Tichys Einblick
Tusványos

„Ungarn läuft Gefahr, auf die Verliererseite zu geraten”

Viktor Orbáns jährliche Grundsatzrede im siebenbürgischen Tusványos ist immer ein Höhepunkt des politischen Jahres. Aber nicht nur seine Stimme ist dort zu hören.

Screenprint: twitter/Balazs Orbán

Seit 1990 trifft sich Ungarns im weitesten Sinne patriotische politische Familie zum Nachdenken, debattieren, und feiern im siebenbürgischen Baile Tusnád (Ungarisch: Tusnádfürdő), in Rumänien. Von Anfang an war es ein internationales Format, die Idee kam damals vom BBC-Journalisten David Campanale, und gleich beim ersten Mal war auch der britische, weithin respektierte Historiker Norman Stone dabei.

„150 Teilnehmer waren wir damals insgesamt”, sagt Mitbegründer Zsolt Németh. Er war damals ein junger Mann, heute gilt er als einer der erfahrensten und weisesten Köpfe der Regierungspartei Fidesz. Er kümmert sich um deren Strategie bezüglich der ungarischen Minderheiten im Ausland, und ist Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses im ungarischen Parlament.

Inzwischen kommen jedes Jahr Tausende Teilnehmer, und die Veranstaltung ist zum einem Höhepunkt des politischen Jahres geworden – denn jedes Jahr hält Parteichef und Ministerpräsident Viktor Orbán hier eine Rede, die meistens so provokant gelingt, dass er damit regelmäßig die internationalen Schlagzeilen beherrscht.

Aber nicht nur seine Stimme ist dort zuhören. In Tusványos sagt jeder, was er will, man ist ja unter sich. Immer gibt es Dissonanzen, widersprüchliche Meinungen und Denkansätze. Es ist der Ferment, aus dem letztlich die politische Philosophie der Regierungspartei sich nährt.

So auch dieses Jahr. Eine der wichtigsten Veranstaltungen neben Orbáns Rede ist die Diskussion zur Eröffnung, mit Zsolt Németh (als Gastgeber des Festivals) und anderen Persönlichkeiten. Was er dieses Jahr zu sagen hatte, liess aufhören.
Die Krieg in der Ukraine, sagte er, werde zu einer neuen Weltordnung führen, wie nach dem ersten und dem zweiten Weltkrieg. Und obwohl Ungarn sich bemühe, aus den Verstrickungen dieses Konflikts herauszuhalten, laufe es Gefahr, politisch am Ende „wieder auf der Verliererseite zu landen”.

„Wahrnehmung” sei wichtig, sagte Németh, und obwohl Ungarn der Ukraine aktiv beistehe, mit großen humanitären Hilfen, sei die Wahrnehmung der ungarischen Rolle ganz anders. Deswegen sei es wichtig, in der Öffentlichkeit „gemässigt” über diesen Krieg zu reden. Man müsse immer klar sagen, dass „Russland der Aggressor ist, und dass Ungarn der Ukraine in vollem Maße beisteht.”
Das war ein etwas anderer Ton, als der bisherige Ton der ungarischen Regierung, die diese Dinge zwar auch sagt, nebenbei aber gerne die westlichen Länder als „Kriegspartei” kritisiert.

Viel radikaler äußerte sich David Campanale auf diesem Podium, der 1990 die Idee für dieses Festival hatte. Russland müsse bestraft werden, sagte er sichtlich aufgebracht, und es wäre gut, wenn zu diesem Thema Ungarns Regierung „möglichst lange nichts mehr sage.” Niemand klatschte. Aber auf dem Podium wiedersprach auch niemand, wohl aus Höflichkeit, es waren die Schlussworte der Veranstaltung.

Der Transparenz halber: Auch ich nahm als Redner teil und gab zu bedenken, dass ein Tonwechsel in der Kommunikation nicht unbedingt erfolgreich sein werde. Denn dafür müssten Orbán-Kritiker im Westen bereit sein, diesen neuen Ton anzunehmen und politisch zu honorieren, was ich für unwahrscheinlich halte. Zudem gab ich zu bedenken, dass es hilfreich wäre, zu verstehen, wer denn aus diesem Konflikt als Gewinner hervorgehen werde – erst so stelle sich die Frage, wie man es vermeiden könnte, auf der Verliererseite zu stehen.

War Németh’s Referat aber ein verhaltener Widerspruch zur Regierungslinie, oder die Ankündigung eines Positionswechsels der Regierung?

Orbáns Rede gab dafür einige Hinweise. Anders als in früheren Jahren enthielt sie wenig skandalträchtige Thesen. Über Russland und die Ukraine sagte er so gut wie gar nichts, außer darauf hinzuweisen, dass die allermeisten westlichen Firmen sich überhaupt nicht aus dem Russlandgeschäft zurückgezogen hätten, und dass interessanterweise der Aussenhandel der EU-Länder mit Kasachstan sich verdoppelt habe. „Warum nur?”, fragte er hämisch – alle verstanden die Anspielung: Die EU-Länder umgehen womöglich die Russlandsanktionen, indem sie nach Kasachstan exportieren.

Mit eindeutigen Zahlen belegte er den wirtschaftlichen Niedergang der EU auf dem Weltmarkt seit 2008 im Vergleich zum BIP der USA, ein selbstverschuldeter Niedergang, wie er meinte. Man könne nicht wirtschaftlich erfolgreich sein wenn man für Energie viel mehr bezahlen müsse als die Hauptkonkurrenten USA und China.

Sein Hauptthema aber war China, mit einer bemerkenswerten Einführung. Wenn man in der Politik Entscheidungen trifft, sagte er, müsse man deren zeitliche Dimension richtig einordnen: Taktisch, strategisch, oder historisch. Wer das nicht erkenne, laufe Gefahr, Entscheidungen zu treffen, die ungewünschte Konsequenzen haben.

Angela Merkel beispielsweise habe in der Flüchtlingskrise 2015 „taktisch” entschieden, obwohl das zu lösende Problem von strategischer Reichweite war. Und die USA hätten in den 1970 Jahre die „strategische” Entscheidung getroffen, China aus seiner internationalen Isolation zu befreien. Die wahre Dimension dieser Entscheidung sei aber historisch: Die USA erschufen so ungewollt ihren heutigen globalen Hauptrivalen.

Bislang, so Orbán, sei es den USA immer gelungen, globale Herausforderer zu besiegen – die Sowjetunion, aber auch die EU (gemessen an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit). Die Frage sei, ob es gelingen könne, die neue Rivalität mit China ohne Krieg zu lösen.

Das gehe, aber nur – und hier bemühte Orbán eine chinesische Phrase – wenn die USA akzeptierten, dass „zwei Sonnen scheinen” auf dieser Welt. China und die USA. Ungarn akzeptiere das.

Was bedeutete diese Orbán-Rede? Er hält an seiner langjährigen Analyse fest, dass die EU im Niedergang sei, der globale Osten (und Süden) im Aufstieg. Die USA? Nun ja, weiterhn stark, aber alles ist relativ.
800 Millonen Menschen leben in den Ländern des Westens, sagte er, und acht Milliarden gebe es zusätzlich auf dem Planeten. „Wir wären dumm, uns nur auf die 800 Millionen im Westen zu begrenzen”.

War Zsolt Némeths Auftakt-Botschaft nun Widerspruch, oder Ankündigung einer gemäßigteren Regierungskommunikation zum Ukraine-Krieg?
In sofern Orbán diesmal garnichts zum Thema sagte, wohl eher Ankündigung. Ab jetzt dürfte die ungarische Regierung zum Ukraine-Krieg weniger sagen, ausser wenn ungarische Interessen direkt tangiert sind.


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