Tichys Einblick
Erding und Nürnberg

Politischer Wetterumschwung oder die Angst vor dem Wähler geht um

Sobald Politiker Berlin verlassen, treffen sie auf freie Bürger. Am Wochenende bestimmten zwei bayerische Städte den politischen Wetterbericht – der evangelische Kirchentag in Nürnberg und das oberbayerische Erding. Auf der politischen Bühne kommt es zum Zweikampf von Union und AfD.

IMAGO/Smith

Der evangelische Kirchentag ist zu einer Art grünem Gottesdienst verkommen; es wurde viel über weibliche Geschlechtsorgane, die Freuden der sexuellen Transformation und das Klima geredet; Gott, oder G*tt, wie es dort heißt, kam nur als Unterabteilung der Großthemen Geschlechtsumwandlung und Klimabetroffenheit vor. Eine seltsam blutleere Veranstaltung, intellektuell auf dem Niveau von Katrin Göring-Eckardt und also tief unter dem Asphalt, auf dem einige Gläubige glückselig lächelnd ihre Hände festklebten, wozu auch immer das gut sein soll. In Sylt waren zeitgleich eine Jugendstil-Bar von der Letzten Generation verwüstet und ein für Ambulanzzwecke eingesetzter Jet flugunfähig zerstört worden; das wären aktuelle Themen gewesen: Wie viel Klimawahn ertragen Gesellschaft und Schöpfung?

So bleibt nur ein Art Feldgottesdienst in Erinnerung anlässlich des Beginns der ukrainischen Gegenoffensive und ein Schlussgottesdienst, der Jesus für queer erklärte: Die Bibel hat eben doch nicht recht, erklärt uns jetzt die EKD mit ihrer sehr eigenwilligen Auslegung der Geschlechtlichkeit. Auf die Idee, dass Jesus die Wärmepumpen-Dealer und Transpropagandisten aus Tempel (und Kindergärten) gejagt hätte, kam keiner von den buntblinden Chef-Pastoren.

Krachledern in Oberbayern

In Erding, Bayerns Weißbierhauptstadt, ging’s krachlederner zu. Markus Söder wurde ausgepfiffen und der Chef der Freien Wähler, Hubert Aiwanger wurde zum neuen Star mit seinem Satz, dass die in Berlin „den Arsch offen haben“. Recht hat er ja. Aber hat er selbst einen solchen in der Hose? Denn der nur ein paar Dutzend Kilometer entfernte Altöttinger Staatsforst, bislang eine Naturschönheit und Wandergebiet, soll mit dem größten Windpark Bayerns gründlich verwüstet werden. Geplant sind bis zu 40 Windräder; für den Bund Naturschutz sind Wald und Wind vereinbar, die lokalen Bürgermeister sind mit ein paar Brosamen für ihre Rathäuser abgefunden.

Markus Söder feiert das als Beweis seiner grünen Politik, denn nur so könne dem unter Stromnot leidenden riesigen Chemiepark dort zur Energie verholfen werden. Dumm nur, dass Anlagen der chemischen Industrie auch unter weißblauem Himmel beständigen und nicht gelegentlichen Strom brauchen. Der Energiewahnsinn und die Umweltzerstörung feiern also in Bayern nur mit Verspätung Urständ, und der zuständige Wirtschaftsminister heißt: Hubert Aiwanger. Aiwanger stimmte auch für das bayerische Klimagesetz, mit dem das Weltklima durch die Stilllegung weißblauer Heizungen gerettet werden soll. Redet sich da einer in den Rausch, den er am Montag mit Kopfweh bezahlen muss?

Aiwanger wird jetzt ganz schnell zeigen müssen, ob er bloß ein vorlauter Wochenend-Opportunist ist oder wirklich das Zeug dazu hat, Politik zu verändern. Noch verteidigt er sich gegen die Angriffe, die ihn jetzt natürlich zu den bösen Rechtspopulisten verschieben wollen; das ist schon mal ein gutes Zeichen: Er verschiebt tatsächlich die Grenzen des Sagbaren. Übrigens ist es da wieder die CSU, die sich besonders hervortut mit Kritik an Polemik, wenn sie nicht von ihr selbst stammt. Politik in Bayern war immer schon laut im Bierzelt und konziliant im Sitzungssaal. Unter Markus Söder, immerhin Chef von Aiwanger, war sie nur noch zufällig nach Stimmungslage; die Erdinger Demonstranten haben nicht vergessen, dass Söder immer der Scharfmacher war: bei der Stilllegung der Kernkraftwerke wie in der Corona-Politik. Erinnern will er sich nicht daran, aber man kann ja auch den Wetterhahn nicht danach fragen, wohin er sich gestern gedreht hat.

Revolution für bürgerliche Ruhe 

Aiwanger erinnert ein wenig an jenen Führer der örtlichen bayerischen Sozialdemokraten, der 1918 an der Spitze der bewaffneten Arbeitertruppen auf der Münchner Theresienwiese stand und zögerte mit der Revolution und dem Sturz des Königs. Auf Drängen seiner Unterführer soll er gesagt haben: „Dann machen wir halt eine Revolution, damit eine Ruh wieder ist!“. Revolution zum Zwecke der Wiedereinkehr von Ruhe und Behaglichkeit ist ein sehr bayerisches Motiv. Nicht das Schlechteste: Denn die „Große Transformation“, der sich die Ampel verschrieben hat, will ja nicht weniger sein als ein Umsturz von oben, der das Leben der Bürger verändern soll: Sie will bestimmen, was wir essen, wie wir sprechen und was wir noch lesen und denken dürfen; wie wir heizen, wie weit und womit wir uns noch fortbewegen, was wir tanken; selbst das bislang als unveränderlich angesehene Geschlecht soll transformiert werden.

Es ist eine Revolution von oben, die kaum jemand so will. Meinungsforscher Manfred Güllner formuliert treffend: „Wenn eine kleine elitäre Minderheit der oberen Bildungs- und Einkommensschichten der Gesellschaft der großen Mehrheit der Andersdenkenden ihre Werte durch Belehrungen oder Verbote aufzwingt, kann das wohl als eine Art Diktatur gewertet werden.“ Ist es schon Diktatur? Müssen wir uns die Demokratie wieder zurückholen, wie Aiwanger sagt? Demokratie ist zumindest höchst gefährdet, wenn eine Bevölkerung mit einer solchen Vielzahl von Zwängen, Finten, Inflation, Vorschriften und Maßregelungen bis in jede Lebensgewohnheit hinein traktiert wird, wofür sie nie gestimmt hat: Insekten im Mehl statt Fleisch auf dem Teller; Wohlstand soll durch Verzicht ersetzt werden, das kennt man ja.

Aber noch viel tiefer als jemals zuvor wird ins Privateste eingegriffen und zu diesem Zwecke wird Freiheit umdefiniert in kollektive Einsichtsfähigkeit und das Grundgesetz vom Schutzrecht vor dem Staat zur Gängelungsgesetzgebung. Der früher emanzipatorische Suhrkamp-Verlag kommentiert dazu: „Warum ist die Angst vor der Einschränkung der persönlichen Freiheit ein so emotionales Thema? Welche Freiheit lohnt es, verteidigt zu werden?“ Tatsächlich – mit gebeugtem Haupt gehen wohl die Verlagsmitarbeiter in die Unfreiheit und merken es gar nicht mehr.

Geschichtsunkundige wissen nicht, was ‚abholen‘ hieß

Widerspruch gegen das Wirken der Ampel ist ohnehin zwecklos – „Wir haben die Notwendigkeit für dieses Gesetz nicht ausreichend erklärt“, sagt Renate Künast (Grüne). Übersetzt sich in einfache Worte mit „Der Bürger ist zu dumm, um es zu verstehen“. Auf die Idee, dass die Bürger sehr genau verstanden haben, was ihnen mit der Wärmepumpe droht, darauf kommen Grüne gar nicht mehr. Die Bürger müssten nur „abgeholt“ werden, so ihr politisches Mantra; wofür „abholen“ in den düstersten Zeiten dieses Landes stand, haben sie nicht auf dem Schirm.

Wer widerspricht, kann nur verstockt oder uninformiert sein; dass die Bürger den ganzen Queer-Kram von ihren Kindern fernhalten, vernünftig heizen und leben und essen wollen – auf diesen Gedanken kommen Grüne nicht mehr und auch weite Teile der CDU verstehen ihre Wähler längst nicht mehr. Politik hat sich umgekehrt: Sie ist nicht mehr das Vollzugsorgan des Mehrheitswillens, versucht gar nicht mehr, den Wählerwillen umzusetzen – sondern versteht sich als Avantgarde, die die Leute zu ihrem Glück zu treiben hat. Das Staatsverständnis ist verdreht: Der Bürger hat zu befolgen, was die Politik bestimmt und dann demokratisch nennt.

Politisches Erdbeben

Ganz ohne Widerspruch geht es aber nicht ab. Deutschland gerät politisch in Bewegung. Wahlforscher erwarten, dass in den Sommermonaten die AfD in den Umfragen die SPD überholt; dann kommt es zum Zweikampf mit der CDU. Gleichzeitg isoliert sich Ampel-Deutschland in der EU immer weiter und verspielt das europapolitische Kapital, das seit Konrad Adenauer bis zu Helmut Kohl erworben wurde.

Die CDU unter Friedrich Merz ist erkennbar hilflos; sie hat kein Rezept gegen die erstarkende AfD und versteht nicht, warum es statt der verkündeten Halbierung zur Verdoppelung gekommen ist. In Mecklenburg-Vorpommerns Landeshauptstadt Schwerin treten am 15. Juni bei der Oberbürgermeister-Stichwahl Amtsinhaber Rico Badenschier von der SPD und der AfD-Bundestagsabgeordnete Leif-Erik Holm gegeneinander an; die CDU ist bedeutungslos. Im südthüringischen Sonneberg verfehlt ein AfD-Politiker in der ersten Runde zur Landratswahl nur knapp die absolute Mehrheit. Um seinen Sieg bei der Stichwahl zu verhindern, unterstützen alle anderen Parteien den zweitplatzierten CDU-Kandidaten. Wie überzeugend sind Einheitsparteien?

Bitter wird es im Herbst kommenden Jahres in Thüringen: Aller Voraussicht nach muss sich die CDU dann entscheiden, ob sie unter dem Ministerpräsident der LINKEN Bodo Ramelow ein paar Ministerämter kassiert oder in einer Koalition mit der AfD den Ministerpräsidenten stellen kann. Die Ausgrenzungsstrategie jedenfalls scheint an ihr Ende zu kommen.

Was Deutschland erlebt, ist ein Kulturkampf, der dem Land von oben aufgezwungen wird: Statt anständig weiterleben zu können, werden die Bürger zu einer großen Transformation gezwungen, die sie gar nicht haben wollen – und die auch nicht funktionieren wird. Denn ehe das Kabinett der Ampel ihre planetarische Weltrettung umsetzt, sollte sie erst mal versuchen, die Bahn wieder pünktlich fahren zu lassen und den Mangel an über 500 zum Teil lebensnotwendigen Medikamenten zu beseitigen. Große planetarische Pläne, und dann Stolpern beim ersten, kleinen Schritt: Aiwanger hat es ins Bild gesetzt. Die Angst vor dem Wähler ist berechtigt.

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