Ein schöner Samstag im April. Vater fährt den Wagen in den Garten und beginnt, Kartoffeln zu setzen. Die Kinder spielen daneben Fußball, die Schaukel gilt als Tor. Aus dem Autoradio ist Gerd Rubenbauer zu hören: „Wenn nichts mehr geht, geht Pflügler.“ Ein verregneter Novembertag. Nur wenig bekannte Spieler kämpfen auf dem schweren Rasen in Bochum oder Kaiserslautern. Dann ertönt ein Jingle und im dunklen Wohnzimmer stoppen die Gespräche. Ein Umzug nach Mainz und während der voll beladene Van nur mit Mühe die Spur hält, gerät Borussia Dortmund als Sieger der Champions League in den Abstiegskampf der Bundesliga.
Eins haben die Ereignisse an die Bundesliga im Radio gemeinsam: eine Uhrzeit. Es ist Samstag, 15:30 Uhr, wenn in den Stadien angepfiffen wird und die Radiomoderatoren dies mit ihren Stimmen in die Autos, Wohnzimmer, Gärten oder Fitnessstudios bringen. Vor allem die ARD-Sender übertragen die Spiele. Aber auch die Privaten sind dabei. Radio RTL hat in den 80er Jahren eine geniale Idee: Immer, wenn es in einem Stadion klingelt, ertönt ein Jingle. Die mitzitternden Fans warten gebannt wie Pawlowsche Hunde darauf, wo es gescheppert hat.
Wer die Erinnerungen an die Radio-Tage der Bundesliga beziffern will, der hat viel zu tun: Samstag für Samstag begleitet das Leitmedium der Kriegszeit den Fußball der obersten deutschen Spielklasse. Obwohl ihm Internet und Fernsehen längst den Rang abgelaufen haben, erreicht das Radio für drei Stunden die alte Stärke, löst ein Kopfkino aus, wie es das Bewegtbild nur schwer hinkriegt. Selbst ein Sender wie RBB24-Inforadio – 165 Stunden die Woche ein Hort unerträglicher grüner Volkspädagogik – ist für 180 Minuten unterhaltsam.
Die Konferenz ist älter als die Bundesliga selbst. Der, der sie ins Leben gerufen hat, gilt selbst zurecht als Legende: Herbert Zimmermann. Die Stimme von Bern: „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt: Tor! Tor! Tor! Tor!“ Zimmermann organisiert für den 21. September 1952 eine Konferenz von Spielen der Oberliga Nord. Er selbst sitzt im Studio und koordiniert die sechs Außeneinsätze.
Die Moderatoren der ersten Stunde sind Helden. Sie sitzen auf windigen Dächern oder mitten im Publikum, müssen ohne Assistenten und zwischen erhobenen Armen erkennen, was auf dem Platz vor sich geht, wer getroffen hat oder wer da gerade verletzt auf dem Boden liegt. Das Stichwort, das sie aus dem Studio erhalten, können sie nur erraten. Erst recht, wenn es zum Höhepunkt kommt: der Schlusskonferenz. Wenn in den letzten 30 Minuten alle Moderatoren abwechselnd schildern, was auf den Plätzen vor sich geht, bis einer dazwischenruft: „Tor in Frankfurt“.
Manche Moderatoren verschmelzen mit ihrem Verein. So wie Günther Koch in Nürnberg, der später sogar Aufgaben im Club übernimmt. Das Synonym von den „Clubberern“ hat er selbst geschaffen. Koch wird Teil einer Schlusskonferenz, die zu den Höhepunkten der Bundesliga gehört: dem Abstiegskampf am 34. Spieltag der Saison 1998/1999. In der Schlusskonferenz wechseln sich Eintracht Frankfurt, Hansa Rostock und der Club im Minutentakt auf dem (damals) Abstiegsplatz 16 ab.
Koch selbst zeigt sein Gespür für Fußball an diesem Tag. Vor Anpfiff können neben Frankfurt und Rostock auch noch der SC Freiburg und der VfB Stuttgart absteigen. Nürnberg kann es eigentlich nicht treffen. Da muss schon alles zusammenkommen. Doch Koch kennt den Club und seine Neigung zur Tragik. Bis heute sind die Nürnberger die einzigen, die als amtierender Deutscher Meister aus der Bundesliga abgestiegen sind.
Zu Beginn des Spieltags warnt Koch: Hier sind alle in Partylaune, dabei kann Nürnberg absteigen. Früh liegt der Club dann auch 0:2 gegen Freiburg zurück. Bis zur 70. Minute bleibt es aber ein ruhiger Tag. Bei Eintracht Frankfurt gegen den 1. FC Kaiserslautern steht es 1:1 und die Adler brauchen mindestens drei Tore, um Dinge in Bewegung zu bringen. Dann überschlagen sich die Ereignisse, gerät Rostock gegen den VfL Bochum in Rückstand, dreht das Spiel aber wieder – und schießt Frankfurt in 20 Minuten vier Tore. Das letzte durch einen ungeheuer frechen Übersteiger von Jan Age Fjörtoft. Es zeichnet sich das tragische Ende ab, das Koch erwartet hat, und er kehrt zurück auf den Sender mit den legendären Worten: „Hallo. Hier ist Nürnberg. Wir melden uns vom Abgrund.“ Wer ihm zuhört und keine Gänsehaut kriegt, der hat Fußball nie geliebt.
Nach dem Abstieg der Nürnberger tröstet ihn Manni Breuckmann über den Sender. Koch tut ihm leid. Auch wenn er ihn vorher oft kritisiert hat wegen seiner Nähe zu Nürnberg. Das schade der journalistischen Distanz. Gut. Breuckmann selbst hat ein Problem mit Bayern München. Geht es in seinen Reportagen um den Rekordmeister, kann er seine Abneigung nicht verbergen. Aber er fordert journalistische Distanz ein. Denn Fehler sind immer die Fehler der anderen – da atmet Breuckmann ganz den Geist der Doppelmoral seines Arbeitgebers WDR.
Breuckmann vermarktet sich gerne als Kult-Radiomoderator. Aber selbst im WDR kommt er da bestenfalls auf Platz zwei. Die Eins geht ganz klar an Werner Hansch. Der Pferdesportexperte ist die Stimme der Radiokonferenz. Legendär ist seine Reportage vom letzten Spieltag der Saison 1989/90. Der VfL Bochum muss gegen den Karlsruher SC gewinnen, wenn die Bochumer noch eine Chance darauf haben wollen, den Relegationsplatz 16 zu vermeiden. Doch sie haben ein Problem: Ihren direkten Konkurrenten Borussia Mönchengladbach und Bayer Uerdingen genügt jeweils ein Punkt, um überm Strich zu bleiben – egal, was in Bochum passiert.
Ausgerechnet Gladbach und Uerdingen spielen aber an diesem Tag im Krefelder Grotenburg-Stadion gegeneinander. Und diese Partie endet, völlig überraschend 0:0. Es wäre ein schlimmer Tag für den deutschen Fußball gewesen, wenn nicht Werner Hansch das Spiel im Radio übertragen hätte. Hansch macht sich über den Nichtangriffspakt lustig: „Der Fach, Sie glauben nicht, was der Fach macht. Der spielt einen Querpass auf Kleppinger. Der Teufelskerl. Doch halten Sie sich fest. Der Kleppinger, der spielt einen Querpass zurück auf den Fach. Und der gibt gleich wieder zurück auf Kleppinger.“ Gladbach und Uerdingen spielen Bochum an dem Tag übel mit. Doch die Bochumer amüsieren sich rund 50 Kilometer weiter über den brillanten Hansch, gewinnen später die Relegation gegen den 1. FC Saarbrücken und bleiben (vorerst) in der Bundesliga.
Es dauert bis in den September 1989, bis mit Sabine Töpperwien eine Frau in die Männerwelt eindringt. Wikipedia wirft ihr vor, sie habe in ihrem Stil ihren Bruder nachgeahmt – die ZDF-Legende Rolf Töpperwien. Doch das ist unfair und trifft nicht zu. Sabine Töpperwien gelingt es, eine ganz eigene, angenehme Tonfarbe in die Radiokonferenz einzubringen. Sie wird damit selbst zum Kult und 2004 von den Fantastischen Vier auf deren Album Viel verewigt.
Am 2. März 1991 bricht Premiere in die Welt der Radiokonferenz ein. Reinhold Beckmann moderiert das 4:3 von Eintracht Frankfurt gegen den späteren Meister 1.FC Kaiserslautern. Damals ist Premiere noch im Kabel-TV zu empfangen: Das Bild wird zerrieselt, Beckmanns Ton ist aber voll zu hören und ärmere Fans schauen sich das Grieselspiel an und können zumindest in den Konturen erkennen, welches Team gerade drückt.
Das Fernsehen holt sich jetzt den Fußball so richtig. Erst läuft nur ein „Spiel der Woche“, dann die Konferenz und bald jedes Einzelspiel. Weil die Kosten für die TV-Rechte auf 1,1 Milliarden Euro im Jahr hochschnellen, zerstückelt die Liga ihren Spielplan: Liefen bis dahin sieben, acht oder gar neun Spiele am Samstag um 15:30 Uhr, so sind es jetzt nur noch fünf – in Euro-League-Wochen sogar nur vier Spiele.
Doch die Bundesliga-Konferenz lohnt sich immer noch. In der Gleichzeitigkeit der Ereignisse kommen das Internet und das Fernsehen nicht an das Radio ran. Etwa am 33. Spieltag 2001. Beim VfB Stuttgart steht es kurz vor Schluss 0:0 gegen Schalke 04, der 1.FC Kaiserslautern hält ein 1:1 bei Bayern München. In einer Mainzer WG laufen zwei Radiogeräte. Mit diesem Spielstand hat Bayern die Meisterschaft ziemlich sicher verzockt – und ein Mainzer Journalist eine Wette mit einem recht peinlichen Einsatz gegen seinen Mitbewohner verloren. Der kommt nun zu ihm ins Zimmer, um Häme über ihm auszugießen – und dann passiert es.
In Stuttgart trifft Krasimir Balakov gegen Schalke. Und fast im gleichen Atemzug heißt es aus München, dass Alexander Zickler die Bayern in Führung gebracht hat. Der Mitbewohner steht im Türrahmen und ihm vergeht die gute Laune. Der Journalist fragt: „Is was?“ Die Bundesligakonferenz spielt der Häme im Hintergrund das Lied vom Tod. Ohne den Doppelschlag von Balakov und Zickler hätte es Schalke 04 eine Woche später genügt, gegen die Spvgg Unterhaching zu gewinnen, um 2001 aus eigener Kraft Deutscher Meister zu werden. Sie hätten nicht nach oben schauen müssen, was Patrik Andersson da oben auf der Videotafel macht – aber das ist eine andere Geschichte aus 60 Jahren Bundesliga.