Friedrich Kramer, der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, meinte zur AfD, die Kirche werde „mit den Spitzen dieser Partei keine offiziellen Gespräche führen (…), weil zentrale Aussagen dieser Menschen diametral gegen das christliche Menschenbild stehen“. Inhaltlich finde ich es irritierend, wenn das „christliche Menschenbild“ dafür herhalten muss, dass man mit Menschen nicht mehr spricht. Hinzu kommt die Weisheit aus Kindergartenzeiten, dass die Hand, die mit dem Zeigefinger auf andere zeigt, mit drei Fingern auf sich selbst zeigt.
Konkret: Müssen wir zu „diesen Menschen“ von der evangelischen Kirche den Kontakt abbrechen, weil diese mit menschenverachtenden 2G-Apartheitsgottesdiensten in der Coronazeit jämmerlich versagt haben? Es war schon damals erwiesen, dass getestete Ungeimpfte mehr Fremdschutz bieten als ungetestete Geimpfte; mithin 2G „diametral gegen das christliche Menschenbild“ stand.
Kontaktschuldphänomene und Brandmauergelüste sind nichts Neues. Über den großen Philosophen Baruch Spinoza wurde am 27.7.1656 von seiner Amsterdamer Gemeinde der „große Bann“ ausgesprochen. Das bedeutete, dass jede Kommunikation zu ihm abgebrochen werden musste. Und bei zufälligen Begegnungen in der Stadt durfte niemand aus der Gemeinde ihm näher kommen als 1,5 Meter, um sich nicht eines Kontaktes mit ihm schuldig zu machen. Spinoza hatte sich unbeliebt gemacht, weil er ein unpersönliches Gottesbild vertrat und die Praxis des Bittgebetes ablehnte.
Ein „großer Bann“ ist vermeintlich etwas sehr Praktisches. Auf der verstandesmäßigen Ebene bedeutet das: Man braucht sich nicht mehr mit den Andersdenkenden auseinanderzusetzen; das ist nämlich mühsam und anstrengend. Spinoza hatte eine der größten privaten Bibliotheken seiner Zeit; und er wusste sogar mit phänomenaler Klugheit, was in diesen Büchern stand. Kontaktschuld ist die Erlaubnis, ungestört von solchen klugen Menschen in seiner eigenen Filterblase als „Idiot“ leben zu dürfen („Idiot“ = griechisch: „der abgesondert für sich Seiende“).
Der „große Bann“ als moralisch überhöhte Diskussionsverweigerung erlaubt es, in seiner eigenen miefigen Enge zu bleiben und diese dann noch als Wohlgeruch zu verkaufen. Ich selber habe wie Jesus Christus ein persönliches Gottesbild und praktiziere das Bittgebet. Gerade das „Vaterunser“ als das Mustergebet Jesu betont die väterliche Geborgenheitsbeziehung zu Gott, vor dem ich jederzeit und an jedem Ort alle meine Sorgen und Bitten aussprechen kann. Und doch wird mein Glauben tiefer und meine Argumentationsfähigkeit reifer, wenn ich mich ernsthaft mit den pantheistischen Gedanken Spinozas beschäftige.
Auch auf emotionaler Ebene ist „der große Bann“ scheinbar etwas Praktisches: Die eigenen Zweifel, die man in sich selbst nicht wahrhaben will, die darf man konsequent und gutmenschlich am anderen unterdrücken. Doch dummerweise lassen sich berechtigte Zweifel dauerhaft wie ein Wasserball nur schwer unter Wasser halten. Der Wasserball ploppt immer wieder hoch und fliegt einem um die Ohren. Statt seine eigene Argumentationsfähigkeit am politischen Gegner zu schärfen und zu verbessern, ist man die ganze Zeit damit beschäftigt, den Wasserball unter Wasser zu halten. Das kostet unsäglich viel Kraft und bringt letztlich nicht weiter.
Jesus Christus steht mit seinem Leben konsequent gegen die Kontaktschuld-Idiotie. Er berührt Aussätzige, er lässt sich von einer Prostituierten salben, er besucht die damals verhassten geldabknöpferischen Zöllner, er verheißt dem Schwerverbrecher am Kreuz das Himmelreich. Auch zur gesellschaftlichen Elite wie den Pharisäern und Schriftgelehrten sucht er den Dialog. Dabei vertritt er folgenden Grundsatz:
„Ich bekämpfe mit ganzer Kraft alle Irrtümer. Aber gleichzeitig liebe ich mit aller Kraft die Menschen hinter diesen Irrtümern. Darum gehe ich offen auf alle Menschen zu.“
Mit dieser Differenzierung baut Jesus Christus tragfähige Brücken zu Menschen, wo andere die Brücken abbrechen. Die Neugier und Liebe zum Mitmenschen schenkt eine Verbindung, selbst wenn man sich inhaltlich konträr gegenübersteht.
Auch die Aufklärung steht der Brandmauer-Denke diametral entgegen. In ihrer theoretischen Idealform steht die Aufklärung für folgendes Motto: „Jeder bringt seine Argumente in die Debatte ein. Und dann setzen sich in einem offenen Diskurs die besten Argumente durch. Gerade Andersdenkende und vermeintliche Ketzer können den Diskurs bereichern, zumal wenn sich dieser im Kreise dreht.“ Baruch Spinoza als ein Wegbereiter der Aufklärung ist unter dem „großen Bann“ konsequent seinen Weg weitergegangen.
Kontaktschuld-Idiotie ist der Rückfall in ein unchristliches und anti-aufklärerisches Zeitalter. Sie ist ein Armutszeugnis für jeden wachen Geist, der den fairen Streit der Argumente liebt. Und sie ist ein Armutszeugnis für jeden menschlichen Geist, der auch im vermeintlich irrenden Gegner ein Gotteskind sieht, mit dem er zumindest in dieser Hinsicht zusammengehört, ob er will oder nicht.
Für mich gibt es darum nur einen einzigen Grund für eine prinzipielle Gesprächsverweigerung: Wenn der Gegner mir vor oder während des Gesprächs mit Gewalt droht. Damit ist dem Gespräch die Basis genommen. Dann muss ich mich und andere schützen. Gewalt ist die absolute Grenze.
Bei meiner offenen Haltung gegenüber anderen Ansichten habe ich so manche Überraschung erlebt. Da skandieren die vermeintlichen „Feinde des christlichen Menschenbilds“ aus ganzem Herzen „Freiheit, Friede, Demokratie“, während die selbsternannten „Wächter des christlichen Menschenbilds“ auf der Gegenseite rufen: „Wir impfen euch alle“, „mehr schwere Waffen in die Ukraine“ und „keine Grundrechte den Feinden der Freiheit“. Bei Kontaktschuldphänomenen und Brandmauergelüsten kann man manch blaues Wunder erleben.