Erst am Dienstagmorgen gelang es der Polizei, den Attentäter vom Square Sainctelette (in der Brüsseler Innenstadt) zu neutralisieren. Kurz nach acht Uhr früh informiert ein Zeuge die Beamten, er habe den mutmaßlichen Täter in einer Schankwirtschaft in Schaarbeek gesehen. Beim folgenden Polizeieingriff wurde der Mann niedergeschossen. Umgehend wurde seine Wiederbelebung versucht, er starb dennoch im Krankenhaus. Auch das nicht näher bezeichnete Gewehr – vielleicht eine Kalaschnikow, jedenfalls eine Kriegswaffe, wie es in belgischen Medien heißt, sowie einen Beutel mit Kleidung fand man in der Kneipe.
Die Todesopfer des Anschlags waren zwei schwedische Männer, die laut Zeitungsberichten um die 70 Jahre alt waren. Einer der beiden lebte offenbar in der Schweiz. Dass die beiden Trikots des schwedischen Fußballteams trugen, war wohl zu ihrem Todesurteil geworden.
Der 45-jährige Attentäter hieß offenbar Abdesalem Lassoued und war ein Tunesier, dessen Asylantrag vom November 2019 im Jahr darauf abgelehnt worden war. Seiner Pflicht zur Ausreise kam der Tunesier aber nicht nach, lebte weiterhin im Brüsseler Stadtteil Schaarbeek. Den Behörden war er im Zusammenhang mit „Menschenhandel“, illegalem Aufenthalt und Gefährdung der öffentlichen oder staatlichen Sicherheit (sûreté de l’État) aufgefallen, wie der Justizminister Vincent Van Quickenborne mitteilte. Ein ausländischer Dienst hatte zudem Informationen aus dem Jahr 2016 an die belgischen Behörden weitergegeben, nach denen Lassoued ein „radikales Profil“ hatte und ein möglicher Dschihadist sei. Justizminister Van Quickenborne beeilte sich zu bemerken, dass man jeden Tag dutzende solcher Informationen erhalte. Aber das kann wohl kaum zur Beruhigung beitragen.
Nach Aussage eines anderen Asylbewerbers aus Campine in Nordbelgien, den Lassoued belästigt hatte, wäre der nunmehrige Attentäter schon in seinem Heimatland durch „terroristische Taten“ aufgefallen, was sich als falsch herausstellte. Allerdings hatte er sich bereits in Tunesien Rechtsverstöße anderer Art zuschulden kommen lassen. Laut der belgischen Terrorabwehr (dem sogenannten „Joint Information Center“) gab es keine Hinweise auf eine unmittelbare Bedrohung durch den Täter.
De Croo: Mann hat aktiv nach Schweden gesucht
Unklar bleibt, ob man Abdesalem Lassoued als Einzeltäter ansehen muss, wie Innenministerin Annelies Verlinden im Fernsehsender VTM mitteilte. Die Staatsanwaltschaft ermittelt auch in Richtung auf mögliche Komplizen. Laut der Tageszeitung Het Laatste Nieuws sucht die Polizei nach einer zweiten Person, deren Beziehung zur Tat aber unklar sei.
In seinem Video hat sich Lassoued als „Kämpfer des Islamischen Staates“ bezeichnet. Gemäß einer KI-gestützten Übersetzung sagte er: „… im Namen Allahs. Ich liebe, wen er liebt, ich hasse, wen er hasst. Wir leben für unsere Religion und sterben für unsere Religion.“ Das könnten, auch wenn man es nicht wissen kann, durchaus die Worte dieses Terroristen gewesen sein.
Am Dienstagmittag sagte auch Premierminister Alexander De Croo, man habe „bis jetzt keinen Hinweis darauf, dass dieser Mann mit anderen zusammengearbeitet hat“. Der Mann sei zwar polizeibekannt gewesen, doch nicht wegen „gewalttätigem Extremismus“, so De Croo etwas ausweichend. Denn als Gefährder war Lassoued von belgischen und ausländischen Behörden durchaus eingestuft worden. Daher wohl auch De Croos hinhaltende Selbstkritik: „Wir müssen sehen, ob wir hier die richtige Einschätzung getroffen haben. Dieser Mann hat aktiv nach Schweden gesucht, die sich in Brüssel aufhielten, und dann eine absolut feige und wahnsinnige Tat begangen.“
Dann ließ der Liberale wiederum eine ganz allgemeine Aussage folgen: „Wir haben in den letzten Jahren in ganz Europa gesehen, dass die Menschen leider nie vor dieser Art von ‚Einsamer-Wolf-Aktionen‘ gefeit sind.“ Aha – na, dann ist es ja gut, wenn man sich darauf zumindest einstellen kann. Die praktische Erfahrung belegt, dass eine Anpassung kaum möglich ist. Die Menschen neigen eher dazu, eine solche unbestimmt auftretende Gewalt auszublenden, am Ende noch schönzureden. Konsequenzen werden sie aber sicher irgendwann ziehen. Dann verwaisen Innenstädte und werden zu real existierenden No-Go-Zonen.
Auf die Frage, warum der abgelehnte, ausreisepflichtige Asylbewerber noch frei in Belgien herumlaufen durfte, wich De Croo wiederum aus: Der heute tagende Nationale Sicherheitsrat möge sich dazu äußern. Auch die nachgeordneten Behörden müssten feststellen, ob alle entsprechenden Verfahren befolgt worden seien.
Macron: Verwundbarkeit Europas, wo sich Individuen zum Schlimmsten entscheiden können
Auch der französische Präsident Macron schlug einen ähnlichen Ton an wie sein politischer Fahrensmann De Croo, indem er betonte, alle EU-Mitgliedsstaaten seien heute „durch islamistischen Terrorismus verwundbar“. Diese Verwundbarkeit gehöre zur Demokratie und zum Rechtsstaat dazu, wo man Individuen habe, „die sich entscheiden können, das Schlimmste zu begehen“.
Erst am Montagmorgen hatte Macron in einem X-Post daran erinnert, dass der kürzlich von einem tschetschenischen Terroristen ermordete Lehrer Dominique Bernard an diesem Tag an seine Schule zurückkehrt wäre, um den Unterricht fortzusetzen. Bernard starb, als er versuchte, seine Schüler vor dem Attentäter zu schützen. Macron, dessen Frau bekanntlich Lehrerin war, spricht von einem „Kollegen“ und von der Emotion, deren Stunde nun gekommen sei. Das Attentat von Arras hatte überdeutlich an jenes aus dem Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine gegen Samuel Paty vom 16. Oktober 2020 erinnert. Auch die Terroristen wüssten eines, so Macron weiter: „Es gibt keine Republik ohne Schule“, ohne die geduldige Erziehung zum „kritischen Denken“, orientiert an den „Werten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Laizität“, aber auch nicht „ohne die Vermittlung unserer Geschichte, unserer Sprache und einer bestimmten Vorstellung vom Menschen, von dem, was uns als freies und solidarisches Volk ausmacht und zusammenhält“.
Macron fährt in seinem enormen Tweet fort: „Wir haben gehandelt, wir handeln und wir werden weiterhin handeln, damit unsere Schule ein Zufluchtsort für unsere Schüler und für alle, die an ihr arbeiten, bleibt.“ Die Schule sei „stärker als Trauer, Schmerz und Kummer und muss weiterhin ein Bollwerk gegen den Obskurantismus sein. Das wird so bleiben.“ Der islamische Terrorismus ist nun also zum verdunkelnden Obskurantismus geworden, gegen den der neu selbsternannte Sonnenkönig kraftvoll vorgehen will, zugleich aber vorgibt, schon gehandelt zu haben. Ergebnisse sind nicht zu erkennen.
Auf Belgien und die beiden unglückseligen, zu Märtyrern eines freien Europa gewordenen Schweden angewendet, darf man hinzufügen, dass auch die Pflege der nationalen Identitäten – bei Macron halb aufgelöst in „Geschichte, Sprache, Vorstellung vom Menschen“ – zu den Charakteristika Europas gehört, die man sich nicht nehmen lassen darf, nur weil sie Anlass zum Terror bieten. Der Angriff auf die schwedischen Fußballfans in den nationalen Trikots könnte genau darauf gezielt haben, wie auch das niederländische Algemeen Dagblad (AD) spekuliert. Die Identität als Schweden wurde den beiden älteren Männern zum Verhängnis. Dabei mag man auch an die jüngsten Forderungen schwedischer Politiker nach einem wirksamen Schutz vor illegaler Migration denken, die sicher auch in den Reihen des fundamentalistischen Islams bemerkt wurden.
Polizeiaktion verweist auf chronisches Problem der belgischen Hauptstadt
In der Kommune Schaarbeek hat unterdessen eine große Polizeiaktion mit dem Codenamen „Bärenkäfig“ begonnen. Die Gegend um die Place Eugène Verboekhoven sei großenteils evakuiert worden, wie die Tageszeitung Le Soir berichtet.
Belgien und die Stadt Brüssel vor allem haben bereits eine Geschichte des islamistischen Terrorismus hinter sich. Am 22. März 2016 hatte es insgesamt drei Bombenattentate in der Region Brüssel und der Provinz Flämisch-Brabant gegeben, zwei am Flughafen von Brüssel in Zaventem, das dritte in der Metro-Station Maalbeek. 35 Menschen starben, 340 wurden verletzt. Es folgte auch hier eine längere Suche nach den Tätern.
Kurz zuvor, am 15. März 2016, hatte die belgische Polizei in der Kommune Forest bei Brüssel eine Hausdurchsuchung durchgeführt, um die Hintermänner der Pariser Attentate (Bataclan, Stade de France) vom November 2015 zu finden. Einer der Terroristen starb bei der Operation, ein weiterer wurde seinem Prozess in Frankreich zugeführt. Viele der Täter hatten damals Bezüge zum Brüsseler Stadtteil Molenbeek.
Am 20. Juni 2017 gab es einen weiteren Bombenanschlag im Brüsseler Zentralbahnhof. Der damalige Täter wurde umgehend von der Polizei niedergeschossen und blieb solange ohne ärztliche Versorgung liegen, bis das Bombenentschärfungskommando grünes Licht erteilte. Auch dieser Attentäter fand so den Tod.
Terrorgefahr auch in den Niederlanden – und in Deutschland?
Laut niederländischen Nachrichten soll auch das Nachbarland im Norden derzeit ungefähr 500 gefährliche Islamisten beherbergen, was vielleicht sogar noch untertrieben ist. Die Sicherheitskräfte könnten aber, so die offizielle Information, „nicht alle im Auge behalten“.
In Deutschland sprach das Bundesamt für Verfassungsschutz für das letzte Jahr von einem „Personenpotenzial“ von über 27.000 im Bereich „Islamismus/islamistischer Terrorismus“. Die Serie islamistischer Attentate endet in der Version des Verfassungsschutzes im November 2021 mit einem Messerangriff im Zug zwischen Regensburg und Nürnberg.
Das Bundeskriminalamt sieht angeblich nur 500 Personen als dschihadistische „Gefährder“ an, von denen sich die meisten im Ausland befänden, daneben kennt das BKA noch 500 „relevante Personen“ aus diesem Phänomenbereich. Allerdings: Der Generalbundesanwalt hat in diesem Jahr bis Ende August 284 Ermittlungsverfahren gegen 308 Beschuldigte eingeleitet. Es handelt sich um die übergroße Mehrheit der Fälle: 92 Prozent im Bereich Terrorismus gehen auf das Konto des Islamismus.