Berliner Bahnkunden sind gebürtige Bingo-Spieler: Wer in der Hauptstadt S-Bahn fährt, kann Gründe für eine verspätete Heimkehr sammeln: Personalausfall, defektes Stellwerk, Motorschaden der Lok, medizinischer Einsatz, Stromausfall im Leitsystem – Bingo! Aber immerhin fährt in Berlin öffentlicher Nahverkehr. Theoretisch. Wer zum Beispiel im saarländischen Hierscheid lebt, braucht mit öffentlichen Verkehrsmitteln mehr als vier Stunden bis zum Frankfurter Flughafen – von dort sind es weniger als vier Stunden bis zum Flughafen in Antalya. 200 Kilometer in Deutschland können mit öffentlichen Verkehrsmitteln also zu einer Weltreise werden.
TE schaut sich lieber an, wie sich diese elf Millionen Tickets verteilen. 46 Prozent der Tickets wurden an Kunden verkauft, die bereits ein Ticket für den öffentlichen Nahverkehr abonniert hatten. 44 Prozent waren bereits ohne Abonnement Kunden des öffentlichen Nahverkehrs – etwa indem sie sich regelmäßig eine Monatskarte gekauft haben. Nur acht Prozent sind echte Neukunden, zwei Prozent haben keine Angaben gemacht. Die Zahlen hat der VDV veröffentlicht.
Nun ist aber Sommer. Und die Menschen können mit dem 49-Euro-Ticket günstig nach Sylt fahren, ins Sauerland, den Thüringer Wald oder in die deutschen Alpen. Es sei denn, die Gewerkschaft EVG zieht ihren Streik durch. Dann gibt es statt günstigem Deutschlandurlaub stillstehende Räder. Vielleicht streikt im Herbst aber auch die Gewerkschaft der Lokführer. Dann gibt es wieder einen Grund, warum keine Züge fahren. Oder auch: Bingo, wie der Berliner dazu sagt.
Woher soll also das Geld für ein besseres Angebot kommen, das für die künstlich geschaffene Nachfrage nötig wird? Der Bund soll es geben, sind sich Länder, Verkehrsbetriebe und die Extremisten der Letzten Generation einig. Will der Bund das? Wie viel Geld steht im Haushalt bereit, den Finanzminister Christian Lindner (FDP) im Frühjahr vorgestellt hat? Nichts, denn es gibt den Entwurf noch nicht. Die Ampel kann sich nicht darauf einigen, wofür sie das Geld der Steuerzahler ausgeben will. Ein Streitpunkt ist das Bahnnetz, für das Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) aus den genannten Gründen mehr Geld beansprucht.
Die Champagner-Laune ist verflogen. VDV-Präsident Ingo Wortmann bemüht sich zwar, die Zahlen als Erfolgsmeldung zu verkaufen. Klingt dabei aber mittlerweile anders als noch im April: „Allerdings müssen wir auch berücksichtigen, dass mit einer bundesweiten Nutzung des Tickets auch eine Erwartungshaltung einhergeht, die wir nicht immer adäquat einlösen können.“ In den Städten brauche es mehr Kapazitäten, im ländlichen Räumen mehr Angebote. Was passiert jetzt: „Hierzu werden wir in den kommenden Monaten intensiv mit Bund und Ländern in den fachlichen Austausch gehen.“ Die Revolution wird zum Arbeitskreis.