Tichys Einblick
Verstimmungen kurz vor der Wahl in Polen

Polen und die Ukraine: Der Ton kippt ins Undiplomatische

Laut Kalender sollten in diesem Herbst in der Ukraine Parlamentswahlen stattfinden. Der Krieg hat die Pläne der Akteure am Dnepr komplett umgeworfen. Für einige von ihnen bringt der veränderte Zeitplan gar Vorteile mit sich. Der Getreidestreit mit Polen bringt allerdings keinem etwas.

IMAGO

Der Krieg in der Ukraine dauert nun schon beinahe 600 Tage an. Nach der ukrainischen Verfassung ist es verboten, in Zeiten des permanenten Ausnahmezustands Wahlen durchzuführen. Nun könnte man in einer Notsituation einige ihrer Absätze „umformulieren“ bzw. „zurechtbiegen“. Als der Vorsitzende der Werchowna Rada Ruslan Stefantschuk unlängst einen solchen Vorschlag unterbreitet hatte, stellten jedoch die ukrainische Medienvertreter, Oppositionspolitiker sowie Rechtsexperten die Frage nach der Belastbarkeit seiner Argumente: Würden konstitutionelle Veränderungen nicht die demokratischen Fundamente eines Landes schleifen, das auf dem Weg gen Westen ist?

Verfassungsrechtliche Bedenken

Ein baldiger Urnengang – trotz widriger Umstände – käme dem Chefideologen der Selenskyj-Partei Sluha Narodu durchaus entgegen. Die aktuelle Regierung und der Präsident erfreuen sich wachsender Popularität. Bessere Umfragen als sie haben derzeit lediglich die ukrainischen Soldaten. Die diesjährigen Parlamentswahlen in der Ukraine wurden zwar schließlich abgesagt und die Regierungspartei bleibt laut Verfassung ja ohnehin an der Macht. Vor einigen Wochen hat die Werchowna Rada den Kriegszustand vorerst bis Mitte November verlängert und es ist anzunehmen, dass dies noch mehrmals passieren wird. In einigen politischen Lagern in der Ukraine und im Westen wurde aber der Vorwurf laut, Wolodymyr Selenskyj und seine Equipe benutzten den Kriegszustand, um den Fortbestand ihrer Regierung als eine unabänderliche Naturtatsache zu behandeln. Zugegeben: offensichtlich gibt es keine Vereinbarkeit von Demokratie und Krieg, ganz gleich, von welcher Seite man argumentiert.

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Würde Selenskyj trotz des Krieges die Parlamentswahlen bereits in diesem Herbst anordnen, so verstieße er gegen die Verfassung. Hält er keine ab, dann sei er ein rücksichtsloser „Diktator“ und Anführer eines „Einparteienstaats“, der seine Macht mit unfairen Mitteln konsolidiere. Andererseits könnte er dem Westen beweisen, dass die ukrainische Demokratie auch in Kriegszeiten funktionieren könne. Um sich selbst muss er sich keine Sorgen machen, wo doch sämtliche Umfragen die Partei Sluha Narodu auf Siegerstraßen sehen. Tatsache ist aber auch: An dieses Land aktuell westliche Maßstäbe anzulegen, wäre sachunangemessen und sinnlos. Daher ist die jüngst von den Abgeordneten der Werchowna Rada getroffene Entscheidung richtig.

Wie die Ukraine solche Urnengänge inmitten eines Verteidigungskriegs abhalten sollte, bleibt nach wie vor ungeklärt. In diesem Zusammenhang müssen die Verantwortlichen in Kiew zahlreiche komplexe, sicherheitstechnische sowie außenpolitische Gesichtspunkte abwägen. Weil das Kriegsrecht gleichsam alle politischen Kundgebungen untersagt, geriete der Wahlkampf zu einem unmöglichen Unterfangen. In frontnahen Gebieten, wo unaufhörlich russische Bomben fallen und zahllose Ukrainer jeden Tag um ihr Leben bangen, können sichere Wahlen kaum gewährleistet werden. Manche plädieren dafür, derlei Plebiszite im Internet abzuhalten. Dies allerdings böte mehr Raum für mögliche Wahlfälschungen. Zudem sind mehrere Millionen ukrainische Staatsbürger aus dem Land geflohen. Jetzt zeitnah in Polen oder Deutschland für sie alternative Möglichkeiten zur Stimmabgabe zu organisieren, gliche einer ungeplanten Mondlandung. Und was ist mit den ukrainischen Wahlberechtigten in den von Russland besetzten Gebieten?

Präsidentschaftswahlen im Frühjahr

Im Hinblick auf die für März 2024 angesetzten Präsidentschaftswahlen gibt es hingegen keine eindeutigen verfassungsrechtlichen Verbote. Bei seinem Amtsantritt im Jahr 2019 hatte Selenskyj allerdings den Wählern versprochen, er würde „unter keinen Umständen“ ein zweites Mal kandidieren. Jetzt schließt er es nicht mehr aus. Nun, ein Krieg verändert gelegentlich die eigenen politischen Ambitionen. Der einst nur national bekannte Schauspieler ist inzwischen so etwas wie ein „Weltstar“.

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Selenskyj würde im Frühjahr ohne Zweifel auf einen erneuten Wahlsieg zusteuern (unabhängig vom Erfolg oder Misserfolg der ukrainischen Gegenoffensive), jedoch wäre sein Wahlkampf äußerst unfair. Dass der beliebte Staatschef durch den Krieg eine politische Dominanz erlangt hat, die demokratisch problematisch ist, lässt sich nicht abstreiten. Gerade auch, was die Kiewer Medienlandschaft anbelangt. Bemessen an den uns geläufigen Kriterien, sieht die Ukraine aktuell nicht gut aus. Die zuvor existierenden Fernsehkanäle, die von einem für dieses Land bemerkenswerten Pluralismus geprägt waren, wurden abgeschaltet oder zu einem „Telemaraton“ umfunktioniert. Dieser erfüllt in Kriegszeiten zwar die wichtige Funktion, eine Nation zusammenzuhalten, birgt indessen auch den Nachteil, dass die Medien zu einem einseitigen Propagandainstrument einer einzigen Partei verkommen.

Zwei Monate nach Kriegsausbruch wurden drei TV-Sender abgeschaltet, von denen zwei dem einstigen Staatsoberhaupt und Selenskyjs Widersacher Petro Poroschenko gehören. Die ukrainische Opposition ist fast ausschließlich nur im Internet präsent. Die parlamentarische Streitkultur in Kiew ist währen des Kriegs zwar besser und ruhiger geworden. Die Prügeleien in der Werchowna Rada, die im Westen bei zahlreichen Zuschauern für Erheiterung sorgten, haben inzwischen Seltenheitswert. Die gemeinsame Front gegen den russischen Feind hat eine Vielzahl an innenpolitischen Gräben zugeschüttet. Doch der Machtkampf wird hinter den Kulissen fleißig fortgeführt. Sichtbar für den Westen wurde er im Vorfeld des Nato-Gipfels in Vilnius im Juli, als die Gefolgsleute Selenskyjs und regierungsnahe Medien Petro Poroschenko die Reise nach Litauen verweigern wollten. In Zeiten unmittelbarer äußerer Bedrohung fällt es dem aktuell amtierenden Staatsoberhaupt gewiss leichter, jedweden für ihn unbequemen Oppositionspolitiker als „Handlanger Putins“ zu bezeichnen.

Dabei sollte er sich freuen, denn eine gesunde politische Debatte in seinem Land wäre doch ein Anzeichen dafür, dass die Ukraine mit den westlichen Ländern Schritt zu halten vermag, was sich der ehemalige Komiker im Grunde genommen auch erhofft. Wenn die Opposition in der Ukraine zum nächsten Rundumschlag gegen Selenskyj ausholt, dann vor allem weniger aus „prorussischen“, denn aus patriotischen Beweggründen. So wird ihm beispielsweise vorgeworfen, er habe seine Landsleute nicht hinlänglich auf den Krieg vorbereitet und vor dem 24. Februar 2022 alle Warnungen aus Washington in den Wind geschlagen. Der ukrainische Präsident selbst bestreitet dies. Dass aber zum Beispiel der anfängliche Verlust von Cherson vom Massenverrat innerhalb des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU begünstigt wurde, dessen Chef obendrein Selenskyjs guter Freund war, steht außer Zweifel. Der Staatschef hatte ihn daraufhin gefeuert, jedoch auch nur, weil internationaler Druck auf ihm lastete.

Personelle Wechsel

Gefeuert wurde unlängst auch der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow. Dieser im Westen überaus beliebte Politiker, der auf dem diplomatischen Parkett sämtliche Instrumente beherrscht, weckte am Dnepr schon lange keine positiven Gefühle mehr. Seine Absetzung war nicht etwa der zeitweise stockenden Gegenoffensive geschuldet. Überteuerte Winterjacken und Lebensmittel haben den Ressortchef zu Fall gebracht, wobei die Information, dass das bestellte Rüstzeug überhaupt nicht wintertauglich sei, für zusätzliches Kopfschütteln sorgte. Als sich dann herausstellte, dass das Verteidigungsministerium Uniformen bei einer Firma bestellt hätte, dessen Eigentümer vorher als „Staatsverräter“ gebrandmarkt wurde, musste Resnikow schließlich den Schreibtisch räumen. Die verdiente Strafe lässt unterdessen auf sich warten. Der 57-jährige wird bereits als neuer ukrainischer Botschafter in London gehandelt. Es darf bezweifelt werden, dass Resnikow selbst korrupt war, aber er konnte die Probleme in seinem Haus nicht in den Griff bekommen.

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Ein weiteres Ereignis hat im September in der Ukraine die Gemüter erhitzt: Ein Gericht in Kiew hat Untersuchungshaft für den ukrainischen Oligarchen Ihor Kolomojskyj angeordnet. Ihm werden Betrug und Geldwäsche vorgeworfen. Selenskyj hatte sich zuletzt zunehmend von seinem einstigen Förderer distanziert. Der Präsident schickt seinen eigenen Wählern sowie dem Westen ein unmissverständliches Signal: Er habe der Oligarchie und anhaltenden Korruption in seinem Land den Kampf erklärt. Das Problem ist nur, dass während seiner nun fast fünf Jahre währenden Präsidentschaft die Oligarchen leider Oberhand gewinnen. In der Wirtschaft haben seit Kriegsausbruch von der Regierung beauftragte Übernahmen von Unternehmen die Macht intransparenter Gruppen im Hintergrund erhöht.

Selenskyj setzt zwar immer wieder korrupte Beamte ab, doch das Vorgehen bleibt selektiv. Dies gilt übrigens auch für den Getreidesektor.

Probleme zwischen Kiew und Warschau

In Deutschland wird Polen derzeit als der „Buhmann der EU“ dargestellt. Die polnische Unterstützung für Kiew schien zwar ungebrochen, aber in Zeiten des Wahlkampfs (am 15. Oktober sind Parlamentswahlen) bröckele nun das Bild der „europäischen Mutter Teresa“. Anders ließe sich der polnische Einfuhrstopp für ukrainische Getreidetransporte nicht erklären. Soweit das Narrativ westlicher Medien. Doch so einfach ist es nicht. Noch einmal zur Erinnerung: Weil die üblichen Exportwege für ukrainisches Getreide über das Schwarze Meer durch Russland versperrt sind, hatte Brüssel vor einigen Monaten sogenannte „Solidaritätskorridore“ eingerichtet, folglich Zölle für den Getreideimport abgeschafft, jedoch unter der Bedingung, dass die ukrainischen Landwirtschaftsprodukte die EU-Länder allenfalls durchqueren und erst in den eigentlichen afrikanischen Zielländern landen. So sollten sie zwar durch Polen geleitet werden, aber nicht dort auf den Markt gelangen. Weil dies nicht sonderlich gut funktionierte, verhängte die polnische Regierung bereits im April einen kompletten Einfuhrstopp. Warschau ist zu jeglichen Gesprächen bereit, das Problem ist nur, dass der polnische Markt mit ukrainischem Getreide teilweise überschüttet wurde, was heimische Bauern in arge Bedrängnis brachte. Polen also in diesem Zusammenhang den schwarzen Peter zuzuschieben oder die PiS-Regierung als „unsolidarisch“ zu bezeichnen, wäre höchst unangemessen.

Interessant: Der ukrainische Staatschef hatte die in Brüssel und der Berliner Grünen-Zentrale erzeugte Empörungswelle zusätzlich medial befeuert. Selenskyj hatte gegenüber Polen ein Argument verwendet, das ihm ebenso innenpolitisch eine effiziente Abwehrhaltung ermöglicht. Demnach spiele Polen mit seinem Getreideeinfuhrstopp „zweifellos Putin in die Hände“. In Wirklichkeit sieht es eher so aus: Die ukrainische Landwirtschaft unterscheidet sich von der polnischen immens. Der Export von Agrargütern steht zwar in beiden Ländern für einen Großteil der Ausfuhren. Die bessere Bodenqualität, die höhere Produktion sowie die niedrigen Produktionskosten und Preise für Getreide garantieren der Ukraine aber einen (im Westen kaum vernehmbaren) Vorsprung. Obendrein unterliegen polnische Agrargüter strengen Regulationen, die für die Ukraine nicht gelten. Überdies sind auch in der ukrainischen Landwirtschaft zweifelhafte Oligarchen und Investoren am Werk, die den Konkurrenzkampf aus polnischer Sicht erschweren und undurchsichtiger machen.

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Das hauptsächliche Problem sind also nicht die Größe, Menge und Variabilität der in der Ukraine landwirtschaftlich genutzten Böden. Dass polnische Bauern mit der flächenmäßig zwei Mal größeren Ukraine zuweilen nicht mithalten können, ist ein Phänomen, dem gewöhnlich Sterbliche kaum beikommen werden. Es gibt weitaus größere Probleme. Zur Wettbewerbsverzerrung trägt vor allem auch die im Bereich der ukrainischen Getreideproduktion wütende Korruption bei. Beinahe 70 Prozent der Flächen entfallen auf etwa 50.000 Betriebe, die von mächtigen, auf den Weltmarkt ausgerichteten Agrarholdings gesteuert werden, deren Schwerpunkt auf dem Anbau von Getreide und Ölsaaten sowie der Geflügelzucht liegt. Die Vorgeschichte dieser Entwicklung beherbergt jedoch einige Kapitel, die bei uns nur selten diskutiert werden.

Nach der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991 fand in der Ukraine eine Umverteilung statt, die man – vorsichtig ausgedrückt – als unfair bezeichnen muss. Die meisten Latifundien landeten in den Händen zwielichtiger Oligarchen. Selenskyj versuchte zuletzt tatsächlich eine Veränderung herbeizuführen, was die mächtigen ukrainischen und ausländischen Geldgeber jedoch keineswegs daran hinderte, sie mit allen Mitteln zu umgehen. Hinsichtlich der Arbeitsproduktivität, Mechanisierung und Finanzkraft gibt es innerhalb der ukrainischen Agrarwirtschaft also gegenwärtig enorme Unterschiede. Während die großen Agrarholdings auf moderne westliche Technik setzen, haben kleine Betriebe und Hauswirtschaften kaum Mittel für umfangreiche Investitionen. Oder anders erklärt: Während den meisten Ukrainern der Zugang zu den eigenen Agrarböden (trotz niedriger Preise) jahrelang versperrt blieb, konnten nur die „dicken Fische“ den Getreidesektor dominieren und tun es teilweise bis heute. Sie bewirtschaften derzeit eine Fläche von knapp 9 Millionen Hektar.

Große Agrarkonzerne

Eine der größten und einflussreichsten Firmen in der ukrainischen Landwirtschaft ist UkrLandFarming, die allerdings auf Zypern registriert ist, weil in Kiew gegen deren Chef und Agrarbankier Oleg Bakhmatyuk gleich mehrere Straffverfahren wegen Korruption laufen. Unlängst wurde er erneut in Wien gesichtet, woraufhin der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer abermals aufgefordert wurde, den korrupten Oligarchen auszuliefern. Das ausländische Kapital in der ukrainischen Agrarwirtschaft kommt hingegen hauptsächlich aus den USA (NSH-Group), jedoch u.a. ebenso aus der Schweiz (Glencore) und Deutschland (Bayer).

Die polnische Landwirtschaft ist vielleicht nicht derart ertragreich und konkurrenzfähig, doch sie wächst und kommt dabei glücklicherweise ohne Oligarchen oder ausländische Holdings aus. Mag sie für einige von ihnen wegen der ihr aufgedrückten „Nachhaltigkeitsregeln“ weniger attraktiv wirken, so gedeiht sie vornehmlich dank heimischer Produzenten und Geldgeber.

Polen wird künftig von seiner Rolle als Anwalt der Ukraine in Europa und der Welt kaum abrücken, muss aber auch die eigenen Interessen und Landwirte schützen, sofern es Brüssel nicht zu tun vermag. Nach dem Krieg wird die Situation für die polnischen Bauern allerdings nicht unbedingt einfacher sein. In der Wiederaufbauphase wird die Ukraine auf hohe Kredite und Investitionen angewiesen sein, wobei deren Getreidesektor wieder verstärkt ins Visier ausländischer Konzerne rückt. Glauben Sie uns: Nicht alles in Polen ist Wahlkampf.

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