Das wichtigste Wahlziel der Parteien bei der nächsten Bundestagswahl ist, für möglich viele Parteifreunde einen Sitz im Bundestag zu erringen oder zu sichern. Demokratische Wahlen können dazu führen, dass neue Abgeordnete die Plätze von bisherigen Abgeordneten einnehmen. Das ist vor allem der Fall, wenn eine oder zwei bisher nicht im Bundestag vertretenen Parteien die 5%-Hürde überspringen. Es sieht so aus, dass das die FDP und die AfD im Herbst 2017 schaffen.
Wenn keine neue Partei im Bundestag Einzug feiert, findet ein Wechsel weitgehend unter Ausschluss der Wähler-Öffentlichkeit statt. In Parteizirkeln wird sowohl über die Direktkandidaten als auch die Platzierung auf der jeweiligen Landesliste entschieden. Wenn nicht erhebliche Verschiebungen der Stimmanteile unter den Parteien zu erwarten sind, steht vorher im Regelfall zu etwa 90 Prozent fest, welche Personen in den Bundestag kommen. Dadurch, dass Direktkandidaten durch vordere Plätze auf der jeweiligen Landesliste abgesichert werden, wird dieser Vorgang noch weiter zementiert.
Kritiker weisen in diesem Zusammenhang nicht zu Unrecht daraufhin, dass das nicht weit von den Einheitslisten für die Volkskammerwahlen in der ehemaligen DDR entfernt ist, bei der schon vor der Wahl durch die Einheitslisten der „Nationalen Front“ zu hundert Prozent feststand, welche Personen einen Sitz in der „Volkskammer“ der DDR bekamen.
Diesmal bei der der Bundestagswahl im September 2017 kann es ganz anders kommen.
Gehen wir einmal von der Annahme aus, dass die Wahlprognosen der sieben bekanntesten Wahlforschungsinstitute das Wahlergebnis richtig voraussagen, dann könnte die Sitzverteilung bei 598 Abgeordneten als Sollwert im Vergleich zur bisherigen Sitzverteilung wie folgt aussehen:
Es ist wichtig, diesen Vergleich der Sollzahl 2017 mit der tatsächlichen aktuellen Zahl der Bundestagsmandate darzustellen, damit deutlich wird, dass die möglichen gewaltigen Mandatsverluste der Union und der SPD zunächst nur zum geringen Teil mit Zusatzmandaten (Überhang- und Ausgleichsmandaten) zu tun hätten. Der Hauptgrund ist viel mehr: Wenn AfD und FDP die augenblicklich prognostizierten Mandate erreichen, gibt es über hundert neue Gesichter dieser beiden Parteien im Bundestag. Durch mögliche Wahlgewinne der bisher im Bundestag vertretenen Parteien sind es lediglich fünf Mandate mehr für die Grünen. Dabei aber bitte nicht vergessen: Fünf Mandate mehr entsprechen etwa einem Prozentpunkt mehr bei den Wahlprognosen.
Rund 150 Mandate gehen den bisher im Bundestag vertretenen Parteien in der Summe verloren, wenn es im neuen Bundestag keine Überhangmandate und Ausgleichsmandate gäbe. Die werden aber kommen! Dazu meldete vor kurzem die Nachrichtenagentur Reuters: Sie sei sich mit CSU-Chef Horst Seehofer einig, dass eine Wahlrechtsreform noch in dieser Legislaturperiode wichtig sei, sagte die CDU-Chefin am Montagabend auf einer CDU-Regionalkonferenz in Heidelberg. Ansonsten drohe nach der Wahl wegen der Überhang- und Ausgleichsmandate ein Bundestag, der statt der bisher 630 dann bis zu 700 Abgeordnete umfassen werde. „Das wird keiner verstehen“, warnte Merkel. „Deshalb wird man noch versuchen, Kompromisse zu finden.“ Dies sei aber nicht einfach, weil jede Partei Besitzstände zu verteidigen habe, für eine Neuordnung der Wahlkreise sei es zu spät.
Das Wort „Besitzstände“ in diesem Zusammenhang bitte auf der Zunge zergehen lassen! Mit Besitzständen meint Frau Merkel ganz eindeutig Parlamentssitze, die sich im Besitz der bisher im Bundestag vertretenen Parteien befinden. Auf demokratische Weise, nämlich durch Wahlen gehen diese Besitzstände vor allem der Union und der SPD wahrscheinlich in großer Zahl verloren. – Auf fragwürdige demokratische Weise soll das durch Zusatzmandate verhindert werden.
Wer das verstanden hat, dem geht bei der Wortwahl von Frau Merkel ein Licht auf: Sie kündigt nicht an, dass durch Änderung des Wahlgesetzes die Ausuferung der Parlamentssitze verhindert werden soll. Sie spricht von: Man (nicht sie!) soll versuchen, Kompromisse zu finden. „Man“ steht für organisierte Unverantwortlichkeit.
Unter Kompromissen versteht sie dabei auf keinen Fall, die Sollzahl von 598 Sitzen nach dem gültigen Wahlgesetz zu erreichen, sondern irgendwo eine Sollzahl zwischen 600 und 700 Abgeordnetensitzen anzusteuern und dadurch viele Arbeitsplätze der Abgeordneten der bisherigen großen Koalition für verdiente Parteifreunde zu retten. 11 Minuten stehende Ovationen beim letzten Parteitag müssen schließlich belohnt werden.
Die Wortwahl von Frau Merkel deutet auch eher darauf hin, dass keine Kompromisse gefunden werden, aber sie hinterher sagen kann, sie hätte vor der Ausuferung des Bundestag doch rechtzeitig gewarnt. Es wäre glaubwürdiger gewesen, wenn Frau Merkel in diesem Zusammenhang zugesagt hätte: Wir schaffen das!
Nochmal: Die Überhangmandate in einzelnen Bundesländern entstehen dadurch, dass die Zweitstimmen als Ausdruck des Verhältniswahlrechts über die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag entscheiden sollen. 2013 gab es lediglich vier Überhangmandate, ausschließlich von der CDU „errungen“. Die führten aber überraschender Weise zu keinen Ausgleichsmandaten, weil ein anderer Effekt diesen Ausgleichsvorgang überlagerte. Die Ausgleichsmandate 2013 hat die CSU „produziert“, ohne selber Überhangmandate zu haben.
Kaum jemand kann diesen Vorgang erklären. Auf der Bundestagsseite im Internet stand nach Wahl 2013 z.B.: Bei der Wahl 2013 fielen vier Überhangmandate bei der CDU an. Auf Grund des 2013 geänderten Wahlrechts werden diese Überhangmandate nun aber durch weitere Mandate solange ausgeglichen, bis die Zusammensetzung des Parlaments das Zweitstimmenergebnis wieder abbildet.
Das ist falsch! Richtiger ist, was der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages im Februar 2016 – auch im Internet – schreibt: Die von Joachim Behnke getroffene Aussage, das die 33 bei der Bundestagswahl 2013 entstandenen Ausgleichsmandate nicht auf Überhangmandaten (der CDU, Anm. des Verfassers), sondern auf Überrepräsentation der CSU beruhen, ist richtig.
Die Erstzuteilung der Sitze erfolgt nach dem Bevölkerungsanteil der einzelnen Bundesländer. Danach bekam die CSU 56 Sitze. Bei der Zweitzuteilung geht es nach dem maßgeblichen Wähleranteil. Danach hätte die CSU nur 53 Sitze bekommen dürfen. Der „Besitzstand“ der CSU musste aber nach dem Wortlaut des Bundeswahlgesetzes erhalten bleiben und dann durch Sitze für andere Parteien einschließlich der CDU ausgeglichen werden. So entstanden die 33 Zusatzmandate zu den gesetzmäßigen 598 Sitzen im Bundestag.
In einem früheren Beitrag auf Tichys Einblick hat der Autor dieses Beitrages nachgewiesen, dass bei geringfügig besserem Abschneiden der FDP und AfD bei der Wahl 2013 von 4,8 bzw. 4,7 Prozent auf 5,0 Prozent die Zahl der Überhangmandate der CDU von 4 auf 16 gestiegen wäre. Auch die Zahl der Ausgleichsmandate wäre dann viel höher gewesen als die 29 Ausgleichsmandate wegen des CSU-Effektes. .
Fazit: Die Warnungen vor der Wahl 2013 vor einer hohen Zahl von Zusatzmandaten war mehr als berechtigt. Sie trafen nur deshalb nicht in dreistelliger Höhe ein, weil unter gewollter Verletzung des Verhältniswahl-Prinzips rund 15 Prozent der Zweitstimmen und der damit verbundenen Mandate nicht unter den Tisch fielen, sondern zur Zusatzbeute der anderen Parteien wurden.
Schön und gut, ist das alles aber nicht bald Schnee von gestern? Nein, denn es gibt wieder freilich nur sanft warnende Hinweise – jetzt auch von der Bundeskanzlerin – , dass bei bestimmten Wahlergebnissen es zu einer extremen Aufblähung des Bundestages kommen könnte. Ein solches Wahlergebnis kann dadurch zustande kommen, dass CDU und CSU viele Zweitstimmen sowohl absolut als auch relativ zur gesamten Wählerzahl verlieren, weil AfD und FDP neu dazu kommen.
In vielen Bundesländern hat die Union 2013 alle oder fast nur Direktmandate gewonnen. Das bedeutet, dass ihr 50 Prozent aller Sitze sicher waren, die dem jeweiligen Bundesland zustanden. Als nun die anrechenbaren Zweitstimmen im jeweiligen Bundesland deutlich niedriger waren als 50 Prozent, sind Überhangmandate entstanden. 2013 waren es wie geschildert vier in vier verschiedenen neuen Bundesländern. 2017 können es aus mehreren Gründen noch viel mehr als 16 Überhangmandate werden.
- Durch die CSU in Bayern, wenn die zwar alle Wahlkreise wieder gewinnt, aber deutlich unter 50 Prozent anrechenbarer Zweitstimmen bleibt.
- Durch die CDU in den neuen Bundesländern oder in Baden-Württemberg, wenn die errungenen Mandate durch Erststimmen- deutlich höher sind als die maßgeblichen Zweistimmen-Mandate. Das kann auch bei unter 50 Prozent der Wahlkreismandate der Fall sein.
Dafür ein rechnerisches Beispiel, das nach dem gegenwärtigen Stand der Prognosen und den Ergebnissen der Landtagswahl 2016 durchaus realistisch ist: Die CDU erringt in Baden-Württemberg immer noch 30 von 38 Wahlkreisen, aber nur 30,3 Prozent der anrechenbaren Zweitstimmen. Das bedeutet dann:
Das wären rund 25 Prozent mehr, als der CDU zustünden und rund 10 Prozent mehr als Baden-Württemberg. Beides muss durch prozentual gleichen Stimmzuwachs bei den anderen Parteien ausgeglichen werden!
Die Zahl der daraufhin notwendigen Ausgleichsmandate kann vorher nicht genau berechnet werden, weil auch die vorher unbekannte Wahlbeteiligung ein Rechenfaktor ist. Legen wir die offizielle Berechnung 2013 für die CSU in Bayern zugrunde, dann kann es eine riesige Zahl von Ausgleichsmandaten für die anderen Parteien allein schon aus Baden-Württemberg geben.
Entscheidend ist, in welchem Bundesland der Abstand zwischen Erststimmenergebnis und einem Zweitstimmenergebnis zur größten prozentualen Abweichung führt. Das kann nach Lage der Dinge sowohl Bayern durch die CSU als auch Baden-Württemberg durch die CDU der Fall sein.
Viele Zusatzmandate führen zu einem nach dem Bundeswahlgesetz nicht gewollten erheblichen Übergewicht der Mandatsträger aus den Landeslisten. Die können viel weniger nach ihrem Gewissen, sondern müssen viel mehr nach der Parteiräson abstimmen. Es kann sein, dass überall in Deutschland im Wahlkampf die Erststimmen-Mandate eine viel größere Rolle spielen als bisher. Sechs der sieben im nächsten Bundestag wahrscheinlich vertretenen Parteien können Wahlkreise gewinnen. In manchen Wahlkreisen können bis zu vier Kandidaten der verschiedenen Parteien ein Direktmandat erobern.
Je bunter die Deutschlandkarte nach der Wahl mit schwarz, hellrot, grün, tiefrot und blau eingefärbten Wahlkreisen aussieht, umso geringer wird die Zahl der Zusatzmandate sein. Welche Koalitionsmöglichkeiten es nach der Wahl auf Grund der Zweitstimmen-Ergebnisse gibt, zeichnet sich wahrscheinlich schon bald nach der Schließung der Wahllokale ab. Wie groß der Bundestag sein wird, das erfahren wir wahrscheinlich erst am nächsten Tag oder noch viel später, weil auf Grund einer großen Zahl knapper Ergebnisse bei den Erststimmen wahrscheinlich viele Rufe nach wiederholter Auszählung erschallen werden.
Dieter Schneider, Jahrgang 1941, studierte Betriebswirtschaftslehre in Frankfurt am Main. Nach sieben Jahren Management-Tätigkeit brachte er als selbständiger Unternehmensberater und Journalist den branchenspezifischen Information- und Beratungsdienst „Marktlücke“ heraus, den es ununterbrochen Anzeigen- und PR-frei fast 40 Jahre gab. Seit 2013 publiziert Dieter Schneider mit gleichem Namen MARKTLÜCKE Management-Themenmagazine.