Tichys Einblick
Debatte zur Einwanderung

„Die vollendete Realititätsverweigerung“ im Bundestag

Der Bundestag diskutiert zweimal über die Migrationspolitik. Ändern wird sich dadurch nichts – aber es zeigt die Realitätsverweigerung im deutschen Parlament auf.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hält eine Rede zur Migrationspolitik, Deutscher Bundestag, Berlin, 22. September 2023

IMAGO / dts Nachrichtenagentur

Auf YouTube lässt sich die Dokumentation „Das Politbüro erlebt die deutsche Revolution“ umsonst abrufen. Der große Hajo Friedrichs führt darin vor, wie das mächtigste politische Gremium der DDR die Problemlagen des Sommers 1989 ignoriert hat: wirtschaftlicher Zusammenbruch, Flüchtlinge in Ungarn und der Prager Botschaft sowie wachsender Unmut in der Bevölkerung. Später ist dann zu sehen, wie eben diese Probleme auf das Politbüro einstürzen.

Der Bundestag hat an diesem Freitag über die Migrationspolitik diskutiert. Am Donnerstag auch schon. Da hat die AfD das Thema zu einer „Aktuellen Stunde“ gemacht. Nun bringen CDU und CSU einen Antrag mit dem Titel „Deutschland-Pakt in der Migrationspolitik“ ein. Der spricht sich dafür aus: „die irreguläre Migration spürbar zu reduzieren“ und „alle Bundesaufnahmeprogramme einzustellen“.

Halbzeitbilanz
Olaf Scholz hat‘s gerne bequem
In erster Linie ist das ein PR-Gag: Vor zwei Wochen hat Kanzler Olaf Scholz (SPD) der Union einen „Deutschland-Pakt“ angeboten. Ampel und Opposition sollten im Ausbau der erneuerbaren Energien zusammenarbeiten, damit der schneller geht. Auch das war mehr ein PR-Gag. Die Ampel-Medien haben ihn ein Heute lang gefeiert: alle zusammen, Wirtschaft voranbringen, alles wird gut, Fanfare. Doch am Morgen danach war der Gag schon wieder vergessen. Wenn die Union Scholz‘ Schlagwort des Deutschlands-Pakts aufgreift und mit der Migrationspolitik verknüpft, zeigt sie auf, wie hohl das Schlagwort war. Damit wäre die Debatte eigentlich inhaltlich schon abgehandelt – wäre die Lage vor Ort nur nicht so dramatisch:

Landräte und Bürgermeister klagen, dass Tausende von illegalen Einwanderern sie täglich in eine Situation bringen, mit der sie nicht mehr klarkommen: Wohnraum schaffen, Lebensmittel, innere Sicherheit, Unterricht, Kita-Plätze… All das überfordert sie. Selbst linke Politiker wie Grünen-Chefin Ricarda Lang oder Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) haben das mittlerweile erkannt, benennen es öffentlich und fordern von der Ampel politisches Handeln.

Doch die Ampel verweigert sich im Bundestag so wie einst das Politbüro, die Gefahr der Lage anzuerkennen. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) wirft der Union vor, die wolle einfache Lösungen, die es nicht gebe. Ihre eigenen Lösungsansätze trägt sie vor: Sie habe die Zahl der Bundespolizisten an den Innengrenzen der EU erhöht. Nur hat der Europäische Gerichtshof an diesem Donnerstag geurteilt, dass Einwanderer an den Binnengrenzen der EU grundsätzlich nicht aufgehalten werden dürfen. Das Urteil erwähnt Faeser nicht. Ist es ihr zu einfach? Zu kompliziert? Oder will sie wie einst das Politbüro von unangenehmen Wahrheiten einfach nur verschont bleiben?

Völlig losgelöst von der Erde
Katrin Göring-Eckardt will zurück in den Sozialismus
Die Königin der Realitätsverweigerung ist Faeser aber nicht. Nicht in einem Parlament, in dem Katrin Göring-Eckardt (Grüne) spricht. Sie fordert mehr Geld für die Kommunen. Weil es in Deutschland ja nur an Geld fehlt, um Wohnungen oder Schulplätze zu schaffen… Außerdem lobt Göring-Eckardt, dass die Zahl der Ausreisepflichtigen zurückgegangen sei. Weil die Bundesregierung die Regeln zur Ausreisepflicht gelockert hat. In der Logik Göring-Eckardts müsste der Bund nur jede Form der Einwanderung als rechtmäßig anerkennen, dann gäbe es keine illegale Einwanderung mehr und alle Probleme wären gelöst. Wenn man obendrein etwas mehr Geld ausgibt. „Die Realität anerkennen“ nennt das Göring-Eckardt – sowie das Politbüro die Mauer „Antifaschistischen Schutzwall“ genannt hat.

„Was wir in dieser Debatte erleben, ist die vollendete Realitätsverweigerung“, schildert Thorsten Frei die Situation. Er ist parlamentarischer Geschäftsführer der Union. Und die ist wiederum nicht die Kraft, die den Ausweg aus der Krise zeigt. Sie ist in diese Krise verstrickt. Das zeigt schon ihr Antrag: Das darin formulierte Ziel lautet, „die irreguläre Migration spürbar zu reduzieren“. Sie ist also nicht illegal, die Migration, sondern irregulär. Nicht so ganz in Ordnung demnach. Auch will die Union die illegale Migration nicht abschaffen – sondern nur „spürbar reduzieren“. Ist ja auch nicht ungesetzlich, sondern bloß nicht ganz in Ordnung.

Die Debatte zur Migrationspolitik zeigt wieder mal, wo die Union steht: unentschlossen im Niemandsland zwischen grüner Ampel und einer AfD, die ihr die Wähler abgräbt. Da sind CDU und CSU schon einen Schritt weiter als das Politbüro – dieses Problem haben sie erkannt, nur wissen sie nicht damit umzugehen. Sebastian Hartmann (SPD) bringt die Unions-Abgeordneten zum Schweigen. Er trifft die Schwarzen ins Schwarze, als er ihnen vorhält, dass sie sich rhetorisch von der eigenen Merkel-Vergangenheit lösen wollen. Er prophezeit ihnen: „Das Ergebnis wird die Stärkung der rechten Seite im Plenum sein.“

Wie ein Elfmeter ohne Torwart
Nancy Faeser bei Illner: „Stimmt nicht, dass wir nichts getan haben“
Diese rechte Seite strotzt derweil vor Selbstvertrauen. Bernd Baumann hält der Union vor, dass sie einfach nur Forderungen seiner Partei, der AfD, übernehme. Und dass CDU, CSU das angesichts des Erfolgs der AfD tun, die in Umfragen mittlerweile bei 23 Prozent steht. Baumann schildert die Union als Getriebene: „Sie sind die Fähnchen im Wind, wir sind der Wind.“

Die Lage an den Außengrenzen der EU, vor allem auf der italienischen Insel Lampedusa, verändert die Politik. Die Stimmung unter der Bevölkerung tut ihr Übriges. Die Welt am Sonntag berichtet vorab darüber, dass Faeser einen Referentenentwurf vorgelegt hat. Demnach will sie den Familiennachzug erleichtern. Der soll auf den Geschwister-Nachzug erweitert werden. Die nächste Stufe brächte dann den Cousinen- und den Entfernte-Bekannten-Nachzug. Diesen Welt-Artikel dementiert die Innenministerin und hessische Wahlkämpferin im Bundestag. Das ist noch das Konkreteste, was in dieser Debatte passiert.

Auf YouTube ist ebenfalls eine Ausgabe der Aktuellen Kamera aus dem Sommer 1989 zu finden. Das Außenministerium der DDR dementiert darin einen Bericht der Welt, nach dem die DDR die Einreise nach Ungarn verschärft habe. Das sei Kalter-Krieg-Propaganda. Tatsächlich hatte die DDR das Ausreiserecht geändert: Die Stasi hatte die unteren Behörden angewiesen, Ausreiseanträge nach Ungarn per se abzulehnen, aber jeweils erst, nachdem die entsprechende Bearbeitungsfrist abgelaufen ist. So wollte die DDR die Änderung beschönigen. Das kann eine Regierung. Die Realität schönen – nur ändern lässt sie sich dadurch nicht. Die Realität. Den Antrag der Union besprechen nun die Ausschüsse im Bundestag.

Anzeige
Die mobile Version verlassen