Wenn der Uno-Sonderberichterstatter für Folter von „Systemversagen“ spricht, dann haben diese Worte Gewicht. Und wenn er damit weder Syrien noch den Iran oder den Kongo meint, sondern Deutschland, kann man von einem politischen Beben sprechen. Könnte man zumindest meinen. Jedoch stießen die Äußerungen des Uno-Mitarbeiters Nils Melzer aus dem Jahr 2021 auf wenig Gehör. Der Schweizer äußerte die Sorge, dass Verhältnismäßígkeit im Hinblick auf Polizeigewalt in Verbindung mit Corona-Demonstrationen, seitens der Bundesregierung, „verzerrt“ sei: „Ich fand die Reaktion der Regierung bedenklich“, sagte er gegenüber dem Spiegel. Nach Auffassung der Regierung sei es verhältnismäßig gewesen, beispielsweise einen nicht aggressiven Demonstranten vom Fahrrad zu stoßen und ihn auf den Boden zu werfen.“
So wenig, wie die politische Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen in Gang kommt, so wenig werden Fälle von unverhältnismäßiger Polizeigewalt auf kritischen Demonstrationen aufgearbeitet oder überhaupt in den Medien besprochen. Tichys Einblick liegt ein Fall vor, in dem ein Vollstreckungsbeamter bei einer Demonstration Grenzen eindeutig überschritten und einen Teilnehmer der Veranstaltung ohne erkennbaren Grund schwer verletzt hat. Es ist die Geschichte von Peter Kilian, der nicht mehr schweigen möchte. Und es ist eine Geschichte über ein Systemversagen.
Die Stimmung wurde immer hitziger
Alles begann am 21. April 2021, am Tag, als die Bundesregierung die „Corona-Notbremse” beschlossen hatte. In Berlin-Tiergarten haben Kritiker der Maßnahmen eine Demonstration organisiert. Einer der Teilnehmer war auch Peter Kilian. Kilian ist ehemaliger Bundesligaprofi. Bekannt wurde er 1974, als er in einem Spiel eingewechselt wurde, weil der Stammkeeper sich den Arm brach. Zu dem Zeitpunkt war Peter Kilian 17 Jahre alt und galt als jüngster Spieler in der zweiten Liga. Später bremsten ihn zwei Schlaganfälle aus. Heute liegt der Grad seiner Behinderung (GdB) bei 90 Prozent. Zudem leidet er an einer Herzinsuffizienz, Arthrose und an epileptischen Anfällen.
Auf die Frage, warum er an der Demonstration teilnahm, antwortet der 66-Jährige: „Durch meine Krankheit war ich von der Maskenpflicht befreit.“ Jedoch ergaben sich immer wieder Probleme, wenn er ohne Mundschutz unterwegs war. „Entweder sind die Leute panisch vor mir weggesprungen, oder ich wurde in Supermärkten und im Bus angepöbelt. Irgendwann kamen die Ausgangssperren und das ging mir entschieden zu weit“, erinnert sich Kilian.
„Plötzlich standen Polizisten in Vollmontur vor mir!“
Peter Kilian ist nicht der typische Demo-Gänger, was allein schon daran liegt, dass er als Schwerbehinderter immer eine Begleitperson dabei haben muss. Für seine zweite Protestaktion überhaupt in seinem Leben kaufte er sich eine spezielle Mütze, auf der die Buchstaben GdB aufleuchteten. Mit einer Bekannten fuhr er nach Berlin. Vor Ort lernten die beiden zwei junge Schwestern kennen, die sich ihnen angeschlossen haben. Im Laufe des Demonstrationszuges wurde die Stimmung hitziger. Die Polizei trieb die Teilnehmer immer enger zusammen, sodass die vorgeschriebenen Mindestabstände aufgrund der Corona-Maßnahmen nicht mehr eingehalten werden konnten.
Die Lage drohte zu eskalieren. Ein Demonstrant mit Megaphon versuchte, die Teilnehmer auf die Polizei zu hetzen. „Damit wollten wir nichts zu tun haben“, stellt Peter Kilian klar. „Wir setzten uns also etwas abseits, damit die Mädchen in Ruhe etwas essen konnten. Ich sagte ihnen, dass ich jetzt nach Hause fahre, weil es sicher gleich Randale geben wird.“ Also liefen sie in Richtung Tiergarten. Plötzlich standen Polizisten in Vollmontur vor ihm. „Ich konnte nur noch wahrnehmen, dass sich alle Demonstranten unter lautem Geschrei nach hinten zurückzogen“, erinnert er sich. Ein Polizist kam direkt auf ihn zu. Es handelte sich um den Beamten Dominic H. „Ich weiß noch, dass ich erschrocken dachte, er hat eine Waffe in der Hand.“
„Komm, ich zeig’ dir, was Polizeigewalt ist!“
Obwohl durch seine Mütze klar hervorging, dass Kilian schwerbehindert ist, kam Dominic H. immer näher. Er drückte Kilians (abwehrenden) Arm herunter und schlug ihn mit einer großen Dose Pfefferspray auf den Kopf. Damit nicht genug. Gleich darauf sprühte der Beamte dem Schwerbehinderten eine Ladung Reizgas direkt ins Gesicht. „Danach war ich irgendwie weg vom Fenster und bin erst im Krankenwagen wieder aufgewacht“, erzählt Kilian noch immer sichtlich verstört.
Ein Video sowie Zeugenaussagen und eine minutiöse Analyse eines Polizisten, die Kilians Rechtsanwalt vorliegen, bestätigen seine Aussagen. Die Situation löste bei ihm schließlich einen epileptischen Anfall aus. Mehrere Minuten lag Kilian zappelnd am Boden, während die Polizisten ihn abschirmten. Frank Großenbach, selbst Jurist, ist einer der Zeugen: „Mich erinnerte das Verhalten an eine Art Bewachung, damit keiner der Demonstranten das Opfer befreien kann.“ Eine Frau rief: „Das ist Polizeigewalt.“ Sofort kam ein Beamter auf sie zu und erwiderte: „Komm her, dann zeig’ ich dir, was Polizeigewalt ist!“
Der potenzielle Täter zeigt das Opfer an
Nach und nach wurden Teilnehmer, die erste Hilfe leisten wollten, zurückgedrängt; darunter auch ein Arzt. Zwar ließ ein Polizist die Worte “wir helfen ihm” verlauten, dennoch taten die Beamten zunächst nichts. Erst Minuten später ließen sie einen Demonstranten, der offensichtlich medizinisch ausgebildet ist, nach vorne. Dieser versetzte Herrn Kilian in die stabile Seitenlage. Warum mehrere Polizisten, die alle in den Grundlagen der ersten Hilfe ausgebildet sind, nicht entsprechend handelten, ist bis heute unklar. Zur Hilfe kam ihm keiner. „Ich registrierte jedoch, dass Kamerateams von öffentlichen-rechtlichen Sendern dort standen und alles gefilmt haben“, erinnert sich Peter Kilian heute.
Als er im Krankenwagen aufwachte, stellte er fest, dass nicht nur seine Augen aufgrund des Pfeffersprays brannten, sondern er sich auch auf die Zunge gebissen hatte. „Erst da wusste ich, dass ich einen epileptischen Anfall hatte“, ergänzt Kilian. Danach fuhren sie ins Krankenhaus. Dort stand bereits ein Polizist, der ihn in Gewahrsam nehmen wollte. Grund: Dominic H., der Polizist, der Peter Kilian mutmaßlich widerrechtlich geschlagen hatte, zeigte den schwerbehinderten Mann wegen „tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte“ an.
Das Verfahren gegen Kilian wurde erst spät eingestellt
„Ich war zu dem Zeitpunkt im Krankenhaus noch total ‚benebelt‘ und wurde irgendwo auf dem Flur ‚geparkt‘. Der Beamte stand während der ganzen Zeit, nur einen Meter entfernt, neben meinem Bett – ein unangenehmes, sehr bedrohliches Gefühl.“ Auch während der Wundversorgung stand der Beamte stets an seiner Seite. Zunächst wollte der Arzt laut der Schilderung von Kilian aufgrund des Schlages gegen den Kopf einen Neurologen hinzuziehen. Nach einem Telefonanruf und einem kurzen Gespräch des Arztes mit dem Polizisten meinte der Mediziner: „Wir brauchen keinen Neurologen mehr.“
Ein weiterer Grund, weshalb von Peter Kilian zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für die Polizisten ausging, sind seine Nebenerkrankungen, wie zum Beispiel Arthrose: „An dem Tag waren meine Finger so schwer entzündet, dass jeder Griff unglaubliche Schmerzen verursachte.“ Nach Eingang der Anzeige wurden alle medizinischen Unterlagen an die Staatsanwaltschaft geschickt. Erst dann wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt.
Was hat Uwe H. mit Dominic H. zu tun?
Kilians Rechtsanwalt, Stefan Koslowski, kann über den Fall nur den Kopf schütteln: „Ich war entsetzt, wie von staatlicher Seite versucht wurde, den Fall der Polizeigewalt zu vertuschen.“ Das beginnt zum Beispiel bereits bei der Anklageschrift, die sich wie ein halbes Plädoyer liest, um einen Fall von Polizeigewalt zu verniedlichen. Dabei gab es laut Aktenlage keinen Anlass dafür, Kilian anzugreifen. „Weiterhin geht aus der Aktenlage ganz klar hervor, dass der Versuch, Herrn Kilian zu inkriminieren eigentlich nichts anderes ist, als von der Polizeigewalt abzulenken“, erklärt der Anwalt mit Nachdruck. Inkriminieren bedeutet hier „beschuldigen“.
Infolgedessen stellte Koslowski Strafanzeige gegen den Polizisten Dominic H. wegen „Verfolgung Unschuldiger“, ein Verbrechen, das in Deutschland auch viele Juristen nicht kennen, wie Koslowski im Podcast „Chronisten des Irrsinns“ betonte. „Wenn ein Polizeibeamter oder ein Staatsanwalt jemanden strafrechtlich verfolgt, der unschuldig ist, können sie sich unter Umständen strafbar machen“, erklärt der Verteidiger die Vorschrift gegenüber Tichys Einblick.
Möglicherweise handelt es sich bei diesem Vorfall nicht um einen Einzelfall des Polizisten. So sollen es gegen Dominic H. wenigstens fünf Anschuldigungen unter anderem wegen Körperverletzung im Rahmen seiner Arbeit als Polizeibeamter geben. Im Zuge der Recherchen tauchte immer wieder der Name Uwe H. auf. Uwe H. ist ein Ex-Polizeidirektor, der vor seiner Pensionierung unter anderem in Krisengebieten wie im Sudan oder in Afghanistan im Einsatz war. Es besteht der Verdacht, dass Uwe H. der Vater von Dominic H. ist, was ein Indiz dafür sein könnte, dass es trotz Anhaltspunkten für bisherige Straftaten keinerlei Konsequenzen für den vermeintlichen Täter von Polizeigewalt gab. Kann es sein, dass jemand die schützende Hand über den potenziellen Täter hält?
Der Fall Kilian ist kein Einzelfall
Für Peter Kilian hat sich das Leben völlig geändert. „Seitdem gerate ich in Panik, wenn ich schwarz gekleidete Polizeibeamte sehe“, sagt er heute. „Ich kann auch keine Fernbahn mehr fahren, weil man auch dort auf schwarz gekleidete Beamte trifft.“ Seine Tochter ist aufgrund der Ereignisse in die Nähe von Hamburg gezogen, damit sie sich häufiger sehen können. Sein Therapeut diagnostizierte eine posttraumatische Belastungsstörung, ähnlich wie bei Menschen mit Kriegserfahrungen.
Dieser Punkt ist Peter Kilian besonders wichtig. Schließlich hat er vor vielen Jahren mit Polizisten gemeinsam in Fußballmannschaften gespielt und mit ihnen unter anderem in der Hamburger Amateurauswahl trainiert. „Mein Bild von der Polizei ist grundsätzlich ein positives“, versichert er und ergänzt: „In die Amateurauswahl kommen nur Sportler, die menschlich korrekt sind. So dürfen sie z.B. keine Vorstrafen haben.“ Dass dies auch auf Peter Kilian zutrifft, beweist sein jahrelanges Engagement als ehrenamtlicher Schöffe.
Die Geschichte von Peter Kilian und dem Polizisten Dominic H. zeigt, dass der damalige Uno-Sonderberichterstatter Nils Melzer nicht übertrieben hat, als er Deutschland „Systemversagen“ vorwirft, was das Thema Polizeigewalt bei Corona-Protesten angeht. Welche Rolle Uwe H. und noch andere Beamte im Hintergrund spielen, werden möglicherweise die Ermittlungen ergeben.
Doch eines ist bereits jetzt klar: Der Fall Peter Kilian ist kein Einzelfall. Der Jurist und Zeuge der Tat, Frank Großenbach, spricht in seiner Praxis als Rechtsanwalt von mehreren Fällen unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstranten während der Corona-Zeit und betont, dass diese in den Fokus von Politik und Öffentlichkeit gelangen müssen.