übernehmen die linken Demonstranten hier fast wörtlich die neurechte These vom „Schuldkult“, schließen sich jenen an, die das Kind mit dem Bade ausschütten, und tatsächlich bestehende historische Verantwortung negieren wollen. Ein Treppenwitz, über den man leider nicht lachen kann.


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