Vor 50 Jahren waren einige linksradikale Gruppen dafür bekannt, dass sie stets den bevorstehenden Zusammenbruch des westlichen Kapitalismus vorhersagten. Doch wie sich heute zeigt, hat der Kapitalismus diese Katastrophen-Vorhersagen überlebt. In den letzten zehn Jahren haben Mainstream-Kommentatoren ähnliche Behauptungen über das Wirtschaftssystem des chinesischen Einparteienstaats aufgestellt. Doch bis jetzt hat auch China überlebt.
Das Gerede, China stehe am Rande des finanziellen und wirtschaftlichen Ruins, war einst eine Randmeinung. So prognostizierte Gordon Chang in seinem 2001 erschienenen Buch „The Coming Collapse of China“, dass China bis 2011 zusammenbrechen würde. Ende 2011 räumte Chang in der Zeitschrift Foreign Policy ein, dass seine Vorhersage falsch war, er aber „nur um ein Jahr“ danebengelegen habe und dass der Zusammenbruch Chinas definitiv im Jahr 2012 stattfinden würde. Infolgedessen schaffte es Chang zweimal hintereinander auf die jährliche Liste der „10 schlechtesten Vorhersagen des Jahres“ in diesem Magazin.
Im Laufe der 2010er Jahre verwandelte sich dieses Rinnsal der Vorahnung in eine Flut. George Magnus, ein renommierter Wirtschaftswissenschaftler aus Oxford, ist ein konsequenter China-Pessimist. Er eröffnete das Jahrzehnt mit seinem 2010 erschienenen Buch „Uprising: Will Emerging Markets Shape or Shake the World Economy?“. Ein Rezensent beschrieb es als „nützliches Korrektiv zu einigen der atemlosen und zu überschwänglichen Traktate über Chinas unausweichlichen Weg zur Weltherrschaft“. Im Jahr 2018 veröffentlichte Magnus dann „Red Flags: Why Xi’s China Is in Jeopardy“ („Rote Flaggen: Warum Xis China in Gefahr ist“), das „eine eindringliche Darstellung der Bedrohungen für Chinas anhaltenden wirtschaftlichen Aufstieg“ sein soll.
Die holprige Erholung Chinas nach Corona hat in diesem Jahr im Westen zu einer weiteren Verschärfung der düsteren Stimmung über die wirtschaftlichen Aussichten des Landes geführt. Hier eine kleine Auswahl der vielen Negativschlagzeilen der letzten Zeit: „China steht vor einer ‚Abwärtsspirale´, da sich die Immobilienkrise verschärft“ (The Telegraph), „Chinas einbrechende Wirtschaft signalisiert das Ende einer Ära hohen Wachstums“ (City AM) und „Chinas beispiellose Wirtschaftskrise beunruhigt den Rest der Welt“ (Le Monde).
Diese Geschichten stützen sich auf reale wirtschaftliche Probleme. China rutschte im Juli in eine Preisdeflation, da sich das Wachstum der Einzelhandelsumsätze und der Industrieproduktion verlangsamte. Und erst jüngst hat Country Garden, ein großer Immobilienentwickler, einen Teil seiner Schulden nicht bezahlt. Zu allem Überfluss kündigte Peking im letzten Monat an, die Veröffentlichung von Zahlen zur Jugendarbeitslosigkeit einzustellen, nachdem diese einen Rekordwert erreicht hatte – ein Zeichen dafür, dass die Behörden schlechte Wirtschaftsnachrichten gerne unter den Teppich kehren.
Könnten sich also die düsteren Erwartungen westlicher Wirtschaftswissenschaftler dieses Mal erfüllen? Zweifellos hat sich das Wirtschaftswachstum seit den berauschenden Zeiten der 1990er und 2000er Jahre mit Wachstumsraten von mehr als zehn Prozent pro Jahr deutlich verlangsamt. Aber da China alle früheren Anzeichen des Untergangs überlebt hat, wäre es wahrscheinlich klug, nicht gleich in Angst zu verfallen.
Die derzeitige Verlangsamung ist in gewissem Maße unvermeidlich. Keine expandierende Wirtschaft kann so hohe Wachstumsraten auf Dauer aufrechterhalten – zumindest nicht ohne irgendeine Schwächephase. Dennoch müssen die derzeitigen wirtschaftlichen Probleme Chinas in einen größeren Zusammenhang gestellt werden.
Es ist aufschlussreich, sich anzusehen, was westliche Experten vor 20 Jahren über das chinesische Wachstum vorausgesagt haben. „Dreaming With BRICs: The Path to 2050″, veröffentlicht im Jahr 2003, war eine viel beachtete Analyse von Goldman Sachs. Sie erschütterte die damals weit verbreitete selbstgefällige Ansicht, dass die westlichen Volkswirtschaften die Welt für immer dominieren würden. Der Studie zufolge würde Chinas schon bald eine größere Wirtschaft haben als Deutschland und Japan und könnte die Vereinigten Staaten bis etwa 2040 als Nummer Eins der Weltwirtschaft ablösen. Der Goldman-Sachs-Bericht räumte ein, dass diese Vorhersagen „verblüffend“ und „dramatisch“ seien. Aus heutiger Sicht ist jedoch besonders bemerkenswert, dass Chinas tatsächliche Wachstumsraten diese optimistischen Vorhersagen übertroffen haben. Mehr noch: Goldman Sachs sagte voraus, dass sich das jährliche Wachstum in China zwischen 2020 und 2025 auf 4,6 Prozent und zwischen 2025 und 2030 auf 4,1 Prozent verlangsamen würde. Diese Prognosen decken sich ziemlich genau mit denen des Internationalen Währungsfonds (IWF) vom Juli dieses Jahres. Obwohl der IWF vor dem Verlust der Dynamik Chinas warnt, rechnet er immer noch mit einem Wachstum der chinesischen Produktion von 5,2 Prozent in diesem und 4,5 Prozent im nächsten Jahr.
Rechtfertigen solche Zahlen wirklich das ganze Gerede von einem „Einbrechen“, einer „Abwärtsspirale“ oder einer „beispiellosen Krise“? Im Gegenteil, es handelt sich um die Art von Wachstum, die die Regierungen der entwickelten Länder nicht einmal mehr anstreben. Für die fortgeschrittenen Volkswirtschaften wird in diesem Jahr ein Wachstum von 1,5 Prozent prognostiziert, das im nächsten Jahr auf 1,4 Prozent sinken wird.
Chinas säkulare Verlangsamung wird nun durch einige echte zusätzliche Herausforderungen verstärkt. Zunächst einmal waren Pekings drei Jahre harter Corona-Lockdowns eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe. Wenn man bedenkt, wie schwer sich die westlichen Volkswirtschaften von ihren eigenen Lockdowns erholt haben, die weit weniger heftig waren und viel früher aufgegeben wurden, war es immer eine Illusion zu glauben, dass Chinas Erholung von seiner Zero-Covid-Politik reibungslos und stetig verlaufen würde.
Unterdessen bremsen auch geopolitische Spannungen, insbesondere mit den USA, die chinesische Wirtschaft. Insbesondere die Ausfuhr- und Investitionsverbote der Vereinigten Staaten in drei Spitzentechnologiesektoren – Halbleiter, KI und Quantencomputer – werden die wirtschaftliche Entwicklung Chinas zumindest kurzfristig beeinträchtigen. Auch die Bemühungen des Westens um die Rückverlagerung seiner Lieferketten – oder besser gesagt, um die Diversifizierung seiner Produktionskapazitäten ins befreundete Ausland – könnten das chinesische Wachstum dämpfen. Der Zufluss ausländischer Investitionen wird ebenfalls zurückgehen.
Richtig ist auch, dass Chinas Immobiliensektor in großen Schwierigkeiten steckt. Er hat sich viel zu viel Geld geliehen, und zweifellos sind weitere Zahlungsausfälle und Insolvenzen zu erwarten. Allein ein Unternehmen – das berüchtigte Evergrande – hat Verbindlichkeiten in Höhe von 340 Milliarden Euro angehäuft. Diese Probleme verschlimmern auch die finanzielle Schwäche der Kommunen, da viele von ihnen auf Grundstücksverkäufe an Bauträger angewiesen sind, um sich über Wasser zu halten. Dies bedeutet, dass der Wachstumsbeitrag von Immobilienentwicklung und kommunalen Investitionen wahrscheinlich nicht mehr das Niveau der 2010er Jahre erreichen wird.
Infolgedessen ist es sehr wahrscheinlich, dass China in den nächsten Jahren einen finanziellen Absturz und/oder eine Rezession erleben wird. Die sich abzeichnenden Instabilitäten sind eine unvermeidliche Folge des kapitalistischen Wachstums, selbst in einem autoritären Einparteienstaat (auch wenn Peking zweifellos alles tun wird, um vieles davon zu vertuschen).
Diese Rückschläge allein können jedoch die derzeitige westliche Untergangsstimmung nicht rechtfertigen. Nichts von alledem führt zu einer „Systemkrise“ oder zum Ende der chinesischen Entwicklung. Ja, China durchlebt zweifelsohne schwierige wirtschaftliche Zeiten. Für das Land spricht aber, dass es weitaus widerstandsfähiger als viele andere reife Industrieländer ist. Man fragt sich zu Recht, wie widerstandsfähig die westlichen Volkswirtschaften sein werden, wenn der nächste Schock kommt. Wenn überhaupt, können nur wenige der entwickelten Volkswirtschaften auf ein solches Reservepolster zurückgreifen wie China.
Chinas Resilienz gegenüber Störungen hat wegen der fundamentalen Stärke seiner Produktion eine ganz andere Qualität als die des Westens. Trotz des westlichen Geredes über Reshoring und Deglobalisierung ist China mit einem Anteil von fast 29 Prozent an der weltweiten Produktionsleistung immer noch die unbestrittene Supermacht des verarbeitenden Gewerbes. Das Land produziert etwa so viel wie die drei nächstgrößten Produktionsnationen – die USA, Japan und Deutschland – zusammen.
China produziert auch nicht einfach Waren minderer Qualität oder Low-Tech-Produkte. Das Land ist derzeit weltweit führend in der Produktion von Elektrofahrzeugen, Elektroauto-Batterien, 5G-Telekommunikationsgeräten, kommerziellen Drohnen, Geräten für das Internet der Dinge, mobilen Zahlungen und Solarzellen. Angesichts der westlichen Besessenheit mit Klimaneutralität ist es auch bezeichnend, dass China seit mehr als einem Jahrzehnt der weltweit größte und am schnellsten wachsende Produzent von erneuerbaren Energien ist.
Sicherlich ist die Verschuldung Chinas in den letzten zehn Jahren deutlich gestiegen, doch die Gründe dafür sind auch auf die vergleichsweise hohe Widerstandsfähigkeit der chinesischen Wirtschaft zurückzuführen. Entwickelte Länder wie die USA und Deutschland haben sich vor allem deshalb verschuldet, weil sie den Konsum subventioniert haben – durch Rettungsaktionen, steuerliche Anreize, eine lockere Geldpolitik usw. Dies hat dazu beigetragen, das derzeitige Niveau der Wirtschaftstätigkeit aufrechtzuerhalten, aber es hat wenig für die zukünftige Entwicklung geleistet. Im Gegensatz dazu stammt der größte Teil der Schulden Chinas aus der Finanzierung von Investitionen. Während die westliche Infrastruktur bei steigender Verschuldung zerbröselt ist, haben Chinas Schulden größtenteils neue und moderne Anlagen finanziert, von Häusern und Straßen über Brücken, Flughäfen und Seehäfen bis hin zu Hochgeschwindigkeitszügen.
China wird oft kritisiert, dass es „unproduktive“ Investitionen tätigt. Es stimmt, dass viele der neuen Häuser, Wohnungen und sogar Städte heute vielleicht leer stehen oder nicht ausgelastet sind. Aber sie bieten zumindest eine solide physische Grundlage für künftiges Wachstum. Ein Zuviel an Wohnungen und modernen Verkehrsmitteln ist einem Zuwenig, wie wir es im Westen haben, bei Weitem vorzuziehen.
Außerdem ist es erstaunlich, dass der IWF immer noch davon ausgeht, dass China seine Rolle als größter Wachstumsmotor der Welt behalten wird. In diesem Jahr wird ein Drittel des weltweiten Wirtschaftswachstums auf China entfallen, ein ähnlicher Anteil wie in den 2010er Jahren. Die wirtschaftliche Erholung des Westens nach dem Finanzcrash von 2008 war in der Tat zu einem großen Teil den Maßnahmen Pekings zur Krisenbekämpfung zu verdanken. Die chinesische Regierung griff mit umfangreichen Konjunkturmaßnahmen ein, um die eigene Wirtschaft zu stützen, was wiederum den Rest der Welt stützte. Ohne Chinas Wachstum hätten die westlichen Länder ein noch schlimmeres Wirtschaftsjahrzehnt hinter sich gebracht. Und trotz der Verlangsamung in China geht der IWF davon aus, dass das Land in den fünf Jahren bis 2028 immer noch fast ein Viertel des weltweiten Wachstums ausmachen wird – doppelt so viel wie die USA.
Warum sind so viele westliche Kommentatoren in Anbetracht all der Indikatoren für die anhaltende wirtschaftliche Stärke Chinas so pessimistisch? Es ist äußerst schwierig, genau zu wissen, was in China vor sich geht, da der Zugang zu Informationen so oft kontrolliert und verheimlicht wird. Schon deshalb sollten wir der Gewissheit so vieler westlicher Kommentatoren, die den wirtschaftlichen Untergang Chinas vorhersagen, zumindest ein wenig skeptisch gegenüberstehen.
Vielleicht haben die düsteren Vorahnungen etwas mit Schadenfreude zu tun. Vielleicht freuen sich einige Kommentatoren über das offensichtliche Unglück eines Gegners. Tatsächlich betrachten die westlichen Eliten China auf zweierlei Weise: als gefährlichen strategischen Rivalen und als wirtschaftlich hoffnungslosen Fall. Trotz einer gewissen Widersprüchlichkeit – ist China nun stark oder schwach? – stehen beide Aspekte im Einklang mit der zunehmenden Stimmungsmache gegenüber China in den letzten zehn Jahren.
Generell entspricht die negative Einschätzung der chinesischen Wirtschaft dem zunehmenden Pessimismus im westlichen Wirtschaftsdenken. Nach der Pandemie, inmitten von Energieknappheit und einem Krieg in der Ukraine, scheinen wir mehr denn je in einem wirtschaftlichen und politischen Sumpf festzustecken. Es scheint wenig Aussicht darauf zu bestehen, dass die westlichen Regierungen die Kontrolle über die Entwicklungen zurückgewinnen und ihre Volkswirtschaften wieder auf einen Pfad des dauerhaften Wachstums bringen.
Oft hat man das Gefühl, dass der Westen von einer Krise in die nächste taumelt, ohne jemals in der Lage zu sein, eine seiner Herausforderungen zu lösen. In der Tat wurde „Permacrisis“ – d. h. eine längere Periode großer Schwierigkeiten, Verwirrung und Unsicherheit, die kein Ende zu finden scheint – im vergangenen Jahr vom Collins Dictionary zum Wort des Jahres gewählt. So ist es vielleicht keine Überraschung, dass Mainstream-Kommentatoren auch in China mit einer schweren Krise rechnen.
Als die radikale Linke vor 50 Jahren den Untergang des Kapitalismus vorhersagte, war dies eine Möglichkeit, den Verlust des eigenen Einflusses zu verdrängen. Nachdem sie den Glauben an ihre Fähigkeit verloren hatte, die Unterstützung der arbeitenden Menschen zu gewinnen, beruhigten sie sich mit der Vorstellung, dass der Klassenfeind bald von selbst zusammenbrechen würde. In ähnlicher Weise könnte eine westliche Elite, die ihr Zielbewusstsein und ihre Zuversicht verloren hat, einen gewissen Trost aus dem bevorstehenden Zusammenbruch ihres größten geopolitischen Gegners ziehen. Damals sagte die Annahme des bevorstehenden Untergangs des Kapitalismus mehr über die Notlage der radikalen Linken aus als über den Zustand des Kapitalismus. In ähnlicher Weise sagen die heutigen Unkenrufe über China mehr über das Gefühl der Verwirrung, Trägheit und Ohnmacht der westlichen Elite aus als über irgendetwas, das in China wirklich passiert.
Dieser Artikel von Phil Mullan ist zuerst beim britischen Online-Magazin Spiked erschienen.
Mehr von Phil Mullan lesen Sie in dem Buch „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“. Mullan ist zudem Autor von “Beyond Confrontation: Globalists, Nationalists and Their Discontents”.