Fünf Jahre lang habe ich in Sachsen gelebt; fünf Jahre lang habe ich die Geschichten der Leute, die mir dort begegneten, ins Rheinland getragen, um zuhause von meiner Wahlheimat zu erzählen. Das Ergebnis: Ernüchternd. Während ich richtiggehend „ver-ostete“, mir die Unterdrückungs- und Enttäuschungssgeschichte meiner Mitbürger anzueignen suchte, und einen immer resignierteren Blick auf westdeutsche Überheblichkeit entwickelte, erlebte ich die Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit meiner Westverwandten und -freunde als frappierend. Ich musste erkennen, dass die meisten nicht etwa eine Mauer in den Köpfen hatten, sondern einen großen blinden Fleck auf ihrer geistigen Landkarte Deutschlands.
Mit dieser Erfahrung völligen Desinteresses hatte sich für mich eines der großen Rätsel gelöst, die ich seit meiner Kindheit mit mir herumgeschleppt hatte: Ich hatte nie verstanden, warum der Tag der Deutschen Einheit nicht so begangen wurde, wie der 4. Juli in den USA oder der 14. Juli in Frankreich. Hatten wir nicht viel mehr Berechtigung, fröhlich zu feiern? Wir hatten schließlich eine unblutige Wende, die Beendigung von Unterdrückung und Trennung errungen. Viel sympathischer etwa als die Franzosen, die gerade den Beginn von Angst und Terror zur Grundlage ihrer nationalen Identität erkoren hatten!
Doch auch nach dreiunddreißig Jahren hat sich kein gemeinsames Gedenken, geschweige denn ausgelassenes Feiern etablieren können. Statt Feuerwerk, Fahnenmeer und Kunstflugformationen warten vor allem floskelreiche und bedeutungsschwangere Ansprachen; kein Wunder, dass dieser Tag für die meisten Bürger lediglich arbeitsfrei, und, falls günstig gelegen, einen Brückentag bedeutet.
Den Deutschen fehlt in weiten Teilen ein belastbares Fundament einer gemeinsamen Identität. Diesen Mangel zu beheben, bedeutet nun keinesfalls, dass man in einen blinden, geschichtsvergessenen Nationalismus abgleiten müsste – es ist durchaus verdienstvoll, dass sich Deutsche dazu bereit erklärt haben, die dunklen Seiten der eigenen Vergangenheit nicht zu exkulpieren und nicht zu verdrängen. Aber selbst da, wo ein bedeutendes Ereignis durchaus Anlass dazu böte, als identitätsstiftend wahrgenommen zu werden, scheut man sich hierzulande, es aufzugreifen, und fruchtbar werden zu lassen.
Die deutsche Wiedervereinigung ist vor allem ein Grund zu Dankbarkeit: Vierzig Jahre lang blieb ein prägender Teil des kulturellen Gedächtnisses Deutschlands einem großen Teil der Bundesbürger verwehrt. Weimar, Wartburg, Thomaskirche waren nicht leicht und jederzeit erreichbar. Auf der anderen Seite wurden Deutsche Opfer eines Unrechtsstaates, genossen keine Meinungs- und Glaubensfreiheit, und waren vielerlei Schikanen ausgesetzt. Auf beiden Seiten der Mauer: der Schmerz auseinandergerissener Familien. Dies überstanden, überwunden zu haben, wäre in jedem anderen Land der Welt Anlass zu bleibender, überschäumender Freude. In Deutschland aber bevorzugt man den Miesepeter. Was nicht alles besser hätte laufen können! Doch während man sich mit Bedenken trägt, wird gleichzeitig munter verdrängt, was aufgearbeitet gehört. Das betrifft natürlich einmal das DDR-Regime selbst, das in der Schulbildung viel zu wenig und viel zu kurz thematisiert wird, und dessen verbrecherische Qualität sich in Gänze bis heute nur jenen erschließt, die sich wirklich damit beschäftigen wollen. Schließlich aber ignoriert man auch weithin die Wirren der Wendezeit, den Ausverkauf des Ostens, die zerbrochene Lebensentwürfe und die große Enttäuschung, die kaum je ehrlich angesprochen werden.
Ein Blick auf unsere Nationalhymne könnte hier erhellend wirken: Sie lehrt uns, dass Einigkeit und Recht zusammengehören. Nun sind Einigkeit und Einheit nicht einfach gleichzusetzen. Dennoch sind sie eng miteinander verknüpft. Denn nationale Einheit lässt sich nur bewahren, wenn Einigkeit besteht, wenn ein Band der Gemeinschaft und der Eintracht, des gemeinsamen Strebens, die unterschiedlichen Menschen verbindet. Wenn Einheit mehr als nur oberflächlich sein soll, muss sie mit Recht und Gerechtigkeit einhergehen. Wenn wir den Tag der Deutschen Einheit wirklich feiern und nicht nur „begehen“ wollen, müssen wir uns auch dem stellen, was wir lieber früher als später unter den Teppich der Geschichte gekehrt hätten. Dann könnte das, was praktisch zusammengewachsen ist, auch innerlich einen größeren Zusammenhalt gewinnen. Dann würden ostdeutsche Identitäten nicht als Anhang behandelt, sondern als gleichberechtigter Ausdruck deutschen Bewusstseins. Dann böte die Wiedervereinigung Ressourcen, um ein identitäts- und einheitsstiftendes Selbstbild zu entwickeln.
Stattdessen aber verfolgt man die gegenteilige Strategie: Die Gräben, die Deutschland durchziehen, werden nicht aufgeschüttet, sondern sukzessive verbreitert. Zwar sind sie längst nicht mehr nur an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze orientiert, sondern ziehen sich kreuz und quer durch die gesamte Gesellschaft. Aber durchaus hat man diese imaginäre Demarkationslinie wiederentdeckt, um sich das Leben leichter zu machen: Der Osten wird mit Vorliebe von Politikern und Medien als Schutthalde verstanden, auf der man alles abladen kann, womit man sich „im Westen“ nicht auseinandersetzen möchte: Ob Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, oder Politikverdrossenheit, alles ostdeutsche Phänomene, die die Gesamtperformance deutscher Moralität statistisch signifikant senken – kein Wunder, so die Soziologen, im Osten hat man ja schließlich Demokratie nie ordentlich erlernen können. Es stellt sich zwar die Frage, wie lange man diese Illusion angesichts der anstehenden Wahlen aufrechterhalten kann – schädlich für das gesellschaftliche Klima ist sie allemal.
Durchaus führt diese Strategie zu einer Form von Einheit – die sich allerdings vorrangig über Ausgrenzung definiert. Echte Hoffmannsche Einigkeit wird dadurch nicht erzielt – und es ist offensichtlich, dass damit die Worte unserer Nationalhymne kaum je mehr sind als Lippenbekenntnisse. Das ist äußerst schade. Denn anders als viele Hymnen, die pathosgetränkter Nationalromantik frönen, oder martialisch zum Kampf rufen, bietet uns die dritte Strophe des „Lieds der Deutschen“ eine ziemlich realistische Einschätzung dessen, was die Wohlfahrt einer Nation ausmacht: Nicht imperialistisches Säbelrasseln, nicht Kollektivismus, nicht einmal die Vision nationaler Glorie, sondern eben jene Paramater: Freiheit, die ihre Begrenzung im Recht findet, Recht, das Freiheit zu bewahren und zu schützen hat, und Einigkeit, die ein gemeinsames Fundament für den Erhalt von Recht und Freiheit schafft.
Nüchterner und klarer kann ein Rezept für nationales „Glück“ kaum ausfallen. Es ist an der Zeit, dass Regierung und Volk sich dieses Rezepts wieder entsinnen, und es beherzigen. Damit der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht weiter erodiert; damit Deutschland auf seinem steinigen, von Irr- und Umwegen gekennzeichneten Weg zur eigenen Identität ein Stück weiterkommt. Damit wir unseren Nationalfeiertag irgendwann einmal auch gebührend gemeinsam feiern können.