In Lampedusa zeigen sich in diesen Tagen selbst für Einheimische ungesehene Bilder und Szenen. Der Asyl-Hotspot ist vollkommen überlastet, um das Zehnfache seiner Kapazität. Die Boote mit illegalen Migranten warten mittlerweile in Schlangen am Hafen. Die meisten von ihnen kommen aus Tunesien. Die französische Regierung will die eigenen Grenzen erneut stärker kontrollieren. Auch Innenministerin Faeser muss eingestehen, dass ihre „Solidarität“ mit Italien gescheitert ist. Aber eigentlich ist noch viel mehr von ihr zu erwarten.
Die italienische Presseagentur ANSA meldet einen Rekord bei den Ankünften auf Lampedusa. Mehr als 100 Boote seien in 24 Stunden auf der Insel gelandet. Ein Bild vom herrschenden Chaos – und der peinlichen Berührtheit davon – findet sich auch in den mitgeteilten Zahlen. Wo in der deutschen Presse meist von einem Rekord von 2.500 Personen an einem Tag die Rede ist, da spricht ANSA von „rund 4.000 Neuankömmlingen nur am vergangenen Tag“ – eine Zahl, die noch aktualisiert werden müsse.
Die Wiener Tageszeitung Die Presse berichtet am heutigen Mittwochmorgen (8.39 Uhr) sogar von 5.112 Personen, die an Bord von 110 Booten gekommen seien – nur am gestrigen Dienstag. Am frühen Mittwochmorgen seien dann weitere 23 Boote mit fast 1.000 Migranten angekommen. Am Montag waren es 51 Boote mit 1.900 Migranten gewesen.
„Das Meer ist voll“ – Schlangen vor dem Hafen von Lampedusa
Selbst die Inselbewohner waren mit diesem Anblick überfordert, obwohl sie an das Phänomen seit langem „gewöhnt“ sind. „U mare chinu c’è“ – „das Meer ist voll“, sagten einige ungläubig im Inseldialekt, beim Anblick der wartenden Boote, die auf eine Einfahrt in den Hafen warteten. Und klar ist: Diese Menschen – meist junge Männer ohne Perspektiven – werden eher früher als später ihren Weg nach Norden suchen und sicher finden. Auch die sekundären Migrationsströme innerhalb der EU werden so angetrieben – und das obwohl auch hierzulande praktisch alle Einrichtungen und Unterkünfte voll sind.
Laut ANSA befinden sich auf der Insel Lampedusa inzwischen fast 5.000 illegale Migranten, während der Asyl-Hotspot eigentlich für 400 Personen ausgelegt ist. Laut der Wiener Presse müssten es noch mehr sein. Die Küstenwache habe ebenfalls eine Kraftanstrengung (tour de force) hinter sich mit 800 auf See eingesammelten Migranten. Zum größten Teil starten die Boote in der tunesischen Hafenstadt Sfax. Eine Überfahrt kostet laut Welt umgerechnet 300 bis 1.500 Euro.
In Menton (Alpes-Maritimes), nahe der italienischen Grenze, kündigte Innenminister Gérald Darmanin erneut einen verstärkten Kampf gegen die klandestinen Einreisen an. Darmanin spricht von einer Verdoppelung der Ströme. Seine Mittel dagegen benennt Darmanin so: „Viele technologische Mittel, eine bessere Organisation und im Frühjahr hoffentlich eine Gesetzgebung, die uns noch besser bei unserem Kampf hilft.“ Das Wörtchen Kampf wirkt hier auch deshalb so merkwürdig, weil in der deutschen Bundesregierung niemandem einfiele, an dieser Stelle zu kämpfen. Dahingestellt sei, wie hart auch Darmanin wirklich „kämpfen“ wird.
Doch auch die politische Diskussion in Italien bleibt seltsam gelähmt und verhalten. Matteo Salvini, Vorsitzender der Lega, Mobilitätsminister und stellvertretender Ministerpräsident, sprach von der „Abwesenheit Europas“. Die Verteidigung der Grenzen sei „kein Recht, sondern eine Pflicht“. Die Regierung wolle ihr Versprechen zur Immigration halten. Doch geht die italienische Diskussion immer noch in Richtung Umverteilung in der EU statt in die Richtung besserer Grenz- und Küstenschutz.
Faeser muss ihr Scheitern eingestehen
Deutschland schickt ohnehin kaum Migranten in andere EU-Staaten zurück. Das ist schon länger so. Denn bei den Rücküberstellungen von „Flüchtlingen“ in ihr EU-Ersteinreiseländer ist Berlin chronisch schwach. Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) gab es seit Jahresbeginn knapp 48.000 Anträge zur Überstellung Schutzsuchender in die EU-Mitgliedstaaten. Davon wurden aber nur 2.940 vollzogen (also 6,1 Prozent; Zahlen mit Stand vom 23. August). Im letzten Jahr war die Quote nicht besser gewesen. Will sagen: Migranten, die nach einer Registrierung in Italien oder anderswo nach Deutschland einreisen, können trotzdem hierzulande im gemütlichsten Sozialsystem der EU ihren Asylantrag mit den erhöhten Annahme- und vor allem Verbleibschancen stellen.
Der Grund für die geringe Rücknahmequote: Länder wie Italien sehen sich aufgrund wachsender Migrationszahlen nicht in der Lage, Flüchtlinge aus Deutschland zurückzunehmen. Nun dreht die Bundesregierung diesen Spieß ein Stück weit um und hat ihrerseits Übernahmen von italienischen Bootsmigranten eingestellt, die Nancy Faeser erst im vergangenen Juni vorangetrieben hatte. 10.000 Migranten sollten direkt von der italienischen Küstenlinie in andere EU-Staaten transferiert werden, 3.500 davon (ein gutes Drittel) sollte Deutschland aufnehmen. Faeser wünschte sich außerdem, dass ein dauerhaftes Projekt daraus würde.
Doch schon im November kündigte Frankreich an, den vereinbarten Mechanismus zu pausieren, weil ihr die NGO-Politik von Giorgia Meloni (in Sachen der letztlich im südfranzösischen Toulouse gelandeten „Ocean Viking“) nicht gefiel. Nun zieht also, mit gut halbjährlicher Verspätung, die Bundesrepublik nach. Angeblich hat Deutschland bisher 1.700 Personen auf diesem Wege aufgenommen, die restlichen 800 gingen zumeist nach Frankreich. Es geht also eher um Petitessen, wenn man an die echten Migrationsströme innerhalb der EU und an ihren Rändern denkt.
Im Hintergrund des Hintergrundes: Überforderung an allen Fronten
Die Begründungen, die Innenministerin Nancy Faeser (SPD) für diesen Schritt gibt, sind vielfältig. Da ist zum einen der „hohe Migrationsdruck nach Deutschland“. Dann aber auch die oben beschriebene „anhaltende Aussetzung von Dublin-Überstellungen“, die Berlin Rom vorwirft.
Die Weigerung Italiens, Migranten zurückzunehmen, die trotz Registrierung in Italien bis nach Deutschland gekommen sind, wird von der Welt als eigentlicher Hintergrund der Entscheidung genannt. Diese Voraussetzung der Faeser-Entscheidung existiert aber schon eine ganze Weile, praktisch seit Giorgia Melonis Antritt als Ministerpräsidentin. Dublin ist zudem die grundlegendere Vorgabe, die in EU-Verträgen geregelt ist. Der „freiwillige Solidaritätsmechanismus“ ist das, was sein Name besagt: letztlich nicht bindend. Nancy Faeser wird die bereits an Italien zugesagten Übernahmen aber laut Welt-Informationen durchführen.
Im Hintergrund des Hintergrundes steht damit der schon angesprochene, gerade ins Extreme wachsende Migrationsdruck, den vor allem die italienischen Vorposten im Mittelmeer, aber auch deutsche Kommunen zu spüren bekommen. In Italien wird so der geographisch exponierte Erstaufnahme-Hotspot Lampedusa vollkommen überrannt. Die kleinen Boote kommen immer noch in Massen an, trotz 105 Millionen Euro aus der EU-Kasse, die Meloni, Marc Rutte und Ursula von der Leyen feierlich in Tunis an Präsident Kais Saied übergaben. Eine Verminderung des Migrationsdrucks im zentralen Mittelmeer war seitdem nicht zu bemerken.