Tichys Einblick
Um der Freiheit Willen

Was den 17. Juni zu einem wichtigen Gedenktag macht, von Jahr zu Jahr mehr

Wer ernsthaft meint, dass die DDR „eine ramponierte Demokratie“ war wie die Leipziger Volkszeitung, der hat nicht verstanden, dass die DDR noch nicht einmal eine ramponierte Demokratie war, sondern sie war gar keine. Vergessen wir das nicht, erinnern wir uns mindestens einmal im Jahr, und zwar am 17. Juni. Um der Freiheit Willen, die doch so schnell verloren geht.

Sowjetischer Panzer am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin

IMAGO/Photo12

Zu den nicht nur ausgesprochen kontrovers beurteilten und nicht weniger unterschiedlich benannten Ereignissen in der deutschen Geschichte zählt der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR, der heute vor siebzig Jahren seinen Höhepunkt fand und durch sowjetisches Militär niedergeschlagen wurde. Die einen wollten in ihm einen faschistischen Putsch, die anderen einen Arbeiteraufstand, die dritten schließlich einen Volksaufstand sehen.

Unbestreitbar ist, dass nach dem die Gewerkschaftszeitung „Tribüne“ am Morgen des 16. Juni 1953 die Normerhöhung noch in den höchsten Tönen rechtfertigte, sich in der Stalinallee eine Demonstration von 80 Bauarbeitern in Bewegung setzte, der sich aber immer mehr Berliner anschlossen. Gegen 13.30 Uhr befanden sich bereits 10.000 Demonstranten auf der Straße. Gegen Mittag wurde die Normerhöhung zurückgenommen. Doch inzwischen forderten die Demonstranten auch freie und geheime Wahlen. Immer stärker verdrängten politischen Forderungen die wirtschaftlichen. In dem Ruf: „Es hat keinen Zweck, der Spitzbart muss weg“, womit Walter Ulbricht gemeint war, konzentrierte sich die Forderung, dass die SED die Macht aufgibt, dass endlich, wie es zur Gründung der DDR 1949 für den Oktober 1950 versprochen worden war, freie Wahlen stattfinden. Doch statt freien Wahlen legten die Parteien und die von der SED gesteuerten Massenorganisationen (bspw. Demokratischer Frauenbund, FDJ, Kulturbund) des demokratischen Blocks, die Nationale Front, einen gemeinsamen Wahlvorschlag vor, in dem bereits geregelt war, wie viele Mandate die Parteien und Massenorganisationen bekamen. Die Bürger besaßen nur die Wahl, diesen Wahlvorschlag in seiner Gesamtheit anzunehmen oder abzulehnen. Allerdings wurde die Ablehnung des Wahlvorschlages als antidemokratisch, im Grunde als staatfeindlich ausgelegt – und demjenigen, der das wagte, drohten Repressalien. Bereits das Aufsuchen der Wahlkabine galt als potentiell staatsfeindlich, als undemokratisch, gab einen Hinweis darauf, dass derjenige den Wahlvorschlag ablehnte. So nutzte also kaum jemand die Wahlkabine. Die Wahlen verliefen bis 1990 weder frei noch geheim.

Diktatur der Parteiführung als höchste Form der Demokratie

Nach Auffassung der SED bildete die Diktatur des Proletariats, also die Diktatur der Parteiführung, die höchste Form der Demokratie. Wer es wagte, die SED zu kritisieren, griff aus ihrer Sicht die Demokratie an und wurde als Feind der Demokratie bekämpft. Wenn die Dekanin der Fakultät Grundfragen des Marxismus-Leninismus an der Parteihochschule Karl Marx in Kleinmachnow, Frida Rubiner, 1947 in der theoretischen Zeitschrift der SED „Einheit“ schrieb: „Im politischen Kampf unserer Tage wird mit keinem Begriff so viel Missbrauch getrieben wie mit dem Begriff ‚Diktatur‘. Die ‚Diktatur‘ wird geradezu zum Schreckgespenst gemacht für alle Freunde der Demokratie und solche, die es werden wollen“, dann zitierte sie nicht Georges Orwell, sondern fasste das Demokratie-Konzept der SED zusammen. Diktatur ist Demokratie und Demokratie ist Diktatur.

1952 genehmigte Stalin, den Aufbau des Sozialismus in der DDR offiziell und öffentlich zu machen, der bis dahin unter dem Tarnbegriff „antifaschistisch-demokratische Ordnung“ vorangetrieben wurde. Allerdings mahnte Stalin Pieck, Ulbricht Grotewohl und Oelßner bei einem Treffen am 7. April 1952 in Moskau, dass sie erst einmal einen richtigen Staat schaffen müssten, dass „man auch jetzt kein Geschrei um den Sozialismus zu machen braucht. Aber Produktionsgenossenschaften, das ist ein Stückchen Sozialismus, und volkseigene Unternehmen sind ebenfalls Sozialismus.“ Im Klartext hieß das: Ohne allzu viel theoretisch vom Sozialismus zu reden, sollte man vollendete Tatsachen schaffen, indem man die sozialistische Produktionsweise durchsetze. Stalin empfahl, die Kollektivierung der Landwirtschaft nach sowjetischem Vorbild voranzutreiben. Man müsste die Großbauern durch Kolchosen, in der DDR dann Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) genannt, einkreisen, sie wirtschaftlich, sozial und menschlich isolieren. Die Verstaatlichung der Industrie müsste weiter vorangetrieben, die Grenzen durch eine Grenzpolizei gesichert und eine Armee geschaffen werden. Praktisch wirkte sich der verschärfte Kurs der SED so aus, dass die Grenze der DDR zur Bundesrepublik nicht als Demarkationslinie, sondern als Grenze, die es zu sichern galt, behandelt wurde. Einen zehn Kilometer breiten Kontrollstreifen pflügte man an der Grenze um. Bis auf die Grenzübergangsstellen wurden Straßen – und Eisenbahnverbindungen gekappt. Bewohner des Grenzgebietes, die „wegen ihrer Stellung in und zu der Gesellschaft eine Gefährdung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung darstellen“, siedelte man brutal um. In Thüringen wurde diese Umsiedlungsaktion unter der Bezeichnung „Aktion Ungeziefer“ geführt. Insgesamt siedelte die Stasi 11.000 Bewohner um, 3.000 von ihnen flohen in die Bundesrepublik.

14 Bezirke statt fünf Länder

Um ein straffes, zentralistisches Regieren zu ermöglichen, schaffte die SED die fünf Länder ab und teilte das Land in 14 Bezirke. Die Justiz wurde in der Folge noch weit stärker zur politischen Justiz umgebaut. Sie war nicht unabhängig, sondern die Rechtsprechung hatte „dem Aufbau des Sozialismus, der Einheit Deutschlands und dem Frieden zu dienen.“ Mit dem „Gesetz zum Schutz des Volkseigentums“ vom 2. Oktober 1952 konnte nun auch verstärkt Druck zur Kollektivierung in der Landwirtschaft und zum Zusammenschluss von Handwerkern zu Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH) ausgeübt werden. Im Mai 1953 verkündete der Generalstaatsanwalt der DDR, Ernst Melsheimer, dass dank des Gesetzes „nicht weniger als 7000 Verfahren mit rund 10 100 Personen allein wegen Verstöße gegen dieses Gesetz“ durchgeführt worden waren, Verfahren, die zu Haftstrafen, zu Enteignung, zum Ruin, zu unermesslichem Leid geführt hatten.
Vor dieser Politik flohen immer mehr Bauern und Handwerker aus der DDR. Daraus resultierten wachsende Probleme in der Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmittel, im Grunde kündigte sich eine Ernährungskrise an. Die Schulen – und nach der zweiten Hochschulreform auch die Universitäten und Hochschulen – wurden endgültig zu Orten der sozialistischen Indoktrination. Eine der wichtigsten Lehren aus der Zeit des „Dritten Reiches“, dass die Organe des Staates, die Schulen, Universitäten und Hochschulen weltanschaulich neutral zu sein haben, verkehrten die Kommunisten in ihr Gegenteil. Es galt nun, parteilich zu sein, den „Klassenstandpunkt“ einzunehmen, also die Politik der SED zu vertreten.

In Moskau beobachtete man die Entwicklung mit wachsender Sorge. Am 5. März 1953 starb Stalin. Am 27. Mai 1953 wurde schon im Präsidium des sowjetischen Ministerrats über die DDR debattiert. Nach dem Bericht des Außenministers Wjatscheslaw Molotow ergriff Stalins Kurznachfolger Lawrentij Berija das Wort: „Die DDR? Was ist sie wert, die DDR? Sie ist ja noch nicht einmal ein richtiger Staat. Sie wird nur durch sowjetische Truppen am Leben erhalten, selbst wenn wir sie mit Deutscher Demokratischer Republik betiteln.“ Doch Molotow hielt dagegen: „Die Demokratische Republik steht der Bundesrepublik in nichts nach. Ich verwahre mich aufs schärfste gegen eine derartige Haltung gegenüber einem befreundeten Land. Es hat das Recht auf Existenz als unabhängiger Staat.“

Streiks in der ganzen DDR

In der DDR standen inzwischen die Zeichen auf Sturm. Am 17. Juni versammelten sich viele Berliner im Zentrum von Ost-Berlin, Streiks fanden nun in der ganzen DDR statt, in Magdeburg, in Halle, im mitteldeutschen Industrierevier, in Dresden, in Görlitz, in Thüringen. Am Vormittag des 17. Juni zogen die Russen Panzer zusammen. Um 13 Uhr wurde der Ausnahmezustand verhängt. „Die gegen die Regierung gerichtete Bewegung hat auch auf andere Städte der Republik übergegriffen“, meldete der Chef des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes in der DDR, Iwan Fadejkin, am 17. Juni um 14 Uhr an Berija. Um 16.20 Uhr kabelte Fadejkin, dass in Magdeburg 70 000 Menschen „auf den Straßen der Stadt“ demonstrieren und „Porträts von Lenin und Stalin und führenden Repräsentanten der DDR“ zerreißen. „Das Gebäude der Magdeburger Bezirksleitung wurde demoliert […] es besteht die Gefahr eines Angriffs auf das Gefängnis und die MfS- Dienststelle.“
Sowjetische Truppen zeigten nun mit Panzern Präsenz, die gegen die Demonstranten eingesetzt wurden. Insgesamt kamen in der DDR zur Niederschlagung des Volksaufstandes 16 sowjetische Divisionen zum Einsatz.

Vom 24. bis zum 26. Juli 1953 beriet das ZK der SED auf ihrer 15. Tagung, welche Einschätzung der Ereignisse vom 17. Juni kanonisiert werden sollte. Die SED suchte natürlich die Schuld nicht bei sich, sondern in den bösen Ränken des noch böseren Klassenfeindes und kam zur Auffassung, dass für „die Festlegung des faschistischen Putsches auf den 17./18. Juni internationale Gründe entscheidend“ waren. Weil die Waffenstillstandsverhandlungen in Korea vorankamen, weil die „Weltfriedensbewegung“ nach der Tagung des Weltfriedensrates in Budapest „anwuchs“ und schließlich der „zunehmende Widerstand gegen die amerikanische Bevormundung im kapitalistischen Lager selbst“ größer wurde, „unternahmen faschistische Provokateure, die von amerikanischen Offizieren mit Waffen, Benzinflaschen und Instruktionen versehen waren, im demokratischen Sektor von Berlin einen faschistischen Putschversuch.“ Natürlich ist es nach der kommunistischen Doktrin undenkbar, dass die Arbeiterklasse gegen ihre Vorhut, gegen die Partei der Arbeiterklasse protestiert oder sie sogar ihren Rücktritt von der Macht fordert. Daher konnte der Protest nur das Werk von eingeschleusten Provokateuren sein.

Verschwörungstheorie von eingeschleusten Provokateuren

Doch längst nicht genug der Verschwörungstheorien. Ein Grund, den die SED-Führung anführte, stellte ihre Erbärmlichkeit bloß, denn der Beweis für die „internationalen Zusammenhänge der großangelegten Provokation“, des „faschistischen Putsches“ vom 17. Juni findet sich in der „Entlarvung des imperialistischen Agenten Berija […] Das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei dankt dem Zentralkomitee der KPdSU für die rechtzeitige Entlarvung des Verräters Berija. Es drückt dem Zentralkomitee der KPdSU sein festes Vertrauen aus und bekundet seine Verbundenheit mit der Partei Lenins und Stalins.“ Obwohl nach Stalins Tod Lawrentij Berija die Rolle des primus inter pares in der Führungsspitze der KPdSU einnahm, trieb die anderen der pure Selbsterhaltungswille dazu, in einem schon drollig anmutenden Putsch Berija am 26. Juni 1953 festzunehmen und ihn erschießen zu lassen. Dass Berija nun zu einem Hauptschurken für den 17. Juni in Ost-Berlin erklärt wurde, ist an Komik nicht mehr zu überbieten.

Gescheitert wäre jedoch der „Putschversuch“, log die SED, weil „die Mehrheit der Bevölkerung der DDR, besonders der Arbeiterklasse […] die Provokateure nicht unterstützt, sondern energisch zurückgewiesen hat.“ Jeder sowjetischer Panzerfahrer war demnach in Wahrheit ein ostdeutscher Arbeiter.
Viele Intellektuelle und Künstler, die sich an den Feuern der Utopie die Hände wärmten, lehnten den Aufstand ab und schicken panegyrische Ergebenheitsadressen an Walter Ulbricht, so Paul Dessau, so Bertolt Brecht, so Anna Seghers, so Friedrich Wolf, so Erich Loest. In diesen Juni-Tagen wurde deutlich, dass die Diktatur des Proletariats doch auch nur eine Diktatur über das Proletariat war. Brecht notierte als ersten Versuch, das Geschehene zu verarbeiten, am 20. August 1953 in sein Arbeitsjournal: „Der 17. Juni hat die ganze Existenz verfremdet. In aller ihrer Richtungslosigkeit und jämmerlichen Hilflosigkeit zeigen die Demonstrationen der Arbeiterschaft immer noch, dass hier die aufsteigende Klasse ist. Nicht die Kleinbürger handeln, sondern die Arbeiter […] Und doch hatten wir hier die Klasse vor uns, in ihrem depraviertesten Zustand, aber die Klasse. Alles kam darauf an, die erste Begegnung voll auszuwerten. Das war der Kontakt. Er kam nicht in der Form der Umarmung, sondern des Faustschlages.“ Doch die SED will nichts auswerten. Symptomatisch dafür ist die Verlautbarung des Sekretärs des Schriftsellerverbandes, des gesinnungsstarken, aber poetisch schwachen Dichters Kurt Bartel, der sich Kuba nannte. Als der die Arbeiter geradezu altväterlich abkanzelte, platzte Brecht der Kragen. Er verfasste das allerdings zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichte Gedicht „Die Lösung“:

„Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?“

Brecht sagte nicht „Putsch“, sondern „Aufstand“

Und Brecht nannte 1953 im Gegensatz zur DDR-Propaganda den 17. Juni nicht „Putsch“, sondern „Aufstand“. Doch auch Brecht, dessen schwächste lyrische Leistungen die Parteigedichte sind wie „Wer aber ist die Partei“, „Lob des Kommunismus“, „Die Erziehung der Hirse“ und „Die Teppichweber von Kujan-Bulak ehren Lenin“, konnte seinen Glauben an den Kommunismus nur aufrechterhalten, indem er sich zu dem Schluss zwang: „Aber nun, als große Ungelegenheit, kam die große Gelegenheit, die Arbeiter zu gewinnen […] In dem Augenblick, wo ich das Proletariat […] wiederum ausgeliefert dem Klassenfeind sah, dem wieder erstarkenden Kapitalismus der faschistischen Ära, sah ich die einzige Kraft, die mit ihr fertig werden konnte.“ Und die war für Brecht die SED.

Der 17. Juni war ein Volksaufstand, ein noch einsames Wetterleuchten für den Herbst 1989.

Die Ergebnisse des 17. Juni wirkten sich allerdings traumatisch aus. Deshalb gehörte es zu den wichtigsten Sätzen, die 1989 von Mund zu Mund gingen, dass diesmal die sowjetischen Panzer in den Kasernen bleiben und nicht fahren werden. Die sowjetischen Panzer standen am Anfang der DDR, sie sicherten sie ab, und als sie nicht mehr dazu bereit waren, verschwand die DDR.

Doch wie wichtig das Gedenken des 17. Juni als eines Volksaufstandes, als eines Kampfes um die Freiheit ist, belegt ein neuer Revisionismus, der uns schon mal vorsorglich an eine neue Gemeinwohldiktatur gewöhnen möchte, der uns einzureden wünscht, dass die Idee des Sozialismus und die DDR an sich gut, nur eben das falsche Personal am Start war, das alles vermurkst hat. Das ginge doch besser! Wirklich?

Wer ernsthaft meint, dass die DDR „eine ramponierte Demokratie“ war wie die Leipziger Volkszeitung, der hat nicht verstanden, dass die DDR noch nicht einmal eine ramponierte Demokratie war, sondern sie war gar keine. Vergessen wir das nicht, erinnern wir uns mindestens einmal im Jahr, und zwar am 17. Juni. Um der Freiheit Willen, die doch so schnell verloren geht.

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