Tichys Einblick
Folgen des Wahlchaos

Vor der Entscheidung über Wahlwiederholung in Berlin – Wer darf Hüter der Verfassung sein?

Das Bundesverfassungsgericht wird über das Berliner Wahlchaos entscheiden – kommt es nach der Wiederholung der Wahl zum Abgeordnetenhaus auch zur Wiederholung der Wahl zum Deutschen Bundestag? Für zwei Leser von TE führt Ulrich Vosgerau die entsprechende Klage und analysiert die Entscheidungsfindung des Gerichts.

IMAGO / Political-Moments

Muss auch die Bundestagswahl vom 26. September 2021

wiederholt werden? Darüber wird das Bundesverfassungsgericht am 18. und 19. Juli mündlich verhandeln.

Die Wahlwiederholung in ganz Berlin wollen alle jetzigen Wahlprüfungsbeschwerdeführer. Nur eine punktuelle Wiederholung war das Petitum des Bundeswahlleiters, der (zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland) selber und von Amts wegen Einspruch gegen die Bundestagswahlen in Berlin erhoben hatte. Es bleibt dabei unbegreiflich, warum der Bundeswahlleiter – der schließlich, ebenfalls qua Amt, eine besondere Kompetenz für die Einschätzung von Wahlfehlern und deren Rechtsfolgen für sich in Anspruch nehmen muss – selber nicht Wahlprüfungsbeschwerde erhoben hat, nachdem der Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages (und ihm folgend auch das Plenum) seinen Antrag weitestgehend vom Tisch gewischt hatte.

Der Bundestag zögert – aus Angst um Mandate der Linken?

Allerdings haben mehrere Beschwerdeführer – so auch die beiden von mir vertretenen Leser von Tichy Einblick – den ursprünglichen Antrag des Bundeswahlleiters beim Bundesverfassungsgericht als Hilfsantrag gestellt, über den das Gericht also entscheiden soll, wenn es dem Hauptantrag – Wahlwiederholung in ganz Berlin – nicht stattgeben will. So bleibt gewissermaßen das „Vermächtnis“ des historischen Wahleinspruchs des Bundeswahlleiters in der Welt, auch wenn er selbst seinen historischen Wahleinspruch (warum auch immer) nicht weiter gegen das interessengeleitete, selbstgefällige Verdikt des Deutschen Bundestages zu verteidigen gedenkt.

Der Deutsche Bundestag – dessen Entscheidung auf Bundesebene zunächst einzuholen ist und gegen die dann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden kann – will nämlich die Bundestagswahl nur in 431 Berliner Wahllokalen wiederholen lassen, was die Wirkung der Wahlwiederholung natürlich minimiert. Dies wird also auf jeden Fall geschehen – aber es ist den Beschwerdeführern nicht genug. Denn die wahlerhaltende Entscheidung des Bundestages steht ja in merkwürdigem Gegensatz zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs von Berlin bereits vom 16. November 2022, die Wahlen zum Abgeordnetenhaus wie zu den Bezirksverordnetenversammlungen in Berlin (aufgrund der von Tichys Einblick bekanntgemachten Fehler) komplett wiederholen zu lassen, was am 12. Februar 2023 geschah. (In Berlin ist, anders als auf Bundesebene, der Verfassungsgerichtshof unmittelbar für Wahleinsprüche zuständig, es muss hier also nicht erst das Votum des Abgeordnetenhauses eingeholt werden, ob es wohl alsbald aufgelöst und neu gewählt werden möchte – das möchte es nämlich nie, und deshalb erspart die Berliner Verfassung den Einspruchsführern sinnvollerweise diesen Zwischenschritt).

Die zahlreichen Wahlfehler, die im Rahmen des „Berliner Wahlchaos“ auftraten, betrafen die Bundestagswahlen in gleicher Weise wie die Landtags- (also Abgeordnetenhaus-)wahlen und die Kommunalwahlen; schließlich fanden alle Wahlen gleichzeitig in denselben Wahllokalen mit denselben Wahlhelfern statt. Die Wähler, die oft in langen Schlangen stundenlang warteten und schließlich oft unverrichteter Dinge wieder nach Hause gingen, waren jeweils gleichzeitig Bundestags-, Abgeordnetenhaus- und Kommunalwähler; warum die Wahlen also einmal komplett wiederholt werden müssen und andererseits – sobald der Bundestag als Betroffener mitreden kann – lediglich in 431 von 2.256 Wahllokalen, erschließt sich nicht.

Dass das Bundesverfassungsgericht mündlich über eine Wahlprüfungsbeschwerde verhandelt, ist schon an sich eine bemerkenswerte Nachricht. Denn obwohl § 25 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) die mündliche Verhandlung als Regelfall vorschreibt, gibt es Verfahrensarten, bei denen mündliche Verhandlungen im Allgemeinen eigentlich nicht mehr stattfinden, und dazu gehören eben neben Verfassungsbeschwerden auch Wahlprüfungsbeschwerden. Und hier ist sogar eine Verhandlung über zwei Tage hinweg geplant, diese wird an beiden Tagen jeweils – jedenfalls der bisherigen Erfahrung nach – bis zwischen 19 und 21 Uhr andauern, mit einer Mittagspause. Die Verhandlungsgliederung lässt auf eine gründliche Abarbeitung der sich stellenden Rechtsfragen schließen. Eine gute Nachricht, dass es jetzt losgeht!

Über welchen Schriftsatz verhandelt wird

Nun die bedauerliche Nachricht: Die mündliche Verhandlung dreht sich nicht direkt und allein um die Wahlprüfungsbeschwerde der beiden Tichy-Leser; sondern ihr Gegenstand ist die Wahlprüfungsbeschwerde der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Dass es die überhaupt gibt, ist wiederum ein rechtliches Kuriosum. Denn die CDU/CSU-Bundestagsfraktion konnte natürlich keinen Einspruch gegen die Gültigkeit der letzten Bundestagswahl einlegen – schließlich ist sie nicht wahlberechtigt, einspruchsberechtigt sind nur volljährige Bundesbürger (die keineswegs in Berlin wohnen müssen). Dennoch räumt § 48 Abs. 1 BVerfGG auch Bundestagsfraktionen das Recht zur Beschwerde gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages über Wahleinsprüche ein. Nun hätte hier nichts dagegen gesprochen, neben der Beschwerde der CDU/CSU-Fraktion auch unsere Wahlprüfungsbeschwerde in die mündliche Verhandlung miteinzubeziehen, denn die jeweils gestellten Anträge dürften identisch sein: Hauptantrag Gesamtwiederholung in ganz Berlin, Hilfsantrag: Vorschlag Bundeswahlleiter.

Aber nicht nur wir haben nun Anlass zur Unzufriedenheit, denn es gibt mindestens zehn anhängige Wahlprüfungsbeschwerden gegen die Bundestagswahlen in Berlin, eine davon übrigens von der AfD-Bundestagsfraktion. Sie werden alle nicht direkt verhandelt; die Verhandlung über die Unions-Beschwerde wird seitens des Bundesverfassungsgerichts quasi als „Musterprozess“ geführt. Freilich werden die nun in der mündlichen Verhandlung gefundenen Ergebnisse auch die Entscheidung über unsere Beschwerde determinieren; auch insofern – und nicht nur, weil die Anträge wohl identisch sind – ist es durchaus „unser“ Verfahren.

Die Alleinentscheidung des Gerichts

Gegen dieses Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts ist – auch, wenn man sich darüber ärgert – nichts zu machen. Denn es ist durchaus üblich, dass Verfassungsgerichte bei Verfassungsfragen, über die es eine breite allgemeinpolitische Debatte auch in den Massenmedien gibt und bei denen zahlreiche Bürger und Interessenten Rechtsmittel eingelegt haben, einige wenige Fälle auswählen, die ihnen exemplarisch und besonders geeignet zu sein scheinen, die rechtlichen Probleme zu erörtern und auf den Punkt zu bringen. (Dass sie hierbei auch einmal falschliegen können, sehen wir gleich noch).

Der Verfassungsgerichtshof von Berlin ist seinerzeit nicht anders vorgegangen. Dort gab es 38 Wahleinsprüche; die Zahl ist deswegen vergleichsweise gering, weil das Berliner Landesrecht im Hinblick auf Wahleinsprüche sehr restriktiv ist und dieses Rechtsmittel eigentlich nur enttäuschten Wahlkandidaten, kaum aber dem Wahlbürger gewährleistet (dieser kann stattdessen aber dann eine Landes-Verfassungsbeschwerde erheben, was im Bund im Zusammenhang mit Bundestagswahlen gerade nicht möglich ist; das System läuft in Berlin eben anders, das ist Föderalismus bzw. Verfassungsautonomie der Länder).

Von diesen hatte der Verfassungsgerichtshof für die mündliche Verhandlung am 28. September 2022 dann vier exemplarische Beschwerden ausgesucht, darunter die der Landesverbände der AfD wie der „Partei“. Sehr zur Enttäuschung weiterer Einspruchsführer, die ihre Wahleinsprüche ebenfalls mit größter Sorgfalt begründet hatten und nun nicht berücksichtigt wurden.

Das Verfahren der „Musterverhandlung“ mit ausgewählten Beschwerdeführern über kontrovers diskutierte Verfassungsthemen kam beim Bundesverfassungsgericht etwa auch schon 2018 in der seinerzeitigen mündlichen Verhandlung über Verfassungsbeschwerden zum Einsatz, die gegen die Umstellung der Rundfunkgebühren auf Rundfunk-„Beiträge“ erhoben worden waren; von nun an war bekanntlich die Zahlungspflicht vom Vorhandensein eines Fernsehers oder Radiogeräts ganz unabhängig, sondern knüpfte an die Wohnung oder den Gewerbebetrieb an, und es war auch nicht mehr möglich, den Fernseher abzumelden und nur noch die deutlich geringere Radiogebühr zu bezahlen. Im Ergebnis billigte das Gericht die Reform fast vollumfänglich; prekär war übrigens an der damaligen Verhandlung beim Ersten Senat, dass sie unter dem Vorsitz von Ferdinand Kirchhof stattfand, dem Bruder des einflussreichen ehemaligen Verfassungsrichters Paul Kirchhof; die gesamte Gebühren- und Beitragsreform ging nämlich maßgeblich auf Vorschläge aus einem Rechtsgutachten ausgerechnet von Paul Kirchhof zurück!

Problematisch war damals aber auch – das zeigte sich dann im Nachgang der großen Billigung – die Auswahl der behandelten Verfassungsbeschwerden. Denn das Gericht hatte (vielleicht unter dem Einfluss des Vorsitzenden Kirchhof, der wie sein Bruder vor allem Steuerrechtler war) eigentlich durchgängig wirtschafts- und gewerbebezogene Beschwerden ausgesucht. Das heißt, dass im Ergebnis dort nur der wirtschaftlich-pragmatische Protest gegen die Rundfunkbeiträge thematisiert wurde, der sich nicht prinzipiell gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dessen tendenziöses Programm oder die Beitragspflicht als solche richtete, sondern nur unter Umständen übermäßige finanzielle Belastungen rügte. Also der Gewerbetreibende, der geltend machte, er müsse zahlreiche Niederlassungen unterhalten, könne aber nicht für jede abermals Beiträge entrichten. Oder ein vielbeschäftigter Junggeselle, der aus geschäftlichen Gründen drei Wohnungen in verschiedenen Städten unterhielt und das Gericht sogar davon zu überzeugen vermochte, dass er immer nur in einer Wohnung anwesend sein und Radio hören könne, aber niemals in mehreren zugleich.

Nachdem die dort 2018 verhandelten Einwände also durchweg nicht zur Infragestellung des neuen Beitragssystems geführt hatten, hat das Bundesverfassungsgericht seither keine Verfassungsbeschwerde gegen die Rundfunk-Beitragspflicht mehr zur Entscheidung angenommen – mit dem Argument, es seien ja seinerzeit alle relevanten verfassungsrechtlichen Fragen geklärt und dann im Urteil beantwortet worden. Dabei ist dem mitnichten so – eher könnte man sagen, dass die wirklich interessanten Grundrechtsfragen seinerzeit gar nicht berührt worden sind. Ich selbst habe in den letzten Jahren mehrere Verfassungsbeschwerden von teils recht wohlhabenden Privatleuten gegen den Rundfunkbeitrag vertreten, denen die wirtschaftliche Belastung durch die Beitragspflicht eigentlich egal sein konnte – die aber nicht zahlen wollten, weil sie es nicht mit ihrem Gewissen glauben vereinbaren zu können, ein Programm zu finanzieren, das oft der Menschenwürde wie den christlichen Werten Hohn spreche. Das Gericht hat sie nicht zur Entscheidung angenommen.

Wer wird in Karlsruhe gehört?

Hinter der Entscheidung zur zweitägigen Verhandlung über die Wahlprüfungsbeschwerde der CDU/CSU (nicht aber die der anderen Beschwerdeführer), hinter der seinerzeitigen Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs von Berlin für zum Beispiel die „Partei“, und hinter der Entscheidung des seinerzeitigen Kirchhof-Senats für die Interessen von Gewerbetreibenden und Junggesellen, aber gegen Christen und Fundamentalkritiker der Rundfunkbeiträge steckt natürlich immer dieselbe Frage: Wer darf Hüter der Verfassung sein?

Als Hüter der Verfassung wird derzeit – per se ja gar nicht zu Unrecht – der Berliner Bundestagsabgeordnete Thomas Heilmann (CDU) gefeiert, hat er doch mit seinem Antrag im einstweiligen Rechtsschutz zum Bundesverfassungsgericht bewirkt, dass das seitens der Ampelkoalition gewollte, völlig übereilte Gesetzgebungsverfahren zum Heizungsgesetz vom Bundesverfassungsgericht vorerst gestoppt worden ist. Durch die völlige Übereilung des Verfahrens mit immer neuen, nicht mehr begreiflichen Korrekturfassungen sollte die Opposition im Bundestag faktisch von jeder sinnhaften Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren ausgeschlossen werden; denn die kann den Inhalt des Gesetzes ja nicht durchgreifend kritisieren, wenn sie noch nicht einmal die Zeit hat, ihn auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn, über ihn und seine möglichen Folgen nachzudenken, zu recherchieren, Experten zu befragen usw.

Es ist also ein wichtiger Erfolg im Sinne des Demokratieprinzips des Grundgesetzes, das auch eine effektive Tätigkeit der parlamentarischen Opposition umfasst (dazu noch sogleich). Und dennoch kann ich mich, Gott helfe mir, nicht unverstellt mit Thomas Heilmann freuen. Denn ich kenne seine verfassungsrechtliche Argumentation sehr gut – sie ist ja von mir.

Im Sommer 2018, als Heilmanns CDU noch in einer Großen Koalition mit der SPD zusammen regierte (Heilmann selbst war auch schon im Bundestag), war die SPD nach mehreren Sonderparteitagen und einem Mitgliedervotum in der Folge des Entgleisens des Schulz-Zuges und der Entscheidung für die Große Koalition entgegen allen Wahlversprechen von der Insolvenz nicht allzu weit entfernt. Also entschloss man sich in der Großen Koalition, die staatliche Finanzierung der politischen Parteien beträchtlich anzuheben. Das Verfahren hierzu wurde völlig überraschend im Juni 2018, kurz vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft, in den Deutschen Bundestag eingebracht und dann in nur neun Werktagen beschlossen.

Im Mittelpunkt des Gesetzgebungsverfahrens stand dabei eine Expertenanhörung. Dazu muss man wissen, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Recht der Parteienfinanzierung der Expertenanhörung eine besondere und herausgehobene Bedeutung zukommt. Weil die Neuregulierung der staatlichen Parteienfinanzierung eben immer „Gesetzgebung in eigener Sache“ ist, entstammt die Legitimität eines solchen Vorhabens ausnahmsweise nicht primär der Mehrheit im Deutschen Bundestag (denn die dort vertretenen Parteien wünschen sich eigentlich immer mehr staatliches Geld), sondern dem mehr oder weniger einhelligen Votum möglichst unabhängiger (gleichwohl natürlich von den Fraktionen nominierter) Experten, die bestätigen, die objektiven Umstände hätten sich mittlerweile so verändert, dass eine Erhöhung der staatlichen Parteienfinanzierung geboten sei.

Hier lagen dann zwischen dem Beschluss zur Durchführung der Expertenanhörung und der Durchführung selbst nur zwei Tage (Donnerstag und Freitag), die der Opposition also blieben, um (1) Experten ausgerechnet für das Recht der Parteienfinanzierung aufzutreiben,
(2) am Ende der Woche, wo viele Professoren schon nicht mehr in der Universität anzutreffen sind, unverzüglich einen Kontakt zu diesen Experten herzustellen,
(3) diese Experten davon zu überzeugen, sofort alles stehen und liegen zu lassen, um für die Opposition gutachterlich tätig zu werden, und dann
(4) unter Rückstellung aller privaten wie beruflichen Verpflichtungen übers Wochenende ein Gutachten zu schreiben, um damit am kommenden Montag, pünktlich um zehn Uhr, in Berlin im Reichstag zu erscheinen.

Proteste des CDU-Abgeordneten Heilmann gegen dieses Vorgehen auch seiner Fraktion sind damals nicht bekanntgeworden. Übrigens erschienen die von den Regierungsfraktionen benannten Experten nicht nur pünktlich zur Anhörung, sondern hatten bereits vorab per E-Mail umfangreiche schriftliche Gutachten mit zahlreichen Fußnoten übermittelt, die die Verfassungslegitimität einer Erhöhung der Parteienfinanzierung wortreich bestätigten und die sie unmöglich kurz übers Wochenende geschrieben haben konnten.

Hier ein Überblick über den damaligen Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens zur Parteienfinanzierung im Juni 2018:

Gegen diese Vorgehensweise klagte ich im Nachhinein namens der AfD-Bundestagsfraktion im Wege des Organstreitverfahrens zum Bundesverfassungsgericht und wollte die Verletzung von Mitwirkungsrechten der Opposition durch ein unüblich verkürztes parlamentarisches Verfahren festgestellt wissen. Aber die AfD-Bundestagsfraktion durfte jedenfalls damals nicht zum „Hüter der Verfassung“ werden, wie es nun der CDU-Abgeordnete Heilmann unter vielfachem Applaus geworden ist; das Bundesverfassungsgericht wies meine Klage damals als angeblich „unzulässig“ ab, und zwar mit einer Begründung, die man als „hanebüchen“ noch mit großer Zurückhaltung beschreiben würde.

Die Klage sei nämlich deswegen unzulässig, weil ich das Recht der Opposition auf faire und effektive Beteiligung an Gesetzgebungsverfahren mitsamt der Ausübung einer wirksamen und spürbaren Oppositionsarbeit im Parlament auf das Demokratieprinzip aus Art. 20 Grundgesetz (GG) gestützt hatte. Nach Ansicht des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts existieren all diese Rechte und waren auch verletzt worden – allerdings wären sie eher auf Art. 38 GG, Wahlen zum Deutschen Bundestag, zu stützen gewesen (warum auch immer).

Dies ist rechtlich natürlich blanker Unsinn. Vor jedem deutschen Gericht – auch vor Zivilgerichten, vor denen, anders als beim Bundesverfassungsgericht, nicht der Untersuchungs- oder Amtsermittlungsgrundsatz gilt (§ 26 BVerfGG), sondern die Parteien den Tatsachenstoff eigenverantwortlich vortragen und beweisen müssen – gilt in Rechtsfragen immer: iura novit curia, das heißt, „das Gericht kennt das Gesetz“. Die Parteien eines Gerichtsverfahrens müssen im Prinzip keine rechtlichen Ausführungen machen (auch wenn sich dies freilich eingebürgert hat), und wenn sie welche machen, dann müssen diese nicht stimmen; sondern die Parteien müssen nur einen bestimmten Antrag stellen und dem Gericht die Tatsachen vortragen, aus denen ihres Erachtens eine Verletzung ihrer Rechte folgt. Wenn aus den Tatsachen eine Verletzung ihrer Rechte folgt, muss das Gericht ihnen Recht geben; warum dies rechtlich so ist, weiß das Gericht und schreibt es dann in sein Urteil.

Es kommt übrigens auch sonst fast nie vor, dass ein Gericht einer Partei – auch wenn sie vollumfänglich obsiegt – auch von den Rechtsausführungen her einfach Recht gibt (was wohl psychologische Gründe haben dürfte, das Gericht wäre ja sonst überflüssig bzw. auch nicht klüger als die Anwälte der obsiegenden Partei). Auch, wenn eine Partei einen Prozess gewinnt, schreibt das Gericht ihr regelmäßig ins Stammbuch: Deinen rechtlichen Ausführungen folgen wir eigentlich nicht, aber Du gewinnst trotzdem, und zwar aus Gründen, auf die Du nicht gekommen bist, aber wir. Aber die Begründung: „in der Sache hast Du Recht, aber die Klage ist unzulässig, weil Du unseres Erachtens die falsche Vorschrift zitiert hast“ gibt es nicht und kann es rechtlich nicht geben.

Es durfte eben damals vor dem Bundesverfassungsgericht die AfD-Bundestagsfraktion nicht zur „Hüterin der Verfassung“ avancieren, so wie nun der CDU-Abgeordnete Heilmann. Und das musste sie nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts damals auch nicht, hatten doch mittlerweile auch die Abgeordneten der Fraktionen der Grünen, der FDP und der Linkspartei ein abstraktes Normenkontrollverfahren gegen das Gesetz zur Änderung der Parteienfinanzierung angestrengt. Dieses richtet sich nicht gegen das Gesetzgebungsverfahren, sondern gegen den Inhalt des Gesetzes (und hat mittlerweile zum Erfolg geführt).

Nach Erhebung der Klage formulierte ich für Abgeordnete der AfD-Bundestagsfraktion Beitrittserklärungen, mit denen diese – ohne einen eigenen Antrag zu stellen oder eigene Rechtsausführungen zu machen, denn sonst wäre es kein wirksamer „Beitritt“ gewesen – dem Normenkontrollantrag der übrigen Oppositionsabgeordneten eben beitreten sollten. Aber auch dies wurde seitens des Gerichts dann – aus unklar bleibenden Gründen – abgelehnt: Ein Bundestagsabgeordneter könne einem Normenkontrollverfahren nur mit Zustimmung derjenigen Abgeordneten beitreten, die es zunächst angestrengt hätten.

Auch diese Entscheidung war rechtlich falsch, da die der Gleichheit aller Abgeordneten nicht gerecht wird. Wenn Bundestagsabgeordnete nach dem Grundgesetz wie nach dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz unter bestimmten Umständen eben das Recht haben, sich an das Bundesverfassungsgericht zu wenden, so können sie dieses Recht nicht dadurch verlieren, dass andere Abgeordnete ein wenig schneller sind und dann erklären, die anderen nicht dabei haben zu wollen.

Und wenigstens diesen Umstand scheint das Bundesverfassungsgericht nun auch erkannt zu haben. Denn dem Antrag des Abgeordneten Heilmann sind in der Tat – freilich als „Trittbrettfahrer“, denn das ist ein Beitritt immer – elf Abgeordnete der AfD-Bundestagsfraktion beigetreten, und zwar diesmal offenbar wirksam (ich hatte nichts damit zu tun).

Kündigen sich also hier im Hinblick auf die Frage, wer alles „Hüter der Verfassung“ sein oder werden darf, erste Veränderungen in Richtung Demokratie und Gleichheit an, zeigen sich Risse im Kartell der Eliten? Zu hoffen wäre es.


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TE dankt allen Lesern, die es mit ihrer Unterstützung ermöglichen, dass wir Recherchen wie die zur Wahlmanipulation und die Klage vor dem BVerfG durchführen konnten und können. 

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