Tichys Einblick
Tugendpflichten und Rechtspflichten

Bildungspolitik unter Bedingungen der Moderne

Nur wenn ein nicht-finalisiertes Bildungssystem seiner eigenen Handlungslogik folgt, kann es einen nachhaltigen, wenn auch indirekten Beitrag für Wohlstand und Wachstum leisten. Von Norbert F. Tofall

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Bildungspolitik ist in Deutschland seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts primär poli­tische Bildungsplanung zum Zwecke der paternalistischen Gesellschaftssteuerung. Auf breiter politischer Front wird bis heute ignoriert, dass politische Bildungsplanung bereits in der Theo­rie ein Widerspruch in sich ist, welcher in der Praxis dazu geführt hat, dass Schulen und Hochschulen in Deutschland im Kern verrottet sind. In beiden politischen Lagern werden zentralistische Planungsphantasien gepflegt, die Bildungspolitik ent­weder mit Gesellschaftspolitik oder heute verstärkt mit Wirtschaftspolitik verwechseln.

Wäh­rend in der Nachfolge von 1968 die angeblich nicht vorhandene Emanzipation und Partizipa­tion des Bürgers zentral geplant und mittels politischer Bildungsplanung staatlich verordnet wurde, wird heute in beiden politischen Lagern die Bildungspolitik auf die Förderung von Wirtschaftswachstum und Effizienz verpflichtet. Das dominierende Denken verfügt über keine Kategorien, welche die Einsicht fördern könnten, dass sich sowohl „Emanzipation und Partizipation“ als auch „Wirtschaftswachstum und Effizienz“ weder in Berlin noch in München zentral planen lassen.

Zum einen sind derartige Versuche geradezu Idealtypen für die Anmaßung von Wissen. Zum anderen führt diese Politik zur Zerstörung der Strukturbedingungen der modernen Gesellschaft: Die Freiheit und Wohlstand für alle ermöglichende gesellschaftliche Arbeitsteilung, die man in der Sozialtheorie auch als funktionale Differenzierung der Gesellschaft bezeichnet, wird syste­matisch ausgehebelt.

Entgegen dieser ordnungs- und sozialtheoretischen Ignoranz ist hervorzuheben, dass die viel­zitierte „Interdependenz der Wirtschaftsordnung mit allen übrigen Lebensordnungen“ (Walter Eucken) nicht bedeutet, dass alle übrigen Lebensordnungen die Handlungslogik der Wirtschaft annehmen sollen. Die übrigen Lebensordnungen (und damit auch das Bildungssystem) können ihre Leistung für die Gesamtordnung (und damit auch für das Wirtschaftssystem) nur erbringen, wenn sie ihre eigene Handlungslogik bewahren. Gerade in der Bewahrung der eigenen Handlungslogik der gesellschaftlichen Teilsysteme besteht die gesellschaftliche Arbeitstei­lung. Die postmoderne Vernetzung und Zielverknüpfung von Wirtschaft und Bildung ist des­halb nichts anderes als ein prämoderner Formatfehler des Denkens, durch den die Strukturbe­dingungen der modernen Gesellschaft geleugnet sowie Freiheit und Wohlstand für alle in der modernen Gesellschaft gefährdet werden.

I.

Bildung ist nach Immanuel Kant zu den Tugendpflichten zu zäh­len. Tugendpflichten dürfen im Gegensatz zu Rechtspflichten nicht mit Zwang durchgesetzt werden. „Es ist“ dem Menschen „Pflicht: sich aus der Rohigkeit seiner Natur, aus der Tierheit …, immer mehr zur Menschheit, durch die er allein fähig ist, sich Zwecke zu setzen, em­por zu arbeiten: seine Unwissenheit durch Belehrung zu ergänzen und seine Irrtümer zu verbessern.“ Die „moralisch-praktische“ Vernunft „gebietet es ihm schlechthin und macht diesen Zweck ihm zur Pflicht, um der Menschheit, die in ihm wohnt, würdig zu sein.“ Die eigene Bildung ist deshalb ein kategorischer Imperativ. Für Bildungspolitik unter den Strukturbedingungen der modernen Ge­sellschaft heißt dies, dass zwar jeder Mensch kategorisch zur Bildung verpflichtet ist, dass es jedoch ein Widerspruch ist, eines anderen Menschen „Vollkommenheit mir zum Zweck zu machen und mich zu deren Beförderung für verpflichtet zu halten. Denn darin be­steht eben die Vollkommenheit eines andern Menschen, als einer Person, dass er selbst vermö­gend ist, sich seinen Zweck nach seinen eigenen Begriffen von Pflicht zu setzen, und es wi­derspricht sich, zu fordern (mir zur Pflicht zu machen), dass ich etwas tun soll, was kein ande­rer als er selbst tun kann.“

Politische Bildungsplanung ist deshalb ein Widerspruch in sich. Planen kann jeder einzelne Mensch nur seine eigene Bildung. Ein erfolgreiches Bildungssys­tem ist aus diesem Grund durch Nichtfinalität gekennzeichnet und kann sinnvoll nur als eine Vielzahl dezentraler Prozesse konzipiert werden. Die Aufgabe der Bildungspolitik besteht wie die Aufgabe jeder Politik darin, sicherzustellen, dass die je individuellen (Bildungs-)Planun­gen der einzelnen Menschen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen bestehen können. Zur Förderung der Bildung und des wissenschaftlichen Fortschritts kann der Staat die Infrastruktur und einen institutionellen Rahmen für Bildung und Ausbildung zur Verfügung stellen. Den Rest soll er aber den Leh­rern, Hochschullehrern und Wissenschaftlern und den Schülern und Studenten überlassen. Nur die Lehrer, Hochschullehrer und Wissenschaftler und die Schüler und Studenten können die Handlungslogik des gesellschaftlichen Teilsystems Bildung in ihrer täglichen Arbeit in den vielfältigen dezentralen Bildungsprozessen bewahren, so dass im Rahmen der gesell­schaftlichen Arbeitsteilung das nicht-finalisierte Bildungssystem seinen Beitrag für die Siche­rung von Freiheit und Wohlstand in der Gesamtgesellschaft erbringen kann.

II.

In seiner Jenaer Antrittsvorlesung am 26. Mai 1789 unterscheidet Friedrich Schiller den Brot­gelehrten vom philosophischen Kopf. „Anders ist der Studierplan, den sich der Brotgelehrte, anders derjenige, den der philosophische Kopf sich vorzeichnet.“ Der Brotgelehrte wolle durch seinen Fleiß einzig und allein die Bedingungen erfüllen, „unter denen er zu seinem Amte fähig und der Vorteile desselben teilhaftig werden“ könne. Er setze seine Kräfte des Geistes nur darum in Bewegung, „um dadurch seinen sinnlichen Zustand zu verbessern und eine kleinliche Ruhmsucht zu befriedigen.“ Der Brotgelehrte werde seinen ganzen Fleiß nach den Forderungen einrichten, die von dem zukünfigen Herrn seines Schicksals an ihn gemacht werden. „Hat er seinen Kursus durchlaufen und das Ziel seiner Wünsche erreicht, so entläßt er seine Führerinnen – denn wozu noch weiter sich bemühen? Seine größte Angelegenheit ist jetzt, die zusammengehäuften Gedächtnisschätze zur Schau zu tragen und ja zu verhüten, daß sie in ihrem Werte nicht sinken.“

Bezüglich der Frage, ob der Brotgelehrte einen Beitrag zum „Fortschritt der Einsichten und Wissenschaften“ (Kant) und damit indirekt einen Beitrag für Freiheit und Wohlstand der Gesamtgesellschaft leistet, führt Schiller weiter aus, dass den Brotgelehrten jede „Erweiterung seiner Brotwissenschaft beunruhigt …, weil sie ihm neue Ar­beit zusendet oder die vergangene unnütz macht; jede wichtige Neuerung schreckt ihn auf, denn sie zerbricht die alte Schulform, die er sich so mühsam zu eigen machte, sie setzt ihn in Gefahr, die ganze Arbeit seines vorigen Lebens zu verlieren. Wer hat über Reformatoren mehr geschrien als der Haufe der Brotgelehrten? Wer hält den Fortgang nützlicher Revolutio­nen im Reich des Wissens mehr auf als eben diese? Jedes Licht, das durch ein glückliches Genie, in welcher Wissenschaft es auch sei, angezündet wird, macht ihre Dürftigkeit sichtbar; sie fechten mit Erbitterung, mit Heimtücke, mit Verzweiflung, weil sie bei dem Schulsystem, das sie verteidigen, zugleich für ihr ganzes Dasein fechten. Darum kein unversöhnlicherer Feind, kein neidischerer Amtgehülfe, kein bereitwilligerer Ketzermacher als der Brotge­lehrte.“

Das heißt, es ist der Prototyp des Brotgelehrten, der nicht nur keine neuen eigenen Anstrengungen unternimmt, um den wissenschaftlichen Fortschritt zu fördern, sondern der darüber hinaus den wissenschaftlichen Fortschritt und den wissenschaftlichen Wettbewerb behindert und falls möglich vollends ausschaltet.

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Es ist deshalb ordnungspolitisch zu fragen, wie ein nicht-finalisiertes Bil­dungssystem institutionell gestaltet werden muss, damit sich erstens in ihm nicht der Brotge­lehrte auf Kosten des philosophischen Kopfes durchsetzen kann. Zweitens ist zu unter­suchen, durch welche institutionellen Arrangements sich die Handlungsweisen der Brotge­lehrten gegenseitig so begrenzen und strategisch beeinflussen, dass sie den wissenschaftlichen Fortschritt nicht behindern, sondern im Idealfall entgegen der eigenen Absicht sogar voran­bringen. Das heißt allgemein, wie müssen die institutionellen Rahmenbedingungen eines nicht-finalisierten Bildungssystem gestaltet werden, damit der wissenschaftliche Wettbewerb und der wissenschaftliche Fortschritt, also die viel beschworene  Innovationsfähigkeit, geför­dert werden.

Der wissenschaftliche Fortschritt ist keine Wesenheit sui generis, son­dern entwickelt sich aus den mannigfaltigen Interaktionen der Individuen in den vielfältigen dezentralen Bildungsprozessen. Der wissenschaftliche Fortschritt ist das unbeab­sichtigte gesellschaftliche Ergebnis individuellen Handelns. Um wissenschaftlichen Fortschritt als dezentrale evolutionäre Entwicklung zu ermöglichen, muss man in Anlehnung an Kant nach den Bedingungen fragen, unter denen die individuellen Bildungsplanungen des einen mit den individuellen Bildungsplanungen des anderen Menschen nach ei­nem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen bestehen können. Es muß sichergestellt wer­den, dass das Bildungssystem nicht einer fortschrittshemmenden Vermachtung verfällt.

III.

Betrachtet man einige sehr populäre Vorschläge und bereits gesetzlich verabschiedete Maßnahmen zur Finanzierung der Hochschulen und zur Besoldung der Hochschullehrer auf dem Hintergrund der bisher vorgetragenen Zusammenhänge, dann fühlt man sich in die Denkkategorien des „Jedem nach seiner Leistung“ (Lenin) zurückversetzt. Wenn der wissenschaftliche Fortschritt das nicht planbare und unbeab­sichtigte gesellschaftliche Ergebnis individuellen Handelns darstellt, dann kann es jedoch im Bil­dungssektor genauso wie im Bereich der Wirtschaft keine Leistungsgerechtigkeit geben. Niemand kann unter den Bedingungen von Komplexität, Interdependenz und Kontingenz die Leistungsanteile der individuellen Bildungshandlungen bemessen. Der Begriff Leistungsgerechtigkeit ist eine Illusion.

Wieviel ein Wissenschaftler A, der in seinem Leben drei Bücher und zwanzig Aufsätze veröffentlicht hat, zum wissenschaftlichen Fortschritt beigetragen hat und ob A be­deutend weniger oder bedeutend mehr zum wissenschaftlichen Fortschritt beigetragen hat als ein Wissenschaftler B, der mit Mitte Dreißig bereits 100 Veröffentlichungen vorweisen kann, ist nicht ermittelbar und den Beteiligten trotz aller eitlen Behauptungen über die eigene Wichtigkeit auch selbst nicht bekannt. Eine leistungsgerechte Entlohnung von Wissenschaft­lern ist genauso wenig möglich, wie eine leistungsgerechte Entlohnung eines Computeringe­nieurs oder Fließbandarbeiters. Niemand kann die einzelnen Leistungsanteile in hochkomplexen und interdependenten Prozessen bemessen. Die Entlohnung erfolgt wegen dieses Wissensproblems zurecht auf der Grundlage von Angebot und Nachfrage. Alle Versuche, die Wissenschaftler durch eine leistungsabhän­gige Besoldung zu höheren Leistungen und zu mehr Wettbewerb zu bewegen, sind trotz aller marktwirtschaftlicher Rhetorik, mit der sie propagiert werden, sozialistische Dönekes à la Oskar Lange, die dazu führen werden, dass sich im ohnehin vermachteten Wissenschaftsbetrieb die Brotgelehrten weiterhin fortschrittshemmend durchsetzen werden.

Will man derartige Fehlleistungen vermeiden, so ist auf der Grundlage des methodologischen und normativen Individualismus eine bildungspolitische Property Rights Theorie und eine bildungspolitische Wettbewerbstheorie zu entwickeln, in deren Fokus die Bewahrung der Handlungslogik des Bildungssystems steht. Zu diesem Zweck sind zum einen drei Arten des Wettbewerbs zu unterscheiden: erstens der Wettbewerb zwischen Lehrer und Lehrer, zwischen Wissenschaftler und Wissenschaftler, zwischen Student und Student sowie zwischen Schüler und Schüler in Ausbildung, Lehre und Forschung, zweitens der Wettbewerb zwischen den Bildungseinrich­tungen um Lehrende und Wissenschaftler und um Studenten und Schüler sowie drittens der bildungspolitische Systemwettbewerb (über den sich dann natürlich Zusammenhänge mit dem politischen Wettbewerb und dem sonstigen föderalen Systemwettbewerb ergeben).

Zum an­deren ist innerhalb dieser drei Wettbewerbsformen zwischen individuellem Handlungsmotiv und sozialem Sinn zu unterscheiden. Der Müßiggang des philosophischen Kopfes könnte sich unbeabsichtigt als Ursache für produktive gesellschaftliche Ergebnisse herausstellen. Schließlich führte in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts der sowohl von der Wirtschaft als auch von den 68ern heftig kri­tisierte wissenschaftliche Elfenbeinturm wie von einer unsichtbaren Hand geleitet zu einer Vielzahl von wissenschaftlichen Innovationen und Nobelpreisen. Das heißt, wir müssen wie­der bei Humboldt anknüpfen, um voranzukommen.

Nur wenn das Bildungssystem seine eigene Handlungslogik bewahrt, kann es seine Funktion für die Gesamtgesellschaft und damit auch für die Wirtschaft erfüllen. Nur wenn ein nicht-finalisiertes Bildungssystem seiner eigenen Handlungslogik folgt, kann es einen nachhaltigen, wenn auch indirekten Beitrag für Wohlstand und Wachstum leisten.

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