Tichys Einblick
Mangelnde Zusammenarbeit im Mittelmeer

Frontex-Direktor peinlich befragt: Die Blamage der EU-Parlamentarier

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex arbeitet längst mit der libyschen Küstenwache zusammen, um Migranten in Seenot zu retten. Mit Tunesien gibt es noch keine solche Kooperation, obwohl sie dringend geboten wäre, um auch hier Menschenleben zu retten und illegale Einreisen zu verhindern.

IMAGO - Collage: TE

Die zentrale Mittelmeerroute ist aktuell laut Frontex für mehr als die Hälfte aller illegalen Einreisen in die EU (89.047 bis Ende Juli) verantwortlich. Insgesamt waren es 176.000 in den ersten sieben Monaten des Jahres. Das passt allerdings schlecht zu den deutschen Asylantragszahlen. Denn die lagen bis Ende Juli ebenfalls bei 175.000 Erst- und gut 13.000 Zweitanträgen. Wenn insgesamt nur 176.000 illegale Einreisen in die EU festgestellt wurden, dann fehlt da offenbar etwas. Bedenkt man, dass bis Ende Juli mehr als 27.000 Migranten die EU wieder Richtung England verlassen haben, dann muss man feststellen, dass Deutschland mehr neue Asylanträge zu verkraften hatte, als überhaupt illegale Migranten neu an den EU-Außengrenzen registriert wurden.

Die Quellen unseres „Reichtums“ in dieser Hinsicht sind unbekannt. Offenbar werden inzwischen viele Einreisen gar nicht mehr festgestellt, geschweige denn registriert. Die EU folgt hier dem deutschen Vorbild, nicht umgekehrt, wie es sein sollte. Außerdem wird Deutschland ja auch tatsächlich zum Ziel der „Sekundärmigration“ aus relativ wohlhabenden Staaten in Westeuropa: Belgien, Frankreich usw. Im Schengenraum – bestehend aus der EU, Norwegen und der Schweiz – haben allerdings zugleich mehr als 500.000 Menschen einen Asylantrag gestellt, wie die EU-Asylagentur (EUAA) am vergangenen Dienstag berichtet hat. Mehrfach-Anträge sind hier nicht ausgeschlossen.

Es bleibt, und das ist vielleicht die am meisten besorgniserregende Nachricht, bei einer starken Dynamik der illegalen Einreisen. Im laufenden Jahr wurden zehn Prozent mehr illegale Einreisen in die EU festgestellt. Im Juni waren es jedoch 40 Prozent mehr, wie Frontex berichtet. Das heißt, die Steigerungsraten selbst steigern sich. Das Thema wird also auch in den kommenden Monaten alle betroffenen EU-Partner in wachsendem Maße beschäftigen.

Leijtens: Wir informieren die libyschen Behörden

Im EU-Parlament wurde nun vor ein paar Tagen der Frontex-Direktor Hans Leijtens befragt. Die Fragen stellte der Menschenrechtsausschuss des Hauses (kurz DROI). Für wen die Befragung aber peinlicher war, für die Frager oder den Antwortenden, das bleibt offen. Leijtens, der im Dezember 2022 die Nachfolge des Franzosen Fabrice Leggeri antrat, musste vor dem Unterausschuss DROI zugeben, was auch allgemein bekannt ist: dass nämlich die libysche Küstenwache durchaus eine Rolle bei der Seenotrettung im zentralen Mittelmeer spielt und dafür sogar durch EU-Zahlungen entlohnt wird. Wem sollte also diese Zusammenarbeit mit einer benachbarten Küstenwache peinlich sein?

Eigentlich niemandem, weil in der Tat hunderttausende Migranten in Libyen leben und dort auch ökonomisch von eigener Hände Arbeit existieren können, was in der EU wegen höherer Bildungsansprüche und Sozialausgaben nicht immer der Fall ist. Man könnte sagen, die Wirtschaftsmigranten aus Subsahara-Afrika sind in Libyen einfach besser aufgehoben als in Deutschland oder Dänemark. Auch die Haftzeiten wegen illegaler Ausreiseversuche in den Gefängnissen rund um Tripoli oder Benghazi sind nicht unendlich, und für Resozialisierung im Land ist gesorgt, wie auch Al-Jazeera unlängst berichtet hat.

Die anklagende Frage nach Libyen, die vieler Realitäten spottet, müsste insofern den Abgeordneten selbst, die sie stellen, peinlich sein. Leijtens aber sagte: „Wir wissen, dass Libyen kein sicherer Hafen ist, aber bei internationalen Abkommen informieren wir die zuständigen Behörden über Boote in Seenot.“ Auch hier wartet harrt noch in Paradox der Aufklärung. Aber Paradoxes gehört vielleicht zum Leben dazu, sicher in dieser EU. Immerhin bekannte sich Leijtens so zur internationalen Zusammenarbeit, die im zentralen Mittelmeer sicher gefragt ist.

Allerdings ließ die Verlässlichkeit der libyschen Küstenwache in der jüngeren Vergangenheit zu wünschen übrig. Wie die italienische Tageszeitung Il Giornale berichtet, konnte diesen Sommer nur etwa ein Viertel aller Überfahrten durch die libysche Küstenwache verhindert werden. Drei Viertel kamen bis zur italienischen Küste durch.

Warum keine Zusammenarbeit, wo es um Menschenleben geht?

Dennoch bleibt die Frage: Warum sollten Leijtens die allgemeinen Notrufe seiner Frontex-Mitarbeiter vor der libyschen Küste – „to whom it may concern“, wen immer es angeht – peinlich sein? Sollte das nicht eher dort gelten, wo Frontex es überhaupt nicht schafft, mit einem Nachbarland zusammenzuarbeiten, wie etwa im Fall Tunesien? Leijtens gab zu, dass es derzeit keine Kooperation mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied gebe, obwohl es zuletzt einen offiziellen Besuch von EU-Großen (Rutte, Meloni, von der Leyen) in Tunis gegeben hatte, auch weil das Land derzeit einige Finanzierungsprobleme hat.

Der tunesische Präsident Saied erhielt inzwischen nicht nur EU-Gelder, sondern auch 100 Millionen Dollar plus einen Kredit über 400 Millionen Dollar von Saudi-Arabien. Das dürfte das Land wirklich vor einem Bankrott oder – vielleicht noch schlimmer – vor einem IWF-Programm bewahrt haben. Gegengaben an Riad wurden nicht öffentlich, nur der Wille der Saudis, arabische Bruderländer zu unterstützen, drang nach außen.

Kurz davor hatte Saied ähnliche Summen bei der EU abgestaubt, etwa 65 Millionen Euro für den „grün-digitalen“ Wandel an tunesischen Schulen oder zehn Millionen für die Teilnahme am Erasmus-Austauschprogramm für Studenten. Vor allem wurden 100 Millionen Euro bewilligt, um bei „Grenzmanagement, Bekämpfung der Schleuserkriminalität, Rückkehr und Ursachenbekämpfung“ zusammenzuarbeiten, wie die EU-Vertreter nach dem Treffen Mitte Juli erklärt hatten, das alles allerdings „unter uneingeschränkter Achtung des Völkerrechts“.

Nur eine Frontex-Zusammenarbeit mit der tunesischen Küstenwache, die eigentlich normal sein sollte, wo es angeblich um die Rettung von Menschenleben geht, war anscheinend nicht in der Abmachung vorgesehen. Die Frage bleibt: Für wen ist es peinlicher? Bald soll es zu einem „Kennenlernen“ zwischen Leijtens und den tunesischen Kollegen kommen. Angeblich braucht Frontex aber zuerst politische Rückendeckung aus Brüssel, um tätig zu werden.

SPD-EU-Abgeordneter kritisiert „Pullbacks“ von Tunesien und Libyen

Der Vorsitzende des Unterausschusses für Menschenrechte, Udo Bullmann (SPD), zeigte, warum das bisher scheitert. Er kritisierte laut epd die „besorgniserregende Welle von Pullbacks der tunesischen und libyschen Behörden sowie von EU-Mitgliedstaaten wie Griechenland“. Nun gibt es also auch Pullbacks, noch dazu von Griechenland? Laut Bullmann, der seiner Parteilinie hier treu bleibt, gefährdet diese Welle von Grenzschutzmaßnahmen „das Leben unzähliger Migrantinnen und Migranten und führt zu schweren Misshandlungen und eklatanten Menschenrechtsverletzungen“. Eklatant ist der absolute Mangel Bullmanns an Realitätssinn. Wo gefährden Push- oder Pullbacks durch die tunesischen oder libyschen Behörden Leben. Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Denn die Küstenwachen bringen die Migranten aus unsicheren Booten wieder ans sichere Land. Der EU-Parlamentarier Bullmann mag Frontex und die Kommission an dieser Stelle kritisieren. Aber das bleibt wie ein Scharren an der deutschen Eiche, wenn die auch an vielen Stellen faulen mag.

Daneben bleibt zu kritisieren, dass kaum Rückführungen aus der EU gelingen. Das ist nicht anders als in Deutschland, wo ebenfalls die allermeisten Menschen ohne Aufenthaltsrecht schlicht im Lande bleiben. In der EU wurden letztes Jahr nur 16 Prozent aller Personen ohne Bleiberecht zurückgeschickt, wie Il Giornale anhand des Frontex-Jahresberichts ausrechnet: 35.095 Abschiebungen stehen 48.741 freiwilligen Ausreisen zur Seite. Alles in allem gab es rund 86.000 vollzogene Rückführungen in Drittländer. Stark vertreten waren hier Albaner und Georgier, nicht Iraker oder Schwarz-Afrikaner. Die aktuellen Zahlen sehen noch etwas schlechter aus. Im laufenden Jahr gab es demnach erst 24.000 Rückführungen aus der gesamten EU.

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