Auf YouTube lässt sich die Dokumentation „Das Politbüro erlebt die deutsche Revolution“ umsonst abrufen. Der große Hajo Friedrichs führt darin vor, wie das mächtigste politische Gremium der DDR die Problemlagen des Sommers 1989 ignoriert hat: wirtschaftlicher Zusammenbruch, Flüchtlinge in Ungarn und der Prager Botschaft sowie wachsender Unmut in der Bevölkerung. Später ist dann zu sehen, wie eben diese Probleme auf das Politbüro einstürzen.
Der Bundestag hat an diesem Freitag über die Migrationspolitik diskutiert. Am Donnerstag auch schon. Da hat die AfD das Thema zu einer „Aktuellen Stunde“ gemacht. Nun bringen CDU und CSU einen Antrag mit dem Titel „Deutschland-Pakt in der Migrationspolitik“ ein. Der spricht sich dafür aus: „die irreguläre Migration spürbar zu reduzieren“ und „alle Bundesaufnahmeprogramme einzustellen“.
Landräte und Bürgermeister klagen, dass Tausende von illegalen Einwanderern sie täglich in eine Situation bringen, mit der sie nicht mehr klarkommen: Wohnraum schaffen, Lebensmittel, innere Sicherheit, Unterricht, Kita-Plätze… All das überfordert sie. Selbst linke Politiker wie Grünen-Chefin Ricarda Lang oder Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) haben das mittlerweile erkannt, benennen es öffentlich und fordern von der Ampel politisches Handeln.
Doch die Ampel verweigert sich im Bundestag so wie einst das Politbüro, die Gefahr der Lage anzuerkennen. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) wirft der Union vor, die wolle einfache Lösungen, die es nicht gebe. Ihre eigenen Lösungsansätze trägt sie vor: Sie habe die Zahl der Bundespolizisten an den Innengrenzen der EU erhöht. Nur hat der Europäische Gerichtshof an diesem Donnerstag geurteilt, dass Einwanderer an den Binnengrenzen der EU grundsätzlich nicht aufgehalten werden dürfen. Das Urteil erwähnt Faeser nicht. Ist es ihr zu einfach? Zu kompliziert? Oder will sie wie einst das Politbüro von unangenehmen Wahrheiten einfach nur verschont bleiben?
„Was wir in dieser Debatte erleben, ist die vollendete Realitätsverweigerung“, schildert Thorsten Frei die Situation. Er ist parlamentarischer Geschäftsführer der Union. Und die ist wiederum nicht die Kraft, die den Ausweg aus der Krise zeigt. Sie ist in diese Krise verstrickt. Das zeigt schon ihr Antrag: Das darin formulierte Ziel lautet, „die irreguläre Migration spürbar zu reduzieren“. Sie ist also nicht illegal, die Migration, sondern irregulär. Nicht so ganz in Ordnung demnach. Auch will die Union die illegale Migration nicht abschaffen – sondern nur „spürbar reduzieren“. Ist ja auch nicht ungesetzlich, sondern bloß nicht ganz in Ordnung.
Die Debatte zur Migrationspolitik zeigt wieder mal, wo die Union steht: unentschlossen im Niemandsland zwischen grüner Ampel und einer AfD, die ihr die Wähler abgräbt. Da sind CDU und CSU schon einen Schritt weiter als das Politbüro – dieses Problem haben sie erkannt, nur wissen sie nicht damit umzugehen. Sebastian Hartmann (SPD) bringt die Unions-Abgeordneten zum Schweigen. Er trifft die Schwarzen ins Schwarze, als er ihnen vorhält, dass sie sich rhetorisch von der eigenen Merkel-Vergangenheit lösen wollen. Er prophezeit ihnen: „Das Ergebnis wird die Stärkung der rechten Seite im Plenum sein.“
Die Lage an den Außengrenzen der EU, vor allem auf der italienischen Insel Lampedusa, verändert die Politik. Die Stimmung unter der Bevölkerung tut ihr Übriges. Die Welt am Sonntag berichtet vorab darüber, dass Faeser einen Referentenentwurf vorgelegt hat. Demnach will sie den Familiennachzug erleichtern. Der soll auf den Geschwister-Nachzug erweitert werden. Die nächste Stufe brächte dann den Cousinen- und den Entfernte-Bekannten-Nachzug. Diesen Welt-Artikel dementiert die Innenministerin und hessische Wahlkämpferin im Bundestag. Das ist noch das Konkreteste, was in dieser Debatte passiert.
Auf YouTube ist ebenfalls eine Ausgabe der Aktuellen Kamera aus dem Sommer 1989 zu finden. Das Außenministerium der DDR dementiert darin einen Bericht der Welt, nach dem die DDR die Einreise nach Ungarn verschärft habe. Das sei Kalter-Krieg-Propaganda. Tatsächlich hatte die DDR das Ausreiserecht geändert: Die Stasi hatte die unteren Behörden angewiesen, Ausreiseanträge nach Ungarn per se abzulehnen, aber jeweils erst, nachdem die entsprechende Bearbeitungsfrist abgelaufen ist. So wollte die DDR die Änderung beschönigen. Das kann eine Regierung. Die Realität schönen – nur ändern lässt sie sich dadurch nicht. Die Realität. Den Antrag der Union besprechen nun die Ausschüsse im Bundestag.