Gehen Schüler und Studenten in den Streik, passiert nichts. Sie haben einen freien Tag. Legen aber Arbeiter der Auto- oder Chemieindustrie die Arbeit nieder, gibt es einen ungeheuren volkswirtschaftlichen Schaden. Bei Ärzten und Pflegern sterben Menschen. Deswegen hat die Deutsche Krankenhausgesellschaft nicht zum Streik aufgerufen – sondern zum Aktionstag. Die zentrale Veranstaltung findet vor dem Brandenburger Tor statt.
Die Qualität der Veranstaltung an der Zuschauerzahl zu messen, wäre daher wenig sinnvoll. Bei „Fridays for Future“ sind die Straßen voll. Weil die Kinder von den Schulen freigestellt werden – teilweise sogar zwangsverpflichtet. Zur Deutschen Krankenhausgesellschaft kommen nur die, die im laufenden Betrieb verzichtbar sind. Die werden von der Berliner Polizei immer wieder aufgefordert, zusammenzurücken. Sie sollen den Verkehr vorm Brandenburger Tor nicht behindern – geht es nicht um Klimakleber, ist das der Berliner Polizei plötzlich erstaunlich wichtig.
Die Lage in den deutschen Krankenhäusern ist dramatisch. Derzeit kosten Behandlungen die Kliniken mehr Geld, als sie damit einnehmen. Man kann in der Schule reichlich Mathe-Unterricht bestreikt haben und weiß immer noch, dass so etwas auf Dauer nicht funktionieren kann. Die Schätzungen sind unterschiedlich. Manche sagen, bald werde es jedes fünfte deutsche Krankenhaus nicht mehr geben, andere sagen jedes dritte oder sogar jedes zweite.
Gerald Gaß rechnet vor, woher das kommt: Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat den Krankenhäusern nur erlaubt, 2,3 Prozent höhere Preise von den Kassen zu verlangen. Ihre eigenen Kosten für Strom und Personal sind aber deutlich stärker gestiegen. Demnächst könnte es weitere Lohnerhöhungen im Gesundheitsbereich von zehn Prozent geben. Gut für die Mitarbeiter, verheerend für die Kliniken, sagt Gaß, der Vorstandsvorsitzende der Krankenhausgesellschaft.
Lauterbach schiebt die Schuld auf die Länder. Die seien über Jahre ihrer Pflicht nicht nachgekommen. Krankenhäuser finanzieren den Betrieb mit dem Geld, das sie aus der Abrechnung mit den Kassen erhalten. Das Geld für Investitionen müssten die Länder bereitstellen. Weil diese das nicht ausreichend getan hätten, hätten die Kliniken das Geld für Investitionen aus dem Geld für den laufenden Betrieb genommen, sagt Lauterbach.
Damit hat Lauterbach recht. Gaß aber auch. Wenn die Einnahmen um 2,3 Prozent steigen, die Ausgaben aber um 6 Prozent und mehr, dann kann das nicht funktionieren. Dass Gaß und Lauterbach beide recht haben, hilft niemandem. Im Gegenteil. Die von ihnen geschilderten Probleme summieren sich: Unterlassene Investitionen, fehlende Rücklagen, unrentable Betriebsführung – alles zusammen führt bald dazu, dass jedes fünfte, dritte oder zweite Krankenhaus schließen wird.
Die Rednerinnen – die Mehrheit der Mitarbeiter im Gesundheitswesen sind Frauen – die Rednerinnen sprechen vom „kalten Krankenhaussterben“. Lauterbachs Reform wird, wenn überhaupt, frühestens 2027 greifen. Bleibt die Situation, wie sie ist, sagt Gaß, werden bis dahin die Krankenhäuser schließen. Wild. Ungeplant. Dann kann es passieren, dass zwei Häuser in der Stadt überleben, auf dem Land aber nicht. Für Notfallpatienten kann das bedeuten, dass sie mit ihrem Herzinfarkt dann 50 oder 100 Kilometer unterwegs sind – oder noch mehr. „Kaltes Krankenhaussterben“ halt.
„Alarmstufe rot“ hat die Krankenhausgesellschaft ausgegeben. Die Rednerinnen bemühen diese Parole. Skandieren sie. Es ist ein Bild und ein Soundteppich, wie wir es von den Demos der Jahrtausendwende kennen, als sich Stahlarbeiter gegen den Verlust ihres Jobs gewehrt haben: Von Angst getriebene Menschen schreien ihre Not, ihre Furcht in die Mikros – Trillerpfeifen und Banner sorgen für eine gewisse Demo-Folklore.
Im Interview mit dem Morgenmagazin sagt Lauterbach, dass wir mit einem gewissen Krankenhaussterben leben müssten. In der Pandemie hat er die fehlenden freien Betten noch als Argument genommen, Bürgerrechte einzuschränken – nun sagt er, es mache nichts, wenn eben diese Betten abgebaut werden. Um nicht ganz so grausam zu wirken, hat er einen Zuschuss von 2,5 Milliarden Euro freigegeben. Geld mit der Gießkanne helfe aber nichts, sagt Gaß, solange die Kliniken mit einer Behandlung weniger einnehmen, als diese sie kostet.
Die Mitarbeiter der Krankenhäuser geben auf dem Pariser Platz ein Bild ab, wie seinerzeit die Stahlarbeiter, die um ihre Branche kämpften. Vergebens, wie wir heute wissen. Ob der Aktionstag etwas bewirken wird? Bei Lauterbach? Den Ländern? Im öffentlichen Bewusstsein. Immerhin haben die Ärzte und Pfleger den Verkehr vorm Brandenburger Tor nicht gestört. Das war der Berliner Polizei wichtig. Anders als bei den Klimaklebern.