Wir haben zu viele Migranten. Das sage nicht ich, so wird Bundeskanzler Olaf Scholz zu Beginn der letzten Illner-Sendung zitiert. Es ist wieder 2015 und das Thema Asylpolitik wird wieder durch die Talkshows getrieben. „Abschreckung statt Aufnahme – ändert Deutschland die Asylpolitik?“ lautete der Titel. Zu Gast bei Maybrit Illner an diesem schönen Oktoberabend sind: der Parteivorsitzende der Grünen Omid Nouripour, der parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU Bundestagsfraktion Thorsten Frei, der Kieler Oberbürgermeister Ulf Kämpfer (SPD), der Migrationsforscher Gerald Knaus, der Professor für Soziologie und Migrationsforschung Ruud Koopmans und die Focus-Chefreporterin Anja Maier.
Schon anerkennenswert, dass das Illner-Team es geschafft hat, zwei Migrationsexperten für die Sendung zu gewinnen, dafür, dass man sich doch absolut gar nicht vorstellen kann, was die den ganzen Tag machen. Haben die sich ein Schlauchboot genommen und die Fahrt übers Mittelmeer protokolliert? Oder Schlepper nach der besten Route durch die Wüste befragt?
Nun hat sich der Ton in der Debatte gewandelt. Wir sprechen zwar nach wie vor über die gleichen Aspekte – was beweist, dass Merkels „Wir schaffen das“-Kurs nichts gelöst, sondern das Problem lediglich aufgeschoben hat. Aber während es früher fast ausschließlich darum ging, dass wir ja „Menschen geschenkt“ bekommen, die „wertvoller als Gold“ sind und wie gut das dem demographischen Wandel entgegenwirken kann, haben die emotionalen Phrasen spürbar abgenommen. Vielmehr wird von einem „Gamechanger“ gesprochen. Diesen Gamechanger, der alles richten und ändern soll, muss man zwar erst noch finden. Wirkliche Vorschläge gibt es nicht. Aber wenigstens steht das Wort im Raum. Es klingt nach einem Neuanfang, was für so ein altes Thema doch sehr passend ist.
Tatsächlich stach Nouripour mit seinem Ton lediglich hervor. Auch er ist ein Opfer der Tücken der Politik geworden – sie scheint einem regelrecht die Lebenskraft auszusagen. Nouripour ist nicht vor Ort, sondern zugeschaltet. Die verpixelte Auflösung betont seinen unordentlichen Wochenbart, Augenringe dominieren sein Gesicht, der Ton klingt genervt und gereizt. So unrecht hatte Emilia Fester vielleicht doch nicht, als sie davon quiekte, ihre Jugend zu opfern. Auch die Illner-Sendung könnte dem Grünenchef das eine oder andere graue Haar verschafft haben, aktuell wird die Sonnenblumenpartei zum Bauernopfer der Asylpolitik.
Auch wenn mein Mitleid sich mit den Grünen in Grenzen hält – dieser Umgang ist nicht ganz fair. Immerhin waren sowohl eine SPD-Genosse als auch ein CDU-Mann anwesend. Die beiden Parteien, die 2015 tatsächlich federführend in der Verantwortung standen. Doch Ulf Kämpfer ist als Bürgermeister einer überlaufenen und überforderten Stadt zu Gast und Thorsten Frei als Opposition. Damit bleibt alles an Nouripour hängen.
Nun, aber was ist denn nun das Problem? Klar wird das nicht. Mit dem Ukraine-Krieg wird schon gar nicht mehr richtig klar, über welche Flüchtlinge wir überhaupt sprechen. Nur aus dem Kontext heraus – in dem besonders oft über Schlepper und das Mittelmeer gesprochen wird – ergibt sich dann doch, dass es wieder um die gleiche geografische Richtung geht, wie 2015 schon. Außerdem werden ukrainische Flüchtlinge immer ausdrücklich als solche bezeichnet. Nun haben wir aber immer noch ein Problem: Denn schon 2015 war nicht so wirklich klar, wo die Flüchtlinge herkommen und ob es sich wirklich um Flüchtlinge handelt.
Auch wenn wir einfach annehmen würden, dass es sich nur um Syrier aus Kriegsgebieten handelt, ist das Problem nicht klar, abseits vom Platzproblem. Nouripor erklärt derweil: „Wir reden davon, dass wir alle doch ein Interesse haben sollten, wenn wir ein Herz haben, dass die Leute nicht verrecken im Mittelmeer.“ Dafür müsse man auch schwere Wege gehen, fügt er hinzu. Die Sache ist nur, dass man im aktuellen Klima gar nicht mehr weiß, was er mit diesen schweren Wegen meint. In zu kleine Unterkünfte pferchen? Abschieben? Nicht mehr aus dem Mittelmeer fischen? Doch alle aufnehmen? Seine Partei ist sich da selbst nicht einig, scheint es. Umso höher der Posten, desto mehr tendieren die Grünen zu härteren Asylpolitik. Nur Annalena Baerbock ist kürzlich zurückgerudert, weil sie Ärger von der Basis bekommen hat. Die Basis steht derweil felsenfest zu „Wir haben Platz.“
Bijan Djir-Sarai sagte zum Migrationskurs der Grünen: „Die Grünen sind in der Migrationspolitik ein Sicherheitsrisiko für das Land und erschweren durch realitätsferne Positionen konsequentes Regierungshandeln.“ Djir-Sarai ist FDP-Generalsekretär und wie man vielleicht am Namen hört, nicht direkt der typische Nazi-Kandidat. Trotzdem will Nouripour für diese Äußerung viele Entschuldigungsschreiben aus der FDP erhalten haben „von Leuten, die sich geschämt haben“. Das Traurige an der Magenta-FDP ist, dass man das sogar glaubt. Innerhalb der FDP ist man sich selbst der Nächste und den Grünen noch näher. Doch man braucht gar nicht auf der Planlosigkeit der Grünen herumhacken, denn während man erstmal annehmen würde, dass der Ton weniger emotional aufgeladen ist, weil Abschiebung inzwischen nicht mehr mit Mord gleichgesetzt wird, bleibt die Debatte so oberflächlich und nichtssagend, dass sie – im Nachhinein reflektiert – absolut belanglos war.
Nur wenn der ÖRR sie von links angreift, kann die Union sich zur konservativen Hoffnung aufbauen. Den einen oder anderen abgewanderten Wähler könnte man so zurückerobern – doch dazu ist die CDU zu blöd. Selbst wenn sie den Wahlkampf vom ZDF auf dem Silbertablett serviert bekommt, schafft es die Union, sich so ungeschickt anzustellen, als hätten sie keinerlei Regierungserfahrung. Und so erklärt Thorsten Frei, dass die Zitate von Merz ja zum Teil wieder zurückgenommen und zum anderen Teil aus dem Kontext gerissen wurden. Die CDU spiegelt Deutschland in der Asylkrise wunderbar wider. Beides ist das Werk von Angela Merkel. Beides wird womöglich nie mehr sein, wie es mal war.