Eine politische Theologie verdirbt zum einen die Politik, indem sakralisierte Themen (Gender, Migration, Impfung) nicht mehr offen und frei kritisiert werden dürfen. Eine politische Theologie verdirbt zum anderen aber auch die Theologie selber. Diesen theologieverderbenden Aspekt möchte ich mit folgendem Beispiel verdeutlichen:
„Jetzt ist die Zeit“, so lautete der Slogan für den Kirchentag 2023. Als biblischen Beleg für diese Losung hat der Kirchentag Markus 1,15 angegeben. Wer diese Bibelstelle aufschlägt, muss aber feststellen, dass dort „jetzt ist die Zeit“ gar nicht steht:
Mk 1,15 – Lutherübersetzung 1984: „Die Zeit ist erfüllt.“
Mk 1,15 – Lutherübersetzung 2017: „Die Zeit ist erfüllt.“
Mk 1,15 – Zürcher Übersetzung: „Erfüllt ist die Zeit.“
Mk 1,15 – Elberferlder Übersetzung: „Die Zeit ist erfüllt.“
Mk 1,15 – Einheitsübersetzung 2016: „Die Zeit ist erfüllt.“
Mk 1,15 – Neue Genfer Übersetzung: „Die Zeit ist gekommen.“
Mk 1,15 – Basisbibel: „Die von Gott bestimmte Zeit ist da.“
Mk 1,15 – griechischer Urtext: peplärootai ho kairos
In Mk 1,15 wird am Anfang des Markusevangeliums auf die einzigartige Zeit hingewiesen, die mit Jesus Christus begonnen hat; mit Jesus Christus erfüllt sich die Zeit.
Der Kirchentag weiß, dass sein Slogan „Jetzt ist die Zeit“ in Mk 1,15 gar nicht vorkommt und spricht deshalb etwas entschuldigend von „Übersetzungsvariante“. Wenn er ehrlich gewesen wäre, hätte er allenfalls von „Interpretationsvariante“ sprechen können, denn das griechische Original von Mk 1,15 lässt sich nicht mit „jetzt ist die Zeit“ übersetzen.
Es gibt allerdings eine Bibelstelle, die mit „jetzt ist die Zeit“ übersetzt werden kann oder sogar so übersetzt werden muss: 2. Korinther 6,2. Dort heißt es:
2. Kor 6,2 – Lutherübersetzung 1984: „Jetzt ist die Zeit der Gnade“
2. Kor 6,2 – Lutherübersetzung 2017: „Jetzt ist die willkommene Zeit“
2. Kor 6,2 – Zürcher Übersetzung: „Jetzt ist sie da, die ersehnte Zeit“
2. Kor 6,2 – Elberferlder Übersetzung: „Jetzt ist die hochwillkommene Zeit“
2. Kor 6,2 – Einheitsübersetzung 2016: „Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade“
2. Kor 6,2 – Neue Genfer Übersetzung: „Jetzt ist die Zeit der Gnade“
2. Kor 6,2 – Basisbibel: „Jetzt ist die rechte Zeit.“
2. Kor 6,2 – griechischer Urtext: „nyn kairos“; kann fast schon ohne Griechischkenntnissse als „jetzt ist die Zeit“ erkannt werden: „nyn“ – nun/jetzt und „kairos“ – Zeit/günstige Zeit.
Damit stellt sich die entscheidende Frage, warum der Kirchentag als Beleg für seinen Slogan ausgerechnet eine Bibelstelle angibt, die gar nicht so recht zu seinem Slogan passt; und warum er nicht die Bibelstelle angibt, die viel besser zu seiner Losung passt.
Die Antwort gibt der Kirchentag selber. Bei der Vorstellung der Kirchentagslosung betont der Kirchentag, dass es ihm um ein „klares Aufbruchssignal zur Abkehr von zukunftsgefährdenden Lebensweisen und Verhaltensweisen“ geht.
Diese Intention des Kirchentags passt zur Politik von Zeitenwende, Energiewende, Heizungswende, Verteidigungswende, Ernährungswende, Wohlstandswende.
Zu dieser Intention passt allerdings 2. Korinther 6,2 gar nicht, denn dieser Bibelvers betont die Gegenwart als Gnadezeit: „Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade. Siehe, heute ist die Stunde des Heils.“ Die biblisch eigentlich viel besser zum Kirchentags-Slogan passende Bibelstelle widerspricht der gegenwärtigen politisch korrekten Meinung, nach der die Gegenwart eine Klima-Katastrophenzeit ist, die die Zukunft gefährdet.
So erkläre ich mir, warum der Kirchentag auf Markus 1,15 ausgewichen ist und warum er versucht, diese Bibelstelle mit einigen angestrengten Klimmzügen auf seinen Slogan hin umzubiegen. Der Zweck heiligt die Mittel. Der Zweck der politischen Korrektheit heiligt das Mittel der Bibelzurechtbiegung.
Aus dem evangelischen „allein die Schrift“ („sola scriptura“) ist „allein die Ideologie“ geworden. Der politischen Ideologie hat sich die Heilige Schrift unterzuordnen.
Im Slogan des Kirchentags mit seiner fragwürdigen biblischen Unterlegung spiegelt sich die theologische Krise eines ideologisch-politisierten Protestantismus wie in einer kleinen Nußschale. Politische Theologie verdirbt nicht nur die Politik, sondern ebenso die Theologie.
PS. Ich danke herzlich den TichysEinblick-Lesern „Radler“, „Pseudolisa“ und „Susa“, die so hartnäckig dieses Thema eingefordert haben.