Seit Dezember 2022 blockiert Aserbaidschan den Latschin-Korridor, die einzige Straßenverbindung zwischen Armenien und Berg-Karabach. Am 18. August kappte Aserbaidschan zusätzlich die letzte Glasfaserkabelverbindung. Die Strom- und Gasversorgung ist seit Monaten unterbrochen. Die Presseagentur kathpress zitiert den Außenminister der selbsternannten „Republik Arzakh“, dass 95 Prozent der Bevölkerung bereits unterernährt sei.
Die Legitimität der „Republik Arzakh“ ist umstritten. Nicht einmal Armenien selbst erkennt den De-facto-Staat an, der aber de jure nicht existiert. Völkerrechtlich gehört Berg-Karabach zu Aserbaidschan. Doch „Arzakh“ ist die Lebensversicherung der christlichen Armenier, die nicht erst seit dem Untergang der Sowjetunion, sondern seit Jahrhunderten unter dem Druck ihrer muslimisch-türkischen Nachbarn stehen.
Was den in Berg-Karabach lebenden Armeniern droht, konnte man in den Gebieten sehen, die nach dem Kaukasus-Krieg im Jahr 2020 erobert wurden. Toleranz der Religion, der Identität, gar eine Autonomie – davon war in den von Aserbaidschan zurückeroberten Gebieten, die es Anfang der 1990er an die Separatisten verloren hatte, wenig zu sehen. Stattdessen wurden Kirchen umgewidmet oder verunstaltet, die armenische Geschichte getilgt, Menschen vertrieben – wenn diese wegen der erwarteten Repressionen nicht bereits freiwillig das Land verließen.
Offiziell gilt ein wackeliger Waffenstillstand, der von russischen Friedenstruppen aufrechterhalten wird. Die Regierung in Baku hat aber spätestens 2022 begriffen, dass Moskaus Fesselung in der Ukraine dazu führt, dass es seine Rolle im Kaukasus nicht erfüllen kann. Seitdem stichelt das rohstoffreiche Aserbaidschan gegen seinen isolierten Nachbarn. Mal mit Scharmützeln an der Grenze, mal durch verhöhnende Propaganda – oder eben mit jener Blockade, die Berg-Karabach in einem permanenten Belagerungszustand hält.
Kritik an Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew erklingt in der EU und in Deutschland wenig angesichts dieser menschenverachtenden Politik, die nicht am Ende der Welt, sondern im Nachbarland des Nato-Partners Türkei stattfindet. Nicht nur, weil Europa am Gashahn Aserbaidschans hängt, sondern auch, weil der unberechenbare Nato-Partner Türkei ein enger Verbündeter ist, der schon beim Krieg im Jahr 2020 mit Waffen aushalf. Bezeichnenderweise geißelt der Westen andere Regime nur für Menschenrechtsverletzungen, wenn diese auch in die geopolitische Narrative passen. Das gilt nicht nur für Armenien, sondern auch kriegsgebeutelte Länder wie den Jemen.
So belagert Alijew rund 120.000 Menschen – davon etwa 30.000 Kinder – vor den Toren Europas, indes die Außenministerin vor allem damit beschäftigt ist, Botschaften auf den Fidschi-Inseln zu eröffnen und indigene Artefakte zurückzugeben, so denn die Flugbereitschaft mitspielt. Bereits seit Mitte Juni kommt nicht einmal mehr das Internationale Rote Kreuz durch. Es erinnert an die Aushungerungsversuche gegen Burgen im Mittelalter.
Deutliche Worte hat der Deutschlandchef der Hilfsorganisation Christian Solidarity International, Pfarrer Peter Fuchs, für diesen Zustand gefunden. TE gegenüber sagte er auf Nachfrage, dass der Gegend ein Völkermord drohe. Der Völkermord gegen die Armenier sei seit 1915 im Gang, Aserbaidschan habe offenbar die Absicht, eine „neue Phase“ dieses dunklen Kapitels einzuläuten.
Er verwies dabei auch auf Aussagen des Gesundheitsministers Berg-Karabachs, Vardan Tadevosyan. „Der Preis für Eier hat sich seit der Belagerung verdreifacht. Tomaten sind zehnmal so teuer und für Äpfel bezahlen wir 30-mal so viel wie vor dem 12. Dezember.“ Wegen des fehlenden Benzins könnten die Bauern keine Lebensmittel in die Hauptstadt Stepanakert bringen. Seit dem 14. Juli dürften auch keine Patienten mehr nach Armenien gebracht werden, obwohl die medizinische Versorgung aufgrund des Belagerungszustands desaströs ist. Tadevosyan findet dramatische Worte: „Die Menschen werden bald sterben!“
Damit dürfte er nicht nur den Hunger meinen. Die Einwohner fürchten sich vor einem Überfall der aserbaidschanischen Armee. Wie realistisch dies im Moment ist, bleibt schwer abzuschätzen. Sie träfe jedoch auf eine ausgezehrte und demoralisierte Bevölkerung, dem das isolierte Armenien kaum wirksame Hilfe gewährleisten könnte, indes der Westen desinteressiert und die Türkei ihre regionale Hegemonialstellung im Schatten des kränkelnden russischen Bären ausbaut. Vielleicht gibt es dann Annalena Baerbock, Robert Habeck und Ursula von der Leyen wenigstens ein Dankestelegramm von Alijew für die vorzügliche finanzielle Unterstützung dank Gasexport.