In Bayern überschlagen sich die Nachrichten. Ein pensionierter Lehrer für Deutsch und Latein bringt die Landesregierung arg in Bedrängnis, nachdem er das fragwürdige Flugblatt eines Schülers an die Süddeutsche Zeitung durchgestochen hat.
Ein Lehrer packt aus, Markus Söder liefert Hitler-Vergleich
Es wirft ein besonderes Licht auf den Schüler Hubert Aiwanger, heute stellvertretender Ministerpräsident. Natürlich auch auf den Lehrer, denn der unterliegt auch als ehemaliger Lehrer der Lehrerdienstordnung, die ihn zu unbedingtem Stillschweigen verpflichtet. Von Ausnahmen für Politiker ist dort keine Rede. Im Paragraphen 14 der Lehrerdienstordnung heißt es:
„Die Lehrkraft hat, auch nach Beendigung des Dienstverhältnisses, über die ihr bei ihrer dienstlichen Tätigkeit bekannt gewordenen Angelegenheiten Verschwiegenheit zu bewahren. Dies gilt nicht für Mitteilungen im dienstlichen Verkehr oder über Tatsachen, die offenkundig sind oder ihrer Bedeutung nach keiner Geheimhaltung bedürfen. Spannungen und Gegensätze innerhalb der Schule erfordern vertrauliche Behandlung.
(2) Auskünfte an Presse, Rundfunk und Fernsehen erteilt nur die Schulleiterin oder der Schulleiter oder die von ihr oder ihm beauftragte Lehrkraft.“
Sollte ein Lehrer Schulakten 35 Jahre lang aufbewahrt haben um sie zum gegebenen Zeitpunkt aus der Schublade zu ziehen? Keine schöne Vorstellung, was immer man den Aiwanger-Boys zur Last legen will. Die Verschwiegensheitsverpflichtung wirkt auch während der Pension. Auch da gibt es viel aufzuklären.
Früher hat dieser Lehrer gegen Söders Weltraumpläne opponiert, jetzt sieht er Bayern durch Aiwanger bedroht und dessen geistigem Kinderkostüm, dem der seit 32 Jahren nicht entwachsen sein soll. Zwar ist der damalige Direktor im vorigen Jahr verstorben, aber noch gibt es Lehrer und Mitschüler, die befragt werden können. Ein altes Flugblatt wird zur Staatsaffäre. Aber solches Papierwerk zählt ja schon lange nicht mehr in einer moralisierenden Gesellschaft. Ganz sicher ist sich auch Markus Söder nicht beim Umgang mit der Affäre und sendet widersprüchliche Signale.
Der Koalitionspartner mag es ihm „nicht ganz leicht machen“, sagte Markus Söder am Abend bei einer Wahlkampfveranstaltung in Landshut, wenige Kilometer von Aiwangers Heimat. Aber „ich möchte eine bürgerliche Koalition in Bayern eindeutig behalten. Und ich möchte keine Grünen in der bayerischen Staatsregierung.“ Bei einem Wahlkampf-Auftritt im Landshuter Bierzelt imitiert Bayerns Ministerpräsident Markus Söder seinen Vize in Gestik und Mimik von Adolf Hitler, berichtet der Deutschlandfunk: „Ich werde in München mal auf den Tisch hauen“, brüllt Söder mit markig-verstellter Stimme in den Saal. Söder dann später mit normaler Stimme: „Überraschenderweise sind die, die im Zelt daheim recht groß sind, in München relativ klein. Mit jedem Kilometer näher in meine Nähe, werden sie – wie soll ich sagen – freundlicher, geschmeidiger.“ Offensichtlich sucht Söder den Show-down mit Aiwanger. Das ist ein einzigartiger Vorgang. Ein Fortgang der Koalition scheint unmöglich – zu den Fragen an Aiwanger kommen jetzt Fragen nach der charakterlichen Eignung Söders beim Umgang mit politischen Krisen.
Söder spürt, dass Aiwanger die Sympathie Vieler hat. Dabei hatte Söder noch am Montag ganz andere Pläne, wie TE berichtet hat. Am heutigen Dienstag findet eine außergewöhnliche Sitzung des Koalitionsausschusses statt: CSU und Freie Wähler bilden in Bayern die Landesregierung.
Wie TE erfuhr, erwägt Markus Söder die Einsetzung eines „Sonderermittlers“ der Landesregierung. Er lässt derzeit prüfen, welche „honorige Persönlichkeit“ als „Sonderermittler“ in Frage käme, da die Staatsanwaltschaft wegen der Verjährung des Falles nicht handeln will. Der „Sonderermittler“ soll Lehrer und Mitschüler von Hubert Aiwanger befragen sowie klären, inwieweit die Familie des Vorsitzenden der Freien Wähler einschlägig vorbelastet sei. Nach mehrtägigem Schweigen erklärte Aiwanger, dass sein Bruder das Flugblatt verfasst habe. Offensichtlich soll jetzt der politische Hintergrund der Bauernfamilie ausgeforscht werden. Dass es nach deutschem Recht keinen „Sonderermittler“ geben kann, versteht sich. Das ist und bleibt Aufgabe der Staatsanwaltschaft, die zudem weisungsgebunden handelt – aber nicht willkürlich Anweisungen folgen darf.
„Sonderermittler“ führt zum politischen Ende Aiwangers
Politisch hätte der „Sonderermittler“ schon vor möglichen Ergebnissen große Wirkung. Aiwanger könnte als Minister kaum mehr tätig sein, wenn der „Sonderermittler“ eingesetzt wird und „ermittelt“. Sollte er nicht freiwillig zurücktreten, müsste ihn Söder entlassen. Ohne Aiwanger sind die Freien Wähler führungslos; zudem sind bereits wichtige Politiker der Freien Wähler von ihm abgerückt. In den kommenden Tagen will Söder zudem publizistisch erklären, dass der Holocaust als größtes Verbrechen der Geschichte nicht relativiert werden dürfe, die gesamte Staatsverfassung und Staatsraison Deutschlands sei vom Kampf gegen den Nationalsozialismus geprägt. Da künftig das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt werden soll, sei es unmöglich, den Vorgang als Jugendsünde abzutun. Außerdem drohe damit ein Dammbruch bei Jugendlichen.
Die CSU beobachtet mit Sorge, dass sehr viele Jugendliche der AfD zuneigen. Offen ist, wem der Vorfall bei der kommenden Landtagswahl am 8.10.2023 besonderen Schaden zufügt. Aber genau darum geht es in diesen Tagen.
Mehrere Möglichkeiten sind denkbar. Söder setzt darauf, die Freien Wähler „zu vernichten“, erklärte eine mit der Sache betraute Person. Denn die Freien Wähler beschneiden die Erfolge der CSU, die in der Vergangenheit lange mit absoluter Mehrheit den Freistaat regieren konnten.
Unter dem CSU-Parteivorsitzenden Erwin Huber zogen bei der Landtagswahl 2008 die Freien Wähler erstmals mit 10,2 Prozent der Wählerstimmen und 21 Mandaten in den Landtag ein und bilden dort nach CSU und SPD die drittstärkste Kraft. Bei den Landtagswahlen 2013 und 2018 konnten die Freien Wähler mit 9,0 Prozent der Wählerstimmen und 19 Mandaten bzw. 11,6 Prozent der Wählerstimmen und 27 Mandaten jeweils den dritten Platz behaupten. Söder hält es für den größten Fehler Hubers, dies nicht verhindert zu haben, da sie unmittelbar der CSU Stimmen abspenstig machen. Mit der Landtagsfraktion haben die Freien Wähler zudem eine Plattform errungen, um sich zu verbreitern. Bei den kommenden EU-Wahlen wollen sie ebenfalls antreten. Auch eine Teilnahme an der Bundestagswahl wird überlegt.
Die Mehrheit der CSU wird weder von der SPD bedroht, die an der 10-Prozent-Hürde kämpft, noch von den Grünen, die nach jüngsten Umfragen angesichts ihres schwachen Führungspersonals und des Gegenwinds aus Berlin nur mit etwas über 10 Prozent der Wähler rechnen dürfen.
Bedrohung von AfD und FW
Die Bedrohung der sieggewohnten CSU geht von den Freien Wählern (FW) und der AfD aus. Söder hofft offensichtlich, dass ein großer Teil der bürgerlichen Wähler aus dem Aiwanger-Lager eher zur CSU tendieren als zur AfD. Die AfD ihrerseits hat Aiwanger kritisiert. Allerdings ist bei vielen Wählern die Verärgerung über die offensichtliche Kampagne der Süddeutschen Zeitung groß, was zunächst zu einer Stärkung der Rolle Aiwangers führt. Sollten die Freien Wähler aber daran zerbrechen, könnten viele zur AfD abwandern, „und damit dem Original die Stimme geben statt der Aiwanger-Kopie“, so lautet die Befürchtung aus dem Umfeld Söder.
Für die Regierungsbildung ist die AfD aber nicht maßgeblich. Söder hofft vielmehr darauf, mit Hilfe abtrünniger Aiwanger-Wähler wieder eine eigene Mehrheit der CSU zu gewinnen. Dies braucht er auch innerparteilich, da seine bisherigen Stimmergebnisse für CSU-Verhältnisse als blamabel gelten.
Zwar hat Söder eine Zusammenarbeit mit den Grünen bislang abgelehnt und sie als „Feind“ bezeichnet. Doch Söder hat seine Beweglichkeit oft genug unter Beweis gestellt. Sollte die CSU einen Koalitionspartner benötigen, wäre der geradezu gezwungen, mit den Grünen zu koalieren. Dann wäre von „staatspolitischer Verantwortung“ noch am Wahlabend die Rede. Eine eigene, hinreichend stabile Parlamentsmehrheit hätte die CSU voraussichtlich bereits bei rund 48 Prozent der Stimmen. Zöge wegen des Aiwanger-Debakels die FDP doch noch in den Landtag ein und gewinnt die CSU aus eigener Kraft einige Aiwanger-Stimmen in der Wahl, wäre auch eine Koalition mit der FDP denkbar. In jedem Fall will Söder sich mit dem Erfolg aus der Landtagswahl um die Rolle des Kanzlerkandidaten der Union bewerben.
Das Aiwanger-Flugblatt
Im Schuljahr 1987/88 tauchte im Burkhart-Gymnasium Mallersdorf-Pfaffenberg im niederbayerischen Landkreis Straubing-Bogen ein Flugblatt auf, das auf dem Schulklo zirkuliert sein soll. Aiwanger und sein Bruder besuchten damals die 11. Klasse. In der Schrift ist vom „Vergnügungsviertel Auschwitz“ die Rede. In einem fiktiven „Bundeswettbewerb“ wird gefragt: „Wer ist der größte Vaterlandsverräter?“ Als erster Preis wird „ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ genannt. Zweiter Preis: ein „lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab“, vierter Preis: „einjähriger Aufenthalt in Dachau“.
Anlass des Flugblatts war offenbar ein Geschichtswettbewerb, an dem das Gymnasium teilnahm. Der damalige Direktor der Schule ist mittlerweile verstorben. Da ein Disziplinarverfahren durchgeführt worden war, müssten allerdings noch Akten auffindbar sein, hofft man in der Umgebung von Söder. Hubert Aiwanger hat behauptet, sein Bruder habe die Flugschrift verfasst. Dieser wiederum hat das Flugblatt mit der Wut erklärt, die er wegen einer Nicht-Versetzung empfunden habe.
Der Schulfrieden in Bayern ist jedenfalls gestört. Jetzt werden alte Rechnungen beglichen. Das Tor hat sich geöffnet.