Als sich Edzard Reuter zu Beginn der 1990er Jahre aufmachte, aus der einstigen Daimler-Benz AG und drei weiteren, durch Zukäufe gewonnenen Unternehmensbereichen einen „Integrierten Technologiekonzern“ zu schmieden, betitelte der Vorstandsvorsitzende einer dieser Bereiche Reuters Oberzentrale öffentlich als „Bullshit Castle“. Er brachte damit unverhohlen zum Ausdruck, dass die einzelnen Unternehmensbereiche, die sich in ihren Produktportfolios und geschichtlich gewachsenen Unternehmenskulturen deutlich voneinander unterschieden, an der Umsetzung von Reuters Vision, sie technologisch, operativ und kulturell zu integrieren, keinerlei Interesse hatten. Entsprechend stark waren ihre Widerstände gegen die diversen Integrationskonzepte, die auf zahlreichen Treffen der Oberzentrale mit Vertretern der Unternehmensbereich entwickelt und beschlossen wurden, um anschließend meist gar nicht oder bestenfalls deutlich verwässert in den einzelnen Unternehmensbereichen umgesetzt zu werden.
Die seit Jahren sich wiederholenden Versuche einer Integration der Asylpolitik der 27 Mitgliedsstaaten erinnert an diese eher unrühmliche geschichtliche Episode eines der bedeutendsten deutschen Industrieunternehmen. Dem Bestreben der EU-Kommission, die Asylpolitik zu vereinheitlichen und von Brüssel aus zentral zu steuern, stehen die höchst unterschiedlichen, in vielerlei Hinsicht gegensätzlichen Interessen und Sichtweisen der einzelnen Mitgliedsländer in Fragen von Asyl und Migration entgegen. Während einzelne Länder, allen voran Deutschland und Luxemburg, dem Schutz der Interessen der Asylzuwanderer höchste Priorität einräumen, räumen andere, allen voran Polen und Ungarn, dem Schutz der Interessen ihrer einheimischen Bürger insbesondere dann den Vorrang ein, wenn die Asylzuwanderer sich aus weit entfernten Ländern auf den Weg nach Europa machen.
Hinzu kommt aufgrund der verschiedenen geographischen Lagen die unterschiedliche Betroffenheit der EU-Länder von der Asylzuwanderung, die naturgemäß zunächst in Ländern wie Italien, Griechenland, Spanien und Frankreich mit EU-Außengrenzen zu Transitstaaten wie der Türkei, Libyen, Tunesien und Marokko stärker ist als in Ländern ohne solche Außengrenzen. Da innerhalb des Schengenraums so gute wie keine Grenzkontrollen stattfinden, stehen der irregulären Asylzuwanderung in diese Länder aber ebenfalls keine unüberwindbaren Hürden im Wege. Einzelne dieser Länder, wie etwa Dänemark, Schweden und Österreich, versuchen diese inzwischen auch in Eigenregie einzudämmen, während andere, wie etwa Deutschland und Luxemburg, diese Aufgabe mittels der EU-Kommission vor allem den Ländern mit Außengrenzen übertragen wollen.
Angesichts einer so gegensätzlichen Ausgangs- und Interessanlage kann es nicht weiter verwundern, wenn es bislang innerhalb der EU zu keinem einheitlichen asylpolitischen Vorgehen gekommen ist, von einer gemeinsamen Strategie ganz zu schweigen. Nach Einigkeit sieht es auch nach dem jüngsten Treffen in Luxemburg nicht aus, wenn man sich zum Beispiel die Kommentare einiger Regierungsvertreter derjenigen Teilnehmerländer vor Augen führt, die bei einem so wichtigen Thema wie der Asylpolitik per Mehrheitsbeschluß überstimmt worden sind. Sie sollen nun gegebenenfalls asylpolitische Maßnahmen mittragen, mit deren Ablehnung sie in ihrem eigenen Land Wahlen gewonnen haben und in Regierungsverantwortung gekommen sind. Das gilt nicht aber nur für die, die stärkere Kontrolle forderten und überstimmt wurden, sondern auch für Regierungsvertreter der Länder, die, wie zum Beispiel die deutsche Innenministerin und die deutsche Außenministerin, die dem Asylkompromiss zustimmten – aber die damit vereinbarten Begrenzungen ablehnen.
Ein einheitliche EU-Asylpolitik wäre wohl nur denkbar, wenn die asyl- und einwanderungspolitischen Kompetenzen der einzelnen EU-Länder soweit beschnitten würden, dass die EU-Kommission jedem einzelnen Land jenseits seiner nationalstaatlichen demokratischen Verfasstheit detailliert vorschreiben kann, wie es asyl- und einwanderungspolitisch zu verfahren hat. Eine solche Entmachtung des eigenen Landes mittels Zentralisierung lehnen jedoch nicht nur Polen und Ungarn strikt ab. Deswegen bleibt den Verfechtern einer Vereinheitlichung der Asylpolitik nichts anderes übrig, als getreu dem Motto „Der Weg ist das Ziel“ durch wiederholte Verhandlungen den Anschein zu erwecken, man verfolge eine gemeinsame asylpolitische Strategie.
Da eine weitere Zentralisierung inzwischen durch den Bedeutungszuwachs nationalstaatlicher Bewegungen und Parteien in so gut wie allen Mitgliedsländern der EU deutlich erschwert, wenn nicht gar zum Stoppen gebracht worden ist, beschreibt der Soziologe und einstige Direktor des Kölner Max Planck Instituts für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Streeck, die EU als ein „zum Scheitern verurteiltes Imperium“. Im Politikfeld der Asyl- und Einwanderungspolitik führt diese Entwicklung mittlerweile dazu, dass die einzelnen EU-Länder mehr denn je ihre eigenen Wege gehen, um der anschwellenden irregulären Asylzuwanderung aus Asien und Afrika Herr zu werden. Einer dieser Wege besteht darin, dass die Länder an der EU-Peripherie, allen voran Italien und Griechenland, ihre Außengrenzen wirksamer schützen.
Ob sie dabei, wie in Luxemburg vereinbart, von allen anderen EU-Ländern unterstützt werden, muß sich erst noch zeigen. Nicht nur in Deutschland läuft die bestens vernetzte und politisch höchst einflußreiche Asyllobby gegen diese Vereinbarung Sturm. Viele grüne Partei- und Funktionsträger kritisieren die Parteispitze für den Kompromiss. Unter diesem Druck verspricht Baerbock sofort: Es werden weiter Syrer und Afghanen kommen. Auch die Direktflüge aus Pakistan sind davon nicht betroffen. Dort entscheiden NGOs über den Zugang ins deutsche Sozialsystem. Das mag Baerbock Entlastung innenpolitisch bringen.
Aber der gemeinsame EU-Beschluß wird so stark verwässert oder auch im Sande verlaufen, dass denjenigen EU-Mitgliedern, die die Asylzuwanderung in ihre Länder wirksam eindämmen wollen, nichts anderes übrigbleibt, als noch mehr als bisher schon selbst dafür zu sorgen, dass dies auch gelingt. Polen und Ungarn lehnen den Kompromiss ab, weil er für EU-Staaten ein Zwangsgeld von 20.000 Euro je Migranten vorsieht, dessen Aufnahme sie verweigern. Orbán erklärt, Brüssel missbrauche seine Macht und wolle #Ungarn „gewaltsam in ein Migrantenland“ verwandeln.
Das Imperium zerbricht an seinen inneren Widersprüchen und den parteipolitischen Egoismen der Akteure.