Giorgia Melonis Plan geht offenbar auf. Lampedusa ist zum Pendant für den Budapester Hauptbahnhof von 2015 geworden. Die Eskalation der Lage erlaubt es ihr, Maßnahmen zu erlassen, die vorher undenkbar waren – oder von der EU ausgebremst worden wären. Bereits im Wahlkampf hatte sie eine Seeblockade im Ernstfall gefordert. Nach der Wahl hatte man ihr in Brüssel jedoch offenbar klargemacht, dass es so einfach nicht gehen würde.
Nun, da die Lage eskaliert, hat die EU-Kommission nicht nur dröhnend zu dem Vorhaben geschwiegen. Frankreich, das von Italien als eigentlicher Rivale im europäischen Machtpoker wahrgenommen wird, hat seine Bereitschaft signalisiert, eine solche Aktion zu tolerieren. Staatspräsident Emmanuel Macron hatte bisher in Migrationsfragen versucht, den Wohltäter zu mimen, aber selbst möglichst keine Migranten aufzunehmen. Auch das zeigt: Offensichtlich haben sich außerhalb Deutschlands die Parameter in der Migrationsfrage verändert.
Italien geht aber noch einen Schritt weiter. Denn die Seeblockade soll laut Rom eben keine rein nationale, sondern eine europäische Angelegenheit werden. Ein von der EU geführtes Mittelmeerprogramm hat es mit Mare Nostrum bereits gegeben; doch hatte dieses vornehmlich die Aufnahme von Migranten im Mittelmeer zum Programm. Meloni hat jedoch explizit angekündigt, dass die Marinemission bereits die Abfahrt an den Küsten unterbinden soll. Eine solche Aktion hätte es in der Geschichte der EU noch nie gegeben.
Möglich sind solche Forderungen, weil Italien offenbar sehr bewusst den Druck im Kessel Lampedusa erhöht hat. Statt dabei selbst unter Druck zu kommen, nachdem die europäische Linke versucht hat, den Tunesien-Deal auszusetzen, hat die italienische Regierung es geschickt verstanden, die Notsituation zu ihren Gunsten zu wenden. Dass bisher noch kein einziger Euro aus dem Deal Tunis erreicht hat, um die Abfahrten zu verhindern, ist bei deutschen Medien immer noch nicht angekommen. Die Gründe bleiben ungeklärt, aber Faktum bleibt, dass es offenbar auch nicht gewollt ist, dass das Land seiner Verpflichtung nachkommt.
Wo die Regierung Merkel die schlimmen Bilder zum Anlass nahm, die Grenzen zu öffnen, hat die Regierung Meloni den Kettenhund Salvini vorgeschickt, um auszutesten, wie viel Widerstand es geben würde; nachdem weder Berlin noch Paris noch Brüssel andeuteten, etwas dagegen unternehmen zu wollen, entschloss sich Rom, nicht etwa die Politik der „geschlossenen Häfen“ wiederbeleben zu wollen; nein, der jetzige Schritt Roms wäre ein proaktives Novum, das weit darüber hinausginge.
Das sind – ebenso wie hinsichtlich des Boykotts der italienischen Tunesien-Strategie vonseiten der europäischen Funktionseliten – zu viele Zufälle, die darauf hindeuten, dass Rom bereits seit Monaten die Szenarien durchgespielt hat, und damit rechnete, dass der Tunesien-Deal untergraben würde. Nun hat nicht nur Macron nachgegeben und toleriert die bisher undenkbare Blockade; EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wird gemeinsam mit Meloni Lampedusa besuchen, was ebenfalls Erinnerungen daran weckt, dass Viktor Orbán 2015 erst aufgrund der chaotischen Zustände aus Brüssel grünes Licht für den Bau des Grenzzauns bekam. Wie am Freitag erwähnt: Ganz offenbar hat die Orbán-Schülerin Meloni vom politischen Ziehvater gelernt, und es dürfte (neuerlich) kein Zufall gewesen sein, dass die italienische Regierungschefin ihren Amtskollegen erst am Donnerstag zu einem Gespräch in Budapest aufsuchte.
Die Lampedusa-Krise ist der erste offene Machtpoker zwischen Rom einerseits und der EU inklusive Berlin und Paris andererseits; ein Machtpoker, der vorher ausgesehen hatte, als hätten die Linken die Trümpfe in der Hand, um Meloni entweder moralisch herabzuwürdigen oder ein Scheitern ihrer Migrationspolitik triumphal zu verkünden. Doch die Konstellationen haben sich in Europa seit Monaten geändert und Rom hat diese Zeit genutzt, um sich in vielen Bereichen abzusichern. Dazu gehört, dass sich Italien konstruktiv und kooperativ gezeigt hat, und in vielen Bereichen eine pragmatische Politik betrieben hat, mit Vorschlägen, die auch für die Gegenseite interessant sind. Ein Beispiel für solche Umgarnungen betrifft etwa die Causa Christian Lindner und die mögliche Besetzung europäischer Banken mit deutschen und italienischen Kandidaten. Statt auf Konfrontationskurs zu gehen und Totalopposition zu betreiben, umgarnt das Belpaese andere Mitgliedsländer oder macht Angebote, die man nicht ablehnen kann. Man macht sich unersetzlich.
Was macht derweil der einstige Stabilitätsgarant Deutschland? Bundesinnenministerin Nancy Faeser erweckt zuerst den Eindruck, angesichts der Lampedusa-Krise zu intervenieren, um den „solidarischen Pflichten“ Deutschlands nachzukommen. Das hatte sie in der Tagesschau so deutlich kommuniziert, und so deutlich hat man es auch in Europa – speziell in Italien – verstanden. Dass Faeser nun zurückrudert, spielt keine Rolle. Die Worte fielen, sie wurden gehört – und wie 2015 tut Deutschland neuerlich so, als hörte man die Aussagen deutscher Politiker lediglich in der eigenen Echokammer, und nicht etwa im globalen Dorf.
Die Bundesinnenministerin kann sich angesichts der Hessenwahl vielleicht noch nicht so recht entscheiden, ob sie Politik oder Wahlkampf betreibt, aber in der derzeit herrschenden Lage hat man Deutschlands merkwürdigen Kurs als hilflos wahrgenommen. Kurz gesagt: Die Strategie- und Führungslosigkeit des Landes hat Faeser so deutlich wie selten gemacht. Vielleicht gab es auch ein Telefonat aus dem Kanzleramt, das noch einmal klarstellte, dass Außenpolitik dort und nicht im Innenministerium festgelegt wird. Die Clownerie, die man früher zu gern südlich der Alpen verortet hat, hat längst hierzulande Einzug gehalten, indes andere Regierungen die dicken Bretter bohren.