Dem ORF sind die Ereignisse in Russland am heutigen Sonntag um sieben Uhr früh ein ZIB Spezial wert, wie gestern mittags, während gestern wie heute ARD und ZDF ihrem Schlaf öffentlich-rechtlicher Traumsusen nachgehen. Wenn zwangsfinanzierte große Sender sich so verhalten, spiegelt das die Abwesenheit jeder Motivation bei den journalistischen Fußtruppen, die ihrerseits zum journalistisch entleerten Leben in den Offizier-Kasinos der Öffentlich-Rechtlichen passt: fernab der Wirklichkeit der Leute „draußen an den Bildschirmen“ – und selbst freudlos vor sich hin dümpelnd.
Bei der politisch-zeitgeistigen Ausrichtung erkenne ich keine nennenswerten Unterschiede zwischen den deutschen und österreichischen Ausgaben von Staatsfunk. Aber beim journalistischen Engagement gibt es welche. Im ORF sind noch Journalisten unterwegs, die es auch dann umtreibt, etwas rauszufinden und beizutragen, wenn aus dem ersten Stock keine Anordnungen auf der ebenen Erde einlangen.
Auf ORF versuchte sich gestern Abend der Innsbrucker Historiker Gerhard Mangold mit einer Erklärung für Prigoschins Aufgeben, die mir recht plausibel erscheint, auch wenn sie sicher nur eine Facette des „Aufstands“ beleuchtet: Prigoschin habe mit seiner täglichen krassen Kritik an der Moskauer Führungskaste in Ministerium und Militäroberkommando viel Sympathien beim kleinen Mann, einfachen Soldaten und mittleren Rängen erworben und sich aufgrund des entsprechenden Echos viel mehr Unterstützung aus der Armee bei seinem Marsch auf Moskau versprochen. Als der ausblieb, habe Prigoschin einsehen müssen, dass er so zwar nach Moskau kommt, aber die Kraftprobe dort nicht bestehen kann.
Mangolds Einschätzung schließe ich mich ebenfalls an, dies bedeute nicht, dass Prigoschin nun in Weißrussland ruhig bleibt, aber zugleich dass Putin jenseits aller verkündeten Straffreiheit mit einem lebendigen Prigoschin nicht lange leben kann.
Ob und wie sich Prigoschins Internetkampagne gegen Moskau auf die Moral der russischen Truppen bleibend auswirkt, kann niemand vorhersagen. Ob die in Russland verbliebenen Söldner und in welcher Zahl in die russische Armee eingegliedert werden, was sie dort bewirken oder nicht, ob viele von jenen, die in Russlands Weite versickern, weiter auf Prigoschin hören und wie lange, sind weitere offene Fragen. Schon deshalb würde ich auf ein langes Leben von Prigoschin nicht wetten. Vielleicht ist es eine Probe auf Putins Nerven, wie es Prigoschin ergeht. Denn die Prognose wage ich: Die Gruppe Wagner hat keine Zukunft. Privatarmeen sind am Ende, wenn es keine Aufträge und daher keinen Sold gibt.
Die Zahl der Russen, die auf eine Verbesserung in Russland von innen heraus setzten, erlebt einen nächsten Aderlass, wie ich von Russlandfreunden (und deshalb Putingegnern) weiß. Leider kommt man an die Passagierlisten nicht heran, die zeigen würden, wie viele und vor allem wer gestern Russland per Flugzeug verlassen hat. Jedenfalls gab es schnell keine freien Plätze mehr.
Russland ist morgen ein anderes Land, schrieb ich gestern. Putin wird so weitermachen wie bisher, am verföffentlichten Bild „Spezialoperation“ in der Ukraine festhalten. Und doch ist Putin national wie international nach dem „Aufstand“ schwächer als vorher. Der Unterschied zwischen Russland zu ebener Erde und im ersten Stock ist in den letzten Tagen unumkehrbar noch größer geworden.