Der Angriff auf den Süden Israels am vorvergangenen Wochenende war mehr als eine Gräueltat. Diese gefühllose und systematische Ermordung von Zivilisten war nichts weniger als die aufs 21. Jahrhundert zugeschnittene Version eines barbarischen Pogroms. Die Videos, die von Hamas-Leuten beim Abschlachten von Menschen aufgenommen wurden, sind ein erschreckendes Zeugnis menschlicher Verderbtheit. Sie sind den zahlreichen Enthauptungsvideos, die in den letzten Jahrzehnten die Barbarei des Islamischen Staates und anderer Terrororganisationen verherrlicht haben, mehr als ebenbürtig.
Der Anblick des von der Hamas inszenierten Pogroms war erschütternd. Was mich aber fast genauso beunruhigt, sind die selbstgefälligen Stimmen derjenigen im Westen, die sagen, dass Israel für die Barbarei der Hamas verantwortlich ist. Dass es dieses Grauen selbst herbeigeführt hat.
In seiner üblichen selbstgefälligen Art erklärte der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis in einem Interview, dass er die Hamas niemals für diese Gräueltaten anklagen würde. Er zeigte mit dem Finger auf Israel und erklärte, dass „der Weg zur Beendigung des tragischen Verlusts unschuldiger Leben – sowohl palästinensischer als auch israelischer – mit einem entscheidenden ersten Schritt beginnt: dem Ende der israelischen Besatzung und Apartheid“.
Varoufakis‘ Rechtfertigung der Gräueltaten an jüdischen Männern, Frauen und Kindern erscheint zivilisiert im Vergleich zu den Reaktionen der westlichen Palästina-Solidaritätskampagnen. Viele von ihnen haben dieses Pogrom aktiv gefeiert. Ein Redner bei einer „All Out for Palestine“-Demonstration vor dem israelischen Konsulat in New York schien der Meinung zu sein, dass die systematische Ermordung von 260 jungen Menschen auf dem Supernova-Musikfestival hervorragendes „Comedy“-Material liefert. „Wie Sie vielleicht gesehen haben, gab es dort eine Art Rave oder Wüstenparty, bei der sie sich prächtig amüsierten“, sagte er, „bis der Widerstand in elektrifizierten Drachenfliegern kam und mindestens mehrere Dutzend Hipster ausschaltete.“ Der vor dem israelischen Konsulat versammelte Pöbel reagierte auf diesen „Witz“ über den Massenmord und die Entführung von „mehreren Dutzend Hipstern“ mit schallendem Gelächter.
Immer wieder werden diese Gräueltaten entschuldigt und ihre Opfer entmenschlicht. Dr. Mennah Elwan, eine Ärztin des britischen Gesundheitswesens, versuchte, den Angriff der Hamas auf unschuldige israelische Zivilisten zu entschuldigen, indem sie behauptete, dass diese um ihr Leben fliehenden Jugendlichen gar keine Zivilisten seien, weil es „in Israel keine Zivilisten gibt“. Dann sagte sie über vor Hamas-Leuten fliehende Feiernde: „Wenn es euer Zuhause wäre, würdet ihr bleiben und kämpfen.“
Entkolonialisierungs-Pogrom
Am Samstag, als das Pogrom gegen die Juden in Israel noch andauerte, hatte die somalisch-amerikanische Journalistin Najma Sharif das Bedürfnis, ihre Follower auf X daran zu erinnern: „Was habt ihr denn gedacht, was Entkolonialisierung bedeutet? Vibes? Fachaufsätze? Essays? Verlierer.“ Dass sie ein blutiges Pogrom mit den Zielen der „Entkolonialisierungs“-Bewegung an westlichen Universitäten in Verbindung bringt, ist aufschlussreich.
Die „Entkolonialisierer“ senden, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht, eine unmissverständliche Botschaft an die Welt: „Kein Grund, zimperlich zu sein; schließlich sind es nur Juden.“
Es ist zutiefst beunruhigend, dass so viele Menschen gegenüber dem Anblick der aufgetürmten Leichen, der gedemütigten und brutalisierten Frauen und alten Menschen so desensibilisiert zu sein scheinen, dass sie bereit sind, in den Chor des „Israel hat es verdient“ einzustimmen. Was wir hier sehen, ist etwas sehr Finsteres und Heimtückisches – nämlich die aufkommende Vorstellung eines „entschuldbaren Pogroms“.
Offener Vernichtungswille
Tragischerweise ist es nichts Ungewöhnliches, dass extremistische „antizionistische“ Stimmen in Europa den Holocaust rechtfertigen oder feiern. So stürmte beispielsweise am Bastille-Tag 2014 ein Mob von Anti-Israel-Demonstranten eine Synagoge in Paris voller Gemeindemitglieder. Die Demonstranten riefen Slogans wie „Tod den Juden“ und „Hitler hatte Recht“.
Ähnliche Sprechchöre gab es nach dem Pogrom der Hamas. Wenn man pro-palästinensische Demonstranten hört, die „Vergast die Juden“ skandieren, wie sie es diese Woche vor dem Opernhaus in Sydney getan haben, ist man versucht, sie als Spinner abzutun. Aber man kann einer unbequemen Schlussfolgerung kaum entgehen – nämlich, dass die klassische antisemitische Version des entmenschten Juden ein Comeback erlebt, wenn auch in einer neuen kulturellen Form.
Dies stellt eine bedeutende Veränderung der Art und Weise dar, wie Antisemitismus im 21. Jahrhundert funktioniert. Bis vor kurzem waren viele im Westen besorgt über die Bedrohung, die von der Holocaust-Leugnung durch die extreme Rechte ausgeht. In der neuen Form des Judenhasses gibt es jedoch kaum mehr so etwas wie eine Leugnung. Die „Hitler hatte Recht“-Haltung behandelt den Holocaust offen als etwas Positives. Sie fordert eine weitere Vergasung von Juden. In der Tat läuft es auf eine Forderung nach dem Holocaust 2.0 hinaus.
Indem die Hamas offen für das Abschlachten von Juden schwärmt und es vorantreibt, hat sie gezeigt, dass sie auch kein Interesse daran hat, ihre völkermörderischen Absichten zu leugnen. Sie stellt ihren Wunsch, Juden zu vernichten, jedem gegenüber zur Schau, der sich ihre Videos ansehen möchte. Dennoch gibt es eine weit verbreitete Tendenz bei einem kleinen Teil der westlichen Gesellschaft, dieses Verhalten zu rechtfertigen oder zu ignorieren.
Der Mangel an Empathie für die Opfer des Hamas-Pogroms ist auffällig. Das zeigt, dass anti-israelische Propaganda und die Dämonisierung jüdischer Menschen heute Hand in Hand gehen. In der Vergangenheit haben sich die Gegner des Zionismus stets bemüht, sich vom Antisemitismus zu distanzieren. Doch damit ist jetzt Schluss.
Die Gegner Israels setzen heute bewusst klassische antijüdische Argumentationsweisen ein, um ihre Ziele durchzusetzen. Folglich geht die Hervorhebung Israels als einzigartige Quelle der Bösartigkeit mit dem Versuch einher, Juden zu entmenschlichen – ja, den moralischen Status der jüdischen Identität in Frage zu stellen.
In den letzten Jahrzehnten hat sich eine nahöstliche Version der antijüdischen Haltung mit dem klassischen europäischen Antisemitismus vermischt. Und sie hat sich sogar noch weiter entwickelt, indem sie von der westlichen Identitätspolitik genährt wird. Aus diesem Grund wird ein antijüdisches Pogrom derzeit von linken Identitären als Musterbeispiel für die Entkolonialisierungs-Politik angepriesen.
Woker Antisemitismus
Das Wiederaufleben der antijüdischen Ideologie ist in der Tat untrennbar mit dem Aufstieg der Identitätspolitik verbunden. Auf den ersten Blick ergibt die identitäre Wende gegen Juden wenig Sinn. Schließlich beruht die Identitätspolitik auf der Erfahrung der Opferrolle. Sie definiert und ordnet Gruppen nach ihrem jeweiligen Anspruch auf einen Opferstatus. Und keine andere Gruppe ist so viktimisiert worden wie die Juden während des Holocausts. Man sollte daher meinen, dass die jüdische Identität von den Identitären gefeiert würde. Doch gerade wegen der moralischen Autorität, die den Juden durch den Holocaust verliehen wurde, sind die Juden in den Mittelpunkt der Ressentiments konkurrierender Identitätsgruppen gerückt.
Seit der Wende zum 21. Jahrhundert stellen die Anhänger der Identitätspolitik die Juden als mächtige, privilegierte Aggressoren dar – und vor allem als Unterdrücker der Palästinenser. Dank der Bemühungen dieser Identitären ist die jüdische Identität zu dem geworden, was der Soziologe Erving Goffman als „verdorbene Identität“ bezeichnete – eine Identität also, der jegliche erlösende moralische Qualität fehlt. Es handelt sich um eine Identität, die zu Stigmatisierung und Verachtung einlädt. Daher auch die jüngsten Kampagnen gegen die jüdische Praxis der männlichen Beschneidung und die Versuche, koscheres Fleisch in Teilen Europas zu verbieten. Durch solche Kampagnen werden die jahrhundertealten Praktiken des jüdischen Volkes nach und nach als unmenschlich hingestellt.
Traurigerweise scheint das aufgegangen zu sein. Die Identitätspolitik hat dem Antisemitismus effektiv Auftrieb verliehen und ihn weißgewaschen. Der moralische Status der Juden wurde gründlich abgewertet. Im März 2021 gab es in der Politiksendung Politics Live der BBC eine bizarre Debatte über die Frage, ob Juden eine ethnische Minderheit sind oder nicht. Offenbar wurde dies in Frage gestellt, weil einige Juden Macht- und Einflusspositionen erreicht haben. Mit anderen Worten: Sie haben sich in die Reihen der Unterdrücker eingereiht. Aus diesem Blickwinkel ist das „jüdische Privileg“ nicht mehr als eine extreme Variante des weißen Privilegs.
Hinter der Kampagne zur Abwertung des moralischen Status jüdischer Menschen liegt die Pathologisierung Israels in Lauerstellung. So wie die Juden als hyperweiße Symbole der weißen Vorherrschaft dargestellt werden, ist Israel zum Musterbeispiel für westliche Unterdrückung und Imperialismus avanciert. Auf diese Weise sind die Juden wieder zum universellen Sündenbock des 21. Jahrhunderts geworden.
Heute erleben wir das Zusammentreffen von drei verschiedenen Strömungen antijüdischer Haltungen – islamistisch, traditionell europäisch und identitär –, die den Antisemitismus wiederbelebt haben. Das ist der Grund, warum der Verlust jüdischer Leben auf solche Gleichgültigkeit stößt, selbst bei einer vermeintlich glühenden Verfechterin der Menschenrechte wie Maggie Chapman.
In Teilen der westlichen Linken ist der Jude heute so gründlich entmenschlicht, dass man bereit ist, ein Pogrom zu rechtfertigen. Wer mit den Nazis kollaborierte, behauptete oft, nicht gewusst zu haben, dass die Nazis die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung planten. Die linken Kollaborateure von heute haben keine solchen Ausreden. Die von der Hamas begangenen Gräueltaten sind für alle sichtbar.
Frank Furedi ist geschäftsführender Direktor des Think-Tanks MCC-Brussels, Autor zahlreicher Bücher und politischer Kommentator der Gegenwart. Mehr von Frank Furedi lesen Sie in den aktuellen Büchern „Die sortierte Gesellschaft – Zur Kritik der Identitätspolitik“ und „Sag was du denkst! Meinungsfreiheit in Zeiten der Cancel Culture“ sowie bei Substack.