Das Bundesverfassungsgericht hat sich die Wahlprüfungsbeschwerde der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausgesucht, um diese vermutlich exemplarisch für die anderen eingereichten Beschwerden zu verhandeln. Es liegen mindestens acht weitere Wahlprüfungsbeschwerden vor, darunter eine, die zwei Leser von Tichys Einblick mit Unterstützung von TE und der Atlas Initiative eingereicht haben.
Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages will die Wahl nur in 431 Wahlbezirken wiederholen. 431 von 2556 Bezirken. Diese Wahlbezirke konstituieren dann zusammen die Wahlkreise. Denn die Ampel stellt den „Bestandsschutz“ des Parlaments über die Sauberkeit der Wahl. Das Argument, vorgetragen vor dem hohen Gericht: Das Parlament ist legal zustande gekommen und muss weiter existieren. Weil die Wahlen in Berlin unsauber waren, will man sie minimal wiederholen, aber nur in den Wahlbezirken, in denen es zu „mandatsrelevanten“ Fehlern kam. Und auch nur da, weil nur da die Unsauberkeit der Wahlen „unerträglich“ gewesen sei. Im Umkehrschluss heißt das natürlich: Alles andere ist halb so wild – gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen.
Die Berliner CDU legt auf eine Wiederwahl keinen Wert. Die Aufklärung der Missstände der Wahl war die Arbeit von Tichys Einblick, das Versagen der Verwaltung bei der Wahlorganisation im CDU-Wahlkampf quasi kein Thema. Die Beschwerde, die jetzt beim Bundesverfassungsgericht von der Bundestagsfraktion angestrengt wurde, wird von CDU-Männern aus der zweiten Reihe betrieben. Ansgar Heveling aus NRW und Patrick Schnieder aus Rheinland-Pfalz sind die Beschwerdeführer. Sicher, Schnieder ist parlamentarischer Geschäftsführer, einer von drei. Dazu gibt es einen „Ersten“ parlamentarischen Geschäftsführer. Die erste Reihe der Partei hat kein Interesse. Will sie es sich nicht mit möglichen Koalitionspartnern verderben?
Doch auch diese Beschwerde der CDU steigert sich in juristische Feinheiten, statt in die wichtigste Frage der Demokratie: Wie legitim ist die Regierung?
Die Union fordert, dass die Wahl nicht in den Bezirken, sondern in den übergeordneten Wahlkreisen wiederholt wird. Denn die Wahlkreise sind die kleinste relevante Einheit der Wahlen: Aus ihnen werden die Direktmandate entsandt. So weit, so stimmig.
Wie sollen Fehler bewiesen werden, wenn die Fehlerdokumentation schlecht ist?
Aber: Die Union argumentiert, dass nur in sechs Wahlkreisen neu gewählt werden soll. Die meisten der betroffenen 431 Wahlbezirke liegen in diesen sechs Wahlkreisen – aber nicht alle. Für die anderen sechs Wahlkreise fehlt es der Union an Beweisen für tatsächlich verkorkste Wahlgänge, so die Logik. Die Beweise fehlen entweder, weil es keine Fehler gab; oder aber, weil die Protokolle der Wahlkreise unzureichend sind. Und auch, weil eine Beweisführung zwei Jahre nach der Wahl quasi unmöglich ist.
Doch die Logik geht in die falsche Richtung. Juristisch kann eine Wiederwahl nur erzwungen werden, wenn es genügend Hinweise gibt, dass es Fehler gab UND dass diese Fehler in einem hinreichend großen Umfang stattfanden, um sich auf das Mandat auszuwirken. Das ist der Standpunkt der Ampel.
Um ein Beispiel des Gerichts anzuführen: Wird eine Wählerin wegen ihres Kopftuchs an der Urne abgewiesen, ist das ein schwerwiegender Wahlfehler. Das darf nicht passieren. Aber, sofern das nur einmal passiert, lässt sich damit keine Wahlwiederholung rechtfertigen, denn eine Stimme mehr oder weniger macht keinen Unterschied, wer nun diesen Wahlkreis gewinnt. Es müssten schon mehrere Bürger in einem Wahllokal abgewiesen werden.
Eigentlich, das wurde in der Verhandlung klar, will die Ampel sogar dem Bundesverfassungsgericht untersagen, proaktiv nach Wahlfehlern zu suchen. Das wurde schon bei der Eröffnung der Verhandlung am Dienstag klar, als der Verfahrensbevollmächtigte der Bundestagsfraktion, Heiko Sauer, den Standpunkt vertrat: Nur das Parlament hat das Recht, die Bundestagswahl zu prüfen. Das Verfassungsgericht dürfe nur prüfen, wenn es glaubt, dass der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags nicht ordentlich geprüft hat. Das Gericht wisse, dass der Wahlprüfungsausschuss richtig geprüft habe, weil der Wahlprüfungsausschuss beschlossen hat, dass er richtig geprüft hat.
Ach übrigens: Die 40.000 Seiten Wahlprotokolle, die es gab, auch wenn die Protokolle schlecht geführt wurden, hat der Wahlprüfungsausschuss nicht geprüft, denn „das sei nicht zu leisten gewesen“, mit nur zwei Mitarbeitern im Ausschuss. Man hat sich mit 300 Seiten begnügt. Der Bundestag hat schließlich so wenige Mitarbeiter, dass kann man schon verstehen.
Wähler sind nicht Juristen
Das Problem ist: Das Gericht, die Ampel und die Union ergehen sich in legalistischen Untersuchungen einzelner Wahllokale. Eine zentrale Diskussion der Verhandlung war zum Beispiel, was konkret ein Wahlfehler ist. Ist es ein eigener Wahlfehler, wenn Bürger mehr als 30 Minuten an der Wahlkabine warten müssen? Oder ist der Wahlfehler nicht das Warten, sondern der Mangel an Wahlkabinen, die zur Schlangenbildung und so zum Warten führen?
Für Juristen sind das spannende Fragen, die Generationen an Studenten beschäftigen mögen. Dem Bürger, der seine Stimme nicht abgeben konnte, ist es egal. Und genauso egal ist es dem Bürger, der Vertrauen in das Wahlsystem verliert, weil er bezweifeln muss, dass seine eigene Stimme und die Stimmen anderer Bürger ordentlich erfasst wurden. Das Ziel einer Wahl ist es ja nicht, eine Checkliste an legalen Mindestanforderungen abzuarbeiten. Sondern, den Bundestag zu konstituieren. Der wiederum die Regierung bildet, den Bundespräsidenten und die Hälfte der Bundesverfassungsrichter wählt (die andere Hälfte kommt vom Bundesrat).
Der Bundestag ist stellvertretend für die Bürger die Quelle allen politischen Handelns. Die Bundestagswahl muss deswegen über alle Zweifel erhaben sein. Nicht, weil das Grundgesetz oder eine Norm oder ein Gericht das so verlangt. Denn nur dann sind all diese Dinge keine Diktaturwerkzeuge, sondern demokratische Institutionen. Das ist keine Schelte des Bundesverfassungsgerichts. Das Gericht ist eben das: Ein Gericht, und es muss entscheiden, wie es Gerichte eben tun, anhand der bestehenden Rechtsnormen, Verordnungen und Paragraphen. Die beteiligten Politiker müssten jedoch erkennen: Rechtsnormen sind die falsche Kategorie, um über die Qualität einer Wahl zu diskutieren. Es ist die Pflicht von Gerichten, über Paragraphen zu streiten, und die Pflicht der Politik zu realisieren, dass die Welt mehr ist als nur Paragraphenstreit.
Und es ist die Qualität der Wahl, die in Karlsruhe verhandelt wird. Es ist die Frage: Wie unsauber darf eine Wahl ablaufen, bevor sie flächendeckend wiederholt werden muss? Bevor das Vertrauen zu zerrüttet ist? 15 Prozent der Bezirke haben bekannte schwerwiegende Fehler. Würden wir ein Auto fahren, bei dem 15 Prozent der Bremskraft nicht funktioniert?
Aber für die Politik scheinen Wahlen zu einem unbequemen Akt zu verkommen, den man alle vier Jahre über sich ergehen lassen muss. Die CDU zum Beispiel will zwar, wie oben beschrieben, die Wahlen wiederholen – aber nur mit der Zweitstimme. Die Erststimme soll nicht noch einmal abgegeben werden. Die Erststimme, so die Logik der Union, ist nicht von genügend bewiesenen Wahlfehlern betroffen gewesen, als dass sie sich auf die Mandate ausgewirkt hätten. Aber die Zweitstimme eben schon.
Die Erst- und Zweitstimmen so zu trennen, wäre ein bisher einmaliger Vorgang. Und unverständlich. Die Neuwahl der Zweitstimmen könnte theoretisch ein paar Listenmandate verschieben. Aber – eine geringe Wahlbeteiligung unterstellt – sie würden sich wohl kaum relevant auswirken können. Denn: Über die deutschlandweite Verteilung der Zweitstimmen werden die Landes-Listenmandate verteilt, an jede Partei proportional zur Stimmverteilung. Die Wiederwahl in sechs der 299 Wahlkreise Deutschlands wird kaum auf die gesamte Proportion der Stimmverteilung – und damit der Mandate – auswirken. Möglicherweise gibt es eine Verschiebung, welcher Listenkandidat in den Bundestag rutscht. Auch Ausgleichs- und Überhangmandate könnten betroffen sein. Aber das ist kleinteilig.
Die wirklichen Erschütterungen des Bundestags können nur passieren, wenn sich die Direktmandate neu verteilen. Denn dann ist die LINKE davon bedroht, dass sie eines ihrer drei Direktmandate verliert – und damit die 36 Zweitstimmenmandate, über die sie verfügt. Denn die LINKE ist an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, zog über die drei Direktmandate (die die fünf Prozent übertrumpft) ein. Das wiederum hat Auswirkungen auf die Ausgleichs- und Überhangmandate der anderen Parteien im Bundestag und könnte den Bundestag massiv schrumpfen lassen.
Ziel der Wiederwahl kann zwar nicht sein, die LINKE aus dem Parlament zu schmeißen. Es muss aber um die Bereinigung des Wahldebakels gehen. Alles andere wäre undemokratischer Missbrauch. Aber, dass diese Möglichkeit einer Veränderung durch eine noch nie dagewesene Entkettung von Erst- und Zweitstimmen ausgespart werden soll, wirkt genauso missbräuchlich. Die Motivation, warum das passieren soll, ist unverständlich. Geht es um Mandate und damit Geld und Posten?
Die CDU ist nicht konsequent in ihrer Argumentation. Das Vertrauen der Bürger in das Ergebnis der Wahl ist beschädigt, deswegen muss man die Wahl großzügig wiederholen. Aber bitte nicht so, dass es tatsächlich zu Änderungen kommen kann. Also wird über die Wahlwiederholung einer Wahl diskutiert, verhandelt und gehandelt, die nun 20 Monate zurückliegt. Das Mandat, das die Wahl erteilt hat, ist schon halb abgelaufen, weswegen auch die Ampel in Karlsruhe die Frage stellt: Muss man sich wirklich die Mühe machen, die Wahl jetzt noch so groß zu wiederholen? Dass die Ampel so eine Frage zu stellen wagt, muss sprachlos machen.
Die Verzögerung ist Produkt der Ampel und der Union, die rum-legalisieren, statt die Wahl nach Bekanntwerden der Probleme direkt noch einmal durchzuführen und so einen Selbstreinigungsprozess anzustoßen. Die Ampel findet überhaupt: Das Vertrauen der Bürger in die Demokratie wäre durch die erfolgreich durchgeführte Wahlwiederholung der Landesebene schon wiederhergestellt. „Aber eine ganze Wiederwahl leistet denen Vorschub, die uns sowieso nicht vertrauen“ – das sagte der Abgeordnete Till Steffen (B90/Die Grünen) am Rednerpult des Gerichts. Wenn die Demokratie aber nur noch ein Prozess von Paragraphen ist, nicht erlebte und begriffene Realität ihrer Akteure: Dann ist sie schon halb tot.
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