Sein ganzes Pontifikat hindurch trat Benedikt XVI. mit Nachdruck und Entschlossenheit dafür ein, dass eine Wirklichkeit, deren Identität allein die Kirche bewahrt, ins Zentrum des kirchlichen Lebens zurückkehrt: das Wort Gottes. Diese Wirklichkeit ist ganz sicher nicht bloß in einer fernen Vergangenheit oder einer bloßen historischen Erinnerung angesiedelt, nein: Das Wort spricht ›zu‹ und ›in‹ unserer Gegenwart und fordert uns in unserem persönlichen und täglichen Leben heraus.
Der Papst widmete sich dem Wort Gottes in dem Bewusstsein, dass er, wie er es in der Homilie der Messe zu Beginn seines Petrusdienstes formuliert hat, kein Regierungsprogramm oder zumindest nicht das vorlegt, was man sich üblicherweise darunter vorstellt. Vielmehr war ihm bewusst – da er es als die vorrangige Aufgabe seines Dienstamts ansah, die ganze Kirche an das Wort Gottes zu binden und dafür zu sorgen, dass sie diesem gehorsam war –, dass seine erste Pflicht darin bestand, diesen Gehorsam selbst auf beispielhafte Weise vorzuleben.
Weil er die Heilige Schrift so sehr geliebt und die Menschen durch seine Verkündigung und Predigt zur Kenntnis des Evangeliums hingeführt hat, ist sein Petrusdienst als ein Pontifikat beschrieben worden, das ganz im Dienst des Evangeliums stand. Deshalb konnte Benedikt in der letzten Generalaudienz, in der er sich als Bischof von Rom verabschiedete, freimütig bekennen, dass ihn in seinem Amt als Nachfolger Petri immer die feste Gewissheit begleitet habe, »dass das Wort der Wahrheit des Evangeliums die Kraft der Kirche, ihr Leben ist.«
Er verstand das Amt des Papstes gemäß der Bedeutung, die der heilige Ignatius von Antiochien ihm zuschrieb, der in seinem Römerbrief (um 110 n. Chr.) die Kirche von Rom als diejenige bezeichnete und erfuhr, die den »Vorsitz in der Liebe« führt – und zwar in der Überzeugung, dass der Vorsitz im Glauben und in ihrer Lehre auch und vor allem Vorsitz in der Liebe sein muss; denn ein Glaube ohne Liebe wäre kein Glaube an den biblischen Gott und die Lehre der Kirche erreicht die Herzen der Menschen nur, wenn sie zur Liebe führt. (…)
Zweitens verlangt der Einsatz in der Welt von den Christen einen besonderen Dienst der Versöhnung, der Gerechtigkeit und des Friedens zwischen den Völkern samt einer tätigen und kreativen Nächstenliebe, um das materielle wie spirituelle Leid derer zu lindern, die in Not sind.
Damit spielt drittens das Wort Gottes eine wichtige Rolle in der Beziehung zu den Kulturen – und zwar auch in säkularisierten Kontexten und unter Nichtglaubenden –, weil die Bibel allgemein als ein »großer Kodex« mit anthropologischen und philosophischen Werten anerkannt wird, die die ganze Menschheit positiv beeinflusst haben: daher das Bemühen um die Inkulturation unter anderem durch eine wachsende Zahl von Übersetzungen und eine zunehmende Verbreitung des Textes.
Der vierte Aspekt ist schließlich der Anstoß zum interreligiösen Dialog, weil die Begegnung und Zusammenarbeit mit allen Menschen guten Willens und insbesondere mit den Angehörigen anderer religiöser Traditionen einen wesentlichen Teil der Verkündigung des Wortes darstellen, wobei es natürlich jeglichen Synkretismus und Relativismus zu vermeiden und einen echten Respekt vor der religiösen Freiheit jeder Person zu gewährleisten gilt. (…)
Deshalb rief Benedikt XVI. im Juni 2010 einen Päpstlichen Rat ins Leben, »dessen Hauptaufgabe es sein wird, in jenen Ländern eine neue Evangelisierung voranzutreiben, wo zwar schon eine erste Verkündigung des Glaubens erfolgte und es Kirchen alter Gründung gibt, die aber eine fortschreitende Säkularisierung der Gesellschaft und eine Art ›Finsternis des Sinnes für Gott‹ erleben. Diese Herausforderung drängt uns, geeignete Mittel zu finden, um die immerwährende Wahrheit des Evangeliums Christi erneut vorschlagen zu können.« (…)
Für Benedikt XVI. stand immer mit äußerster Klarheit fest, dass der christliche Glaube nur dann ein menschlicher Glaube sein und bleiben kann, wenn er den beständigen Dialog mit der menschlichen Vernunft sucht. Der Papst war zutiefst davon überzeugt, dass Glaube und Vernunft voneinander abhängen und nur im gegenseitigen Dialog den Gebrechen der Vernunft abgeholfen und den Krankheiten des Glaubens vorgebeugt werden kann: Eine Vernunft ohne Glauben droht einseitig und eindimensional zu werden; ein Glaube ohne Vernunft droht seine Wahrheit zu verstecken und fundamentalistisch zu werden.
Weil er davon überzeugt war, dass die Frage nach Gott für alle Fragen, die die Zukunft der Menschheit betreffen, von grundlegender Bedeutung ist, trug Papst Benedikt unermüdlich dazu bei, die Gottesfrage in jedwedem Bereich der modernen Gesellschaft wachzuhalten. Der Dialog zwischen Glauben und Vernunft war für ihn vor allem deshalb wesentlich, weil Gott selbst Logos ist und die ganze Schöpfung diese Vernunft bezeugt. Der Logos ist nicht nur eine mathematische Vernunft: Er hat auch ein Herz und er ist Liebe. Daraus zog Benedikt den Schluss: »Die Wahrheit ist schön, Wahrheit und Schönheit gehen Hand in Hand: Die Schönheit ist das Siegel der Wahrheit.«
Gleichzeitig verlor er in seinem Lehramt nie den Glauben der Einfachen aus dem Blick. Wenn man so will, war er vielmehr davon überzeugt, dass sich die Wahrheit des Glaubens in letzter Konsequenz eher den demütigen Herzen kundtut und allein mit den Augen des Glaubens erfasst werden kann, wie er selbst 2010 in seiner Weihnachtsbotschaft Urbi et Orbi deutlich gemacht hat: »Wenn die Wahrheit bloß eine mathematische Formel wäre, drängte sie sich gewissermaßen von selbst auf. Wenn jedoch die Wahrheit Liebe ist, verlangt sie Glauben, das ›Ja‹ unseres Herzens.« (…)
Zuerst die Liebe
Die im Katholizismus übliche Reihenfolge der drei göttlichen Tugenden – die »Grundlage, Seele und Kennzeichen des sittlichen Handelns des Christen« sind und »von Gott in die Seele der Gläubigen eingegossen [werden], um sie fähig zu machen, als seine Kinder zu handeln und das ewige Leben zu verdienen« – ist, wie es uns auch der Katechismus (Nr. 1813) in Erinnerung ruft: Glaube, Hoffnung und Liebe. Als Benedikt XVI. darüber nachzudenken begann, welcher Thematik die erste Enzyklika seines Pontifikats gewidmet sein sollte, schweiften seine Gedanken jedoch zum ersten Brief des heiligen Paulus an die Gemeinde von Korinth (13,13), wo der »Apostel der Völker« unterstreicht: »Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei«, um gleich danach hinzuzufügen: »doch am größten unter ihnen ist die Liebe.«
Die Enzyklika, die vom 25. Dezember 2005 datiert, wurde am 25. Januar 2006 veröffentlicht, und etwa um dieselbe Zeit erklärte Benedikt, das Wort »Liebe« sei »heutzutage so nichtssagend, abgenutzt und missbraucht, dass man sich fast scheut, es in den Mund zu nehmen. Und doch ist es ein Urwort, Ausdruck der urweltlichen Wirklichkeit; wir dürfen es nicht einfach aufgeben, sondern müssen es wiederaufnehmen, reinigen und zu seinem ursprünglichen Glanz zurückführen, damit es unser Leben erleuchten und auf den rechten Weg bringen kann. Dieses Bewusstsein war es denn auch, das mich veranlasst hat, die Liebe als Thema meiner ersten Enzyklika zu wählen.« (…)
In einem Brief, der in der Wochenzeitschrift Famiglia Cristiana erschien, legte er selbst einen Leitfaden für die Lektüre der Enzyklika vor. Darin stellt er klar, dass »ich nur auf ein paar sehr konkrete Fragen des christlichen Lebens antworten wollte. Die erste lautet: Kann man Gott wirklich lieben? Und weiter: Kann man die Liebe gebieten? Ist sie nicht ein Gefühl, das wir haben oder eben nicht haben? Die Antwort auf die erste Frage lautet: Ja, wir können Gott lieben, da er für uns ja nicht in unerreichbarer Ferne geblieben, sondern in unser Leben gekommen ist und noch immer kommt.
Die zweite Frage lautet: Können wir wirklich den ›Nächsten‹ lieben, wenn er uns fremd oder sogar unsympathisch ist? Ja, wir können es, wenn wir Freunde Gottes sind, und auf diese Weise wird uns immer klarer, dass er uns geliebt hat und uns liebt, selbst wenn wir oft unseren Blick von ihm abwenden und unser Leben nach anderen Dingen ausrichten.
Weiter schrieb der Papst: »Im zweiten Teil ist von der caritas die Rede, dem gemeinschaftlichen Liebesdienst der Kirche an all jenen, die an Leib oder Seele leiden und der Gabe der Liebe bedürfen. Hier stellen sich vor allem zwei Fragen: Kann die Kirche diesen Dienst nicht den anderen Hilfsorganisationen überlassen, die unter verschiedensten Umständen gegründet werden? Die Antwort lautet: Nein, das kann die Kirche nicht tun. Sie muss die Nächstenliebe auch als Gemeinschaft praktizieren, sonst verkündet sie den Gott der Liebe auf unvollständige und ungenügende Art.
Die zweite Frage: Müsste man nicht eher eine Rechtsordnung anstreben, in der es keine Bedürftigen mehr gibt und das Liebestun somit überflüssig wäre? Hier die Antwort: Zweifellos besteht das Ziel der Politik darin, eine gerechte Gesellschaftsordnung zu schaffen, wo jedem das Seine zuerkannt wird und keiner Not leidet. In diesem Sinn ist die Gerechtigkeit das wahre Ziel der Politik, so wie der Friede, der nicht ohne Gerechtigkeit existieren kann. Ihrer Natur nach betreibt die Kirche selbst keine Politik, sondern respektiert die Autonomie des Staates und seiner Ordnung. Gleichwohl nimmt sie leidenschaftlich am Kampf für die Gerechtigkeit teil.
Dies ist jedoch nur die erste Hälfte der Antwort auf unsere Frage. Die zweite Hälfte, die mir in der Enzyklika besonders am Herzen liegt, lautet: Die Gerechtigkeit kann die Liebe niemals überflüssig machen. Die Welt wartet auf das Zeugnis der christlichen Liebe, zu dem uns der Glaube inspiriert. In unserer Welt, die oft so dunkel ist, leuchtet mit dieser Liebe Gottes Licht.«
Gekürzter Auszug aus
Georg Gänswein / Saverio Gaeta, Nichts als die Wahrheit. Mein Leben mit Benedikt XVI. Herder Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 320 Seiten, 28,00 €.