„Geh’, bitte…“ Das sollten Sie jetzt einmal im breitesten Österreichisch aufsagen: mit „Ä“ statt „E“ und mit der Betonung auf dem „bit“ von „bitte“. Also etwa: „Gäh’, BITtä…“
So artikuliert ist es nämlich nicht etwa eine Aufforderung an Ihren Gesprächspartner, den Raum zu verlassen – sondern es bedeutet eher etwas in der Richtung des angelsächsischen „What the f…“ bzw. des deutschen „Leck’ mich am A…“.
In der Alpenrepublik versteht das jeder. Und es gab Zeiten, da verstand es auch jeder bei RTL: als nämlich der Senderchef, Helmut Thoma, und sein Chefredakteur beide aus Operettenland kamen. Letzterer hieß Hans Mahr.
„Geh’, bitte – macht’s ned so viel Sarajevo, gell?“ Mitte der 1990er-Jahre kannte man den Satz in den Nachrichtenredaktionen von RTL in Köln nur zu gut. Der Mensch Hans Mahr war alles andere als ein Sonnenschein, tatsächlich glich er eher Lord Voldemort, nur schlechter gelaunt. Aber der Journalist Mahr hatte ein gewisses Gespür für sein Publikum.
Und darauf kam es an – damals, als das deutsche Privatfernsehen einfach nur erfolgreich sein wollte.
Der Jugoslawien-Krieg war seinerzeit voll im Gange, aber Mahr – als Chefredakteur verantwortlich für alle Nachrichtensendungen – wusste: Zu viel Krieg vertreibt die Zuschauer. Das zu erkennen, war kein Hexenwerk, die täglichen Quotenauswertungen sprachen eine überdeutliche Sprache: Ab einem gewissen Maß sorgten Leid und Elend für schlechte Zahlen.
RTL wollte Geld verdienen. Dazu brauchte der Sender Werbung. Die wurde umso üppiger gebucht, je mehr Leute das Programm einschalteten. Also zeigte RTL das, was das Publikum sehen wollte. Oder zumindest etwas, was die Menschen nicht so ausdrücklich NICHT sehen wollten, dass sie per Fernbedienung zur Konkurrenz abwanderten.
Heute klingt das wie ein revolutionärer Ansatz: Fernsehen für die Zuschauer.
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RTL aktuell, die abendliche Hauptnachrichtensendung, hatte zu ihren besten Zeiten im Schnitt 4,2 Millionen Zuschauer. Das war 1997. Zuletzt wollten nur noch weniger als drei Millionen Menschen von den Kölnern informiert werden. Das – vom Selbstverständnis her – seriöse Flaggschiff des Senders ist damit wieder auf dem Stand von 1992.
Im Publikumszuspruch ist das ein Rückschritt um 30 Jahre.
Für den gesamten Sender ist alles noch desaströser. Vor genau 30 Jahren verbuchte RTL mit 14,9 Prozent den höchsten Marktanteil seiner Geschichte (bei den Zuschauern über drei Jahren). Im vergangenen Jahr waren es gerade noch 7,4 Prozent.
Oder anders: Dem stolzen RTL ist jeder zweite Zuschauer weggelaufen.
Die Vermutung ist nicht abwegig, dass „Stolz“ auch der Schlüsselbegriff zur Erklärung dieses dramatischen Niedergangs ist. Nehmen wir den Moderator und Reporter Maurice Gajda: Der hatte ja erst mithilfe der RTL-Grafiker einen Tweet von Ex-AfD-Chefin Frauke Petry gefälscht. Das war aufgeflogen. RTL war wohl zu stolz, einen offensichtlichen Fehler sofort einzugestehen. Der Sender hat Gajda also erst vehement verteidigt – um ihn kurze Zeit später, als die Sache dann doch größere Kreise zog, vorläufig freizustellen: wegen „Verstoßes gegen unsere journalistischen Guidelines“.
Auch Gajda selbst war erkennbar zu stolz für ein mea culpa: Er hat gerade eine Selbstrechtfertigung veröffentlicht. Problem dabei: Nach weiteren Recherchen kann diese Selbstrechtfertigung auch nicht stimmen. Vorsichtig gesagt: Es entsteht der Eindruck, dass der RTL-Mann eine Fälschung mit einer anderen Fälschung zu vertuschen versucht.
RTL hatte die Fälschung(en) durch Abgabe von gleich zwei Unterlassungserklärungen eingeräumt. Wohlgemerkt: Erst, als es gar nicht mehr anders ging, die Schummeleien beim besten Willen nicht mehr schönzureden waren und die rufgeschädigte Frauke Petry mit teuren (und Aufsehen erregenden) Klagen vor der Tür stand.
Heute, am 18. August, musste der Sender einsehen, dass der als „engagierter und leidenschaftlicher Reporter“ kennengelernte Gajda nicht mehr zu halten ist; die Zusammenarbeit mit ihm wurde fristlos beendet.
Na super, RTL.
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Und es war ja nicht das erste Mal: Reporterin Susanna Ohlen berichtete 2021 aus den Flutgebieten. Vorher rieb sie sich selbst mit Schlamm ein – offenbar, um ihren Bericht über die Wirklichkeit dramatischer erscheinen zu lassen, als diese Wirklichkeit ohnehin schon war.
RTL beurlaubte Ohlen: „Das Vorgehen unserer Reporterin widerspricht eindeutig journalistischen Grundsätzen und unseren eigenen Standards.“ Der Satz klingt vertraut, siehe oben beim Fall Gajda. Ohlen arbeitet heute übrigens längst wieder für den Sender, wenn auch nicht mehr vor der Kamera.
„Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode“, lässt Shakespeare den Polonius in „Hamlet“ sagen.
Denn im grünen Wandel der Zeit zieht der Kölner Privatsender sogar am öffentlich-rechtlichen WDR immer öfter auf der woken Überholspur vorbei. Methodisch entwickelt sich RTLinks zunehmend zu einer Art RT Deutsch in entgegengesetzter Windrichtung.
Die unfreiwillige Realsatire „Klima vor acht“ mit Wut-Prediger Eckart von Hirschhausen war selbst der ARD zu viel, die sich ansonsten ja nun wirklich für keinen linken Blödsinn zu schade ist. RTL sprang gerne ein, die Sendung läuft jetzt – sogar mit identischem Titel – bei den Kölnern.
Fehlende Ausgewogenheit bescheinigt eine große Studie des Forschungsinstituts Media Tenor nicht nur ARD und ZDF, sondern eben auch RTL. Alle drei Sender berichten demnach vorwiegend positiv über Grüne und SPD, negativ über die CDU und – Überraschung – am schlechtesten über die AfD.
Linksdrehende Journalisten machen eben auch ein linksdrehendes Programm.
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Dass RTL – dessen wichtigstes Ziel es einst war, den Publikumsgeschmack zu treffen – längst zu einer Publikumsbelehrungsanstalt mutiert ist, liegt maßgeblich am Personal.
Was schon seit geraumer Zeit als sogenannter journalistischer Nachwuchs in die Redaktionsräume schwappt, treibt einem die Tränen in die Augen. Menschen mit naturwissenschaftlicher Ausbildung – also zumindest mit einem Restrespekt für Fakten – sucht man weitgehend vergeblich, praktische Lebenserfahrung außerhalb von Universität und Medien auch.
Dafür ist die Luft zum Schneiden dick vor Selbstgerechtigkeit und, siehe oben, Stolz.
Hans Mahr hat damals die Nase in den Wind gehängt. Das Einzige, was sie bei RTL heute mit ihrer Nase machen, ist: Sie rümpfen sie – und zwar über ihr Publikum.
Allerdings wäre es unfair, die Jungen in Alleinhaftung zu nehmen. Nach Helmut Thoma traute sich der RTL-Mutterkonzern Bertelsmann nur noch ein einziges Mal, einen echten, innovativen Fernsehmacher zum Geschäftsführer zu machen: Marc Conrad, der hielt sich gerade drei Monate im Amt. Danach setzte der Weltkonzern aus Gütersloh nur noch Apparatschiks als Statthalter ein.
So glatt gekieselt wie die Führungskräfte, so stromlinienförmig wurde das Programm.
Wenn man ganz sichergehen will, dass ein Politikchef den Mächtigen nicht auf die Zehen tritt, dann holt man Nikolaus Blome. Der führt seit Jahren vor, wie man auch ganz ohne Rückgrat gehen kann. Von BILD wechselte der geschmeidige frühere Obergefreite zum „Spiegel“, das muss man auch erst mal schaffen. Dort verstieg er sich während der Corona-Pandemie zu der Aussage, die Deutschen seien „Geiseln der Ungeimpften“. Das hat er nie zurückgenommen. (Das Thema Stolz hatten wir ja schon.)
Seit 2020 ist Blome Ressortleiter Politik und Gesellschaft in der Zentralredaktion der Mediengruppe RTL Deutschland. Der Erfolg ist, mit Verlaub, mäßig: Die Zuschauerzahlen der RTL-Nachrichten gehen weiter unaufhörlich zurück – so stark, dass seit April sogar die Nachmittagsausgabe von „RTL aktuell“ komplett aus dem Programm geflogen ist.
Man ist geneigt, ein altes Wort von Axel Springer abzuwandeln: Es ist eine Abstimmung mit der Fernbedienung.
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Ginge es nach ökonomischer Logik, müsste das in einem Weltkonzern jemandem auffallen. Damit wären wir ganz oben in der Verantwortungskette angelangt: bei Thomas Rabe.
Der heutige Vorstandsvorsitzende von Bertelsmann war mal Chef-Controller bei der Treuhandanstalt. Das war jene Einrichtung, die nach der Wende die volkseigenen Betriebe der DDR privatisieren sollte. Dabei kam es zu massiven Betrügereien, auch im dreistelligen Millionenbereich. Nebenbei wurden die wenigen funktionierenden Restbestände der DDR-Industrie weitgehend planiert. Die Treuhandanstalt ist in den neuen Bundesländern bis heute ein Hassobjekt.
Im Jahr 2000 wechselte Thomas Rabe zu RTL. Zwölf Jahre später wurde er Vorstandsvorsitzender vom Mutterkonzern Bertelsmann. Vor ein paar Jahren setze er sich zusätzlich erst selbst als CEO der RTL Group ein, wenig später übernahm er dann auch noch die Geschäftsführung von RTL Deutschland. Wenn also jemand Macht hat bei RTL, dann ist es Thomas Rabe.
Allerdings will Rabe ein Schiff vor dem Untergang retten, für dessen schwere Schlagseite er selbst zwei Jahrzehnte lang maßgeblich mitgesorgt hat. Das folgt der kruden Logik, die immer mehr Großorganisationen zu ihrem Leitbild gemacht haben: Wenn ein Weg nicht zum Erfolg führt, dann ist es nicht der falsche Weg – sondern wir müssen ihn schneller gehen. Man kennt das von der EU.
Thomas Rabe tut also das, was praktisch alle Controller in den Medien heutzutage tun: Er probiert aus, mit wie wenig Journalismus es wohl geht.
In der Gütersloher Zentrale, bei der Verwaltung, strich der zum Chef beförderte Zahlenprüfer 100 Stellen – aber beim zum Konzern gehörenden Traditionsverlag Gruner & Jahr sowie bei RTL Deutschland mal eben das Zehnfache: 1.000 Mitarbeiter der beiden journalistischen Großbetriebe verlieren ihren Job. 23 Titel des Verlags werden eingestampft.
Ungefähr seit der Jahrtausendwende fahren so ziemlich alle privaten Medienkonzerne in Deutschland ihre Investitionen in den Journalismus sukzessive zurück. Allerdings lindert das nicht die Not, im Gegenteil: Die Probleme werden nur noch immer größer. Die Antwort ist immer dieselbe: noch weniger Journalismus.
Controller haben vermutlich ein ausgeprägtes Zahlenverständnis – aber wenig Ahnung von denen, an denen die Zahlen letztlich hängen: den Zuschauern.
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Anderswo sieht es nicht besser aus.
Nehmen wir ProSiebenSAT.1. Dort heißt der Vorstandsvorsitzende Bert Habets, er war vorher… na? Controller (und lustigerweise auch mal Chef von RTL). Jetzt baut er bei ProSiebenSAT.1 in Deutschland 400 Stellen ab, jeder zehnte Mitarbeiter muss gehen.
Auch dieser Sender schaut schon seit längerem lieber auf Pädagogik statt auf Profit, auch bei diesem Sender schlägt das Mitarbeiter-Herz ausschließlich links, auch bei diesem Sender wandern die Zuschauer in Scharen ab. Und auch hier versucht die Führung, ihren kranken Patienten dadurch zu kurieren, dass sie ihn mit noch viel mehr desselben Erregers vollpumpt, der die Krankheit überhaupt erst ausgelöst hat.
Deutschlands Privatfernsehen heute: Das sind Ober-Chefs, die ihre Endkunden nicht verstehen. Das sind Mitarbeiter, die hochmütig auf ihre Endkunden herabblicken; die ihre Endkunden über das vermeintlich richtige Leben belehren wollen; die ihren Endkunden dafür sogar Fälschungen unterjubeln; und die dann noch zu stolz sind, auch nur halbwegs angemessen um Entschuldigung zu bitten.
In Deutschland machen auch die Privaten nicht mehr Fernsehen für die Zuschauer, sondern gegen sie.
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Was der längst verrentete Lord Volde-Mahr zum real existierenden Privatfernsehen zu sagen hat, ist nicht überliefert. Mit ziemlicher Sicherheit denkt er sich seinen Teil. Dabei benutzt er sehr wahrscheinlich die in Österreich übliche Robust-Variante von „Geh’, bitte“. Die versteht jeder auf Anhieb:
„Geh’, leck…“